Es ist unfair, im Herbst hierher zu fahren. Die Bäume stehen kahl. Kühe grasen im Nebel. Von Nürnberg aus fährt man erst durchs fränkische, dann durchs vogtländische Niemandsland. Gut zwei Stunden, dann hält die Regionalbahn in Plauen. Die Stadt empfängt einen mit Plattenbauten. Eine tschechische Tatra-Straßenbahn rumpelt vorbei. Plauen ist langsam im Verschwinden begriffen.
„Die Vogtländer haben Angst, noch mehr zu verlieren“, sagt Roland May. Der große kräftige Mann ist von Berufs wegen ein Beschützer gegen diese Angst. Nur wissen das die meisten Vogtländer nicht. Im vierten Jahr ist May Generalintendant des Theaters Plauen-Zwickau. Fünf Sparten – Schauspiel, Ballett, Orchester, Musik- und Puppentheater – vereint unter zwei Dächern. Vor zwölf Jahren haben sich die zwei Stadttheater zusammengetan. Den Kommunen ging das Geld aus. Sie hätten Sparten schließen müssen, entschieden sich aber stattdessen für eine Fusion, um Gelder einzusparen. Jetzt sind sie also vereint in ihrem Stadttheater: Zwickau, die Arbeiterstadt, der die Automobilindustrie Arbeitsplätze bringt, und Plauen, dem es schlechter geht. Gut 300 Menschen sind im Theater beschäftigt: etwa 50 mehr, als vor der Fusion allein in Zwickau beschäftigt waren.
140 Stadt-, Staats- und Landestheater sind übrig, die die öffentliche Hand noch zu tragen bereit ist. Die Freiheit der Kultur ist in Deutschland im Grundgesetz verankert. Ihre Finanzierung nicht. Dafür sind Länder und Kommunen verantwortlich. Die Gelder zählen zu den sogenannten freiwilligen Ausgaben. Geht den Kommunen das Geld aus, geht es den Theatern an den Kragen.
40 Kilometer liegen zwischen Plauen und Zwickau. Was sie verbindet, ist die Provinz: Leipzig und Dresden sind 70 und 100 Kilometer entfernt. Von Plauen aus ist alles immer noch ein Stückchen weiter weg. „Wenn ich sage, dass sich alle auf den Boden legen sollen, die nach der Schule hier weg wollen, dann liegen alle 25 Jugendlichen auf dem Boden“, erzählt die Theaterpädagogin Steffi Liedtke von ihrer Arbeit mit dem Plauener Theaterjugendclub. Abwanderung und Überalterung, der Wegfall von Industriezweigen, leerstehende Wohnungen, Verfall und Neonazis – das sind die Probleme, mit denen sich Provinzstädte in Ost und West herumschlagen. Brauchen solche Städte noch ein Theater?
Roland May kann man diese Frage nicht stellen. Wer will sich schon selber abschaffen? Er hat genug damit zu tun, den Betrieb am Laufen zu halten. „Theater ist für mich wie ein Kind. Es kostet von Jahr zu Jahr mehr“, sagt er. Es rührt ihn, und es macht ihm Sorgen. Sie müssen noch weitere Stellen abbauen, Werkstätten der beiden Häuser zusammenlegen, steigende Sachkosten einsparen … Und dann ist da ja noch das, worum es eigentlich geht: Kunst machen.
Abwehrhaltung
Aber was heißt das? 2005 rief der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission Kultur in Deutschland ins Leben. Im Abschlussbericht stehen Sätze wie dieser: „Kulturelle Güter sind immer beides: Sie sind Träger von Ideen, von Wertvorstellungen und wirtschaftliche Güter, die auf Märkten gehandelt werden.“ Intendanten sind rechenschaftspflichtig, wenn ihnen das Publikum abhanden kommt. In großen Städten wie Berlin und München können die Theater den Versuch wagen, sich ein neues Publikum zu suchen und das alte ein wenig zu verprellen. Aber geht das in Zwickau und Plauen?
Pia Findeiß ist die erste Frau von Zwickau. Spricht man sie auf die leerstehenden Ruinen an, die den Besucher am Bahnhof trist empfangen, geht sie in Abwehrhaltung. Die Wanderungsbewegung sei ausgeglichen, viele junge Leute kämen mittlerweile zurück. Zwickau habe viel zu bieten: Arbeitsplätze in der Automobil- und Zulieferindustrie, die Westsächsische Hochschule, Kultur, die sanierte Altstadt. Zwickau ist eine dieser ostdeutschen Städte, die man Boom-Town nennt. Sie nimmt ab und sagt, das stehe ihr gut. Und dann die vielen Künstler, die von hier stammen: Robert Schumann, Max Pechstein, Gert Fröbe.
Leider sind die alle tot. Dafür hat Zwickau noch sein Orchester, den Chor, die Opernsolisten, die Balletttänzer und die Puppenspieler. „Die Künstler leben hier und verändern das Stadtbild“, sagt die Oberbürgermeisterin. Und: „Kulturelle Bildung ist eine wichtige Funktion des Theaters.“ Aber gehen die Zwickauer denn da auch hin? „Das Haus könnte voller sein.“
Auch Zwickau selbst könnte voller sein. Man kommt trotz fleißiger Eingemeindungen nur noch auf 93.000 Einwohner. 1990 waren es noch rund 115.000. Die Bertelsmannstiftung prognostiziert einen weiteren Rückgang der Bevölkerung bis 2020 um 11,6 Prozent. Der Markt, der dem Theater Plauen-Zwickau zur Verfügung steht, ist überaltert und schrumpft. Die Mittelschicht zieht weg. Die, die hier leben, gehen nicht ins Theater. Die arbeiten den ganzen Tag.
