The East is back, in Germany! Jedenfalls fühlten sich aus Ostdeutschland stammende briefschreibende Zeitungsleserinnen und -leser vom Verlauf der vor kurzem in Deutschland abgehaltenen Parteitage von SPD, Grünen und CDU stark an den Verlauf von Parteitagen der SED und von Sitzungen der DDR-Volkskammer erinnert. Hier wie dort die gleiche überwältigende Zustimmung der Versammlung zu den vorher gefassten Beschlüssen der Leitung. Die eine oder andere widerspenstige Stimme hatte sich gegebenenfalls äußern dürfen - in der Berliner Republik etwa gegen bewaffnete Einsätze in Afghanistan, in der Deutschen Demokratischen Republik seinerzeit gegen die vom Parteivorsitzenden Erich Honecker favorisierte Freigabe der Abtreibung, gegen die DDR-Christen Bedenke
Gestaltungsgeschwür
DDR-isierung Über die Wiederkehr der Ostsprache in der Politik
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nken äußerten, im Gegensatz zur hochgerüsteten Sicherung der Westgrenze. Hauptsache war, solche im Sinn der Demokratietheorie begrüßenswerten Bedenken hatten keinerlei Einfluss auf die Dynamik der Konformierung. Am Ende der strapaziösen Versammlung waren alle glücklich, die Leitung, weil es ihr wieder einmal gelungen war, eine fast hundertprozentige Mehrheit hinter sich zu bringen, die Bedenkenträger, weil sie sich fünf Minuten lang hatten aussprechen dürfen, und die Masse der einverstandenen Delegierten und Abgeordneten, weil sich alles so wunderbar einig war, was dann als Ausdruck von Stärke und Geschlossenheit gefeiert wird. Mehr als zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Sowjetunion gibt es merkwürdige Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich der Ostblockleichnam wieder regt, und zwar nicht erwartungsgemäß im Osten, sondern überraschenderweise im Westen. Seit den Attentaten vom 11. September 2001 gleicht zum Beispiel der US-amerikanische Nachrichtensender CNN - der elektronische Leuchtturm der freien Welt - mehr und mehr dem untergegangenen sowjetischen Staatsfernsehen. Zu sehen und zu hören sind fast ausschließlich Würdenträger der Regierung, amtierende oder pensionierte, hochdekorierte Generäle, Geheimdienstchefs, in Forschungseinrichtungen