„Das Schöngeistige fehlt“, sagt Volker Arnold. „Es ist mühsam, ein Publikum zu finden.“ Der Realist mit rotem Bart ist Geschäftsführer des Theaters Plauen-Zwickau und vielleicht der wichtigste Verbündete Roland Mays im Kampf gegen die Angst, zu verschwinden. Sie kennen sich schon seit Jahren. Sie haben hier eine Mammutaufgabe zu bewältigen. 309 Mitarbeiter, die an ihre Grenzen gehen. Wer tagsüber im Betriebsbüro arbeitet, gibt abends die Souffleuse. Es herrscht Multifunktionalität. Das gilt auch für die Inszenierungen. Wenn sich ein Ausstatter für die kleine Bühne in Zwickau ein Bühnenbild ausdenkt, muss es erstens auch in die kleine Bühne in Plauen passen und zweitens in einen LKW. Die Belegschaft fährt ständig hin und her.
„Irgendwann ist die Kraft zu Ende. Das wirkt sich dann im Endeffekt schon auf die Qualität aus“, sagt Arnold, der das Theater liebt mit allen seinen Sparten. Damit die Repräsentation nicht zu kurz kommt, wohnt May in Plauen und Arnold in Zwickau.
Die Lage ist hoffnungslos, aber in Zwickau spielen sie am Abend Komödie. Genre und Titel sind auf die Zielgruppe der über 50-Jährigen zugeschnitten: Hasch mich, Genosse! Ein Verwirrspiel mit Agenten um einen russischen Balletttänzer auf der Flucht. Das hoch motivierte junge Ensemble läuft sich die Hacken wund um jeden Lacher. In der Pause ein Blick ins Gästebuch: „Die Heizung in der dritten Reihe funktioniert nicht! Viel zu kalt.“ „Trotz wiederholter Anmerkung gelingt es dem Theater nicht, das Vorstellungsende mit den Abfahrtszeiten der Straßenbahn abzustimmen.“ Rentnerstimmen und Sektgeruch um einen herum. Keine Hipsters mit dem Bier in der Hand. Nach der Pause wiederholt das Ensemble zum Einstieg in die zweite Hälfte die letzten dreißig Sekunden von vor der Pause. Es ist Mays Zugeständnis an sein überaltertes Publikum. So wie die Rocky Horror Picture Show, die hier mit großem Erfolg läuft, wie an fast allen deutschen Provinztheatern.
Mut zahlt sich aus
Nirgends ist die Komödien- und Musicaldichte so hoch wie in der Provinz. Unterhaltung ist ein elementarer Teil des Theaters. Aber Inhalte sind es doch ebenso. Müssten die Kulturinstitutionen nicht gerade hier in der Provinz von wirtschaftlichem Druck befreit sein? Müssten sie den Leuten nicht Identifikationsangebote schaffen, Teilhabe bieten, auch wenn nur wenige kommen, die das interessiert?
Aus den Wuschellocken heraus strahlt einen Gundula Hoffmann an. Sie hat ein Kindergesicht mit großen braunen Augen und großem Mund, aus dem die Ideen sprudeln. Seit diesem Jahr ist die 35-jährige stellvertretende Direktorin des Puppentheaters. „Zwickau geht eigentlich gar nicht“, dachte sie erst. Doch die Welt ist veränderbar. Ihr Chef ist zugleich leitender Regisseur des Schauspiels und lässt ihr viel Gestaltungsspielraum. Hoffmann verkörpert, wie es gehen könnte. Sie stellt verblüffende Dinge auf die Beine. Ob Objekttheater für Zweijährige oder Puppenspiel für Erwachsene. „Die Leute rennen uns die Bude ein“, sagt sie. Sicher, die Sparte ist ohnehin beliebt und 120 Plätze sind schneller gefüllt als 400, aber Hoffmann traut sich was. „Wir könnten das schaffen, die Jungen ins Theater zu holen!“, platzt es aus ihr heraus.
Die Alten hatten ihr grundlegendes Theatererlebnis im Herbst 1989, als von Plauen aus die friedliche Revolution übers Land schwappte. Am 7. Oktober fand hier die erste Großdemonstration statt, die von den Sicherheitskräften nicht mehr aufgelöst werden konnte. Auf vielen Bühnen brodelte es damals. Die Leute kamen. Es ging um ihre Zukunft. Heute geht es nur noch um ihre Unterhaltung.
Die Enquete-Kommission riet der Bundesregierung, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Das würde Stadttheatern gegenüber den Kommunen den Rücken stärken. Und es würde vielleicht etwas Druck von Roland Mays breiten Schultern nehmen. Fragt man ihn nach seinem Wunschpublikum, lächelt er. „Es wäre schon schön, wenn mehr Leute Arbeit hätten, Rückwanderer kämen …“ 2015 läuft der Grundlagenvertrag aus, der Zwickau und Plauen zusammenbrachte. Theoretisch ist dann wieder alles offen. Man kann sich für einen Moment die Illusion erlauben, es gäbe wieder zwei Theater: eins für Zwickau, eins für Plauen. Getragen von den öffentlichen Händen der Vogtländer.
Lisa Rüffer ist freie Journalistin und lebt in München
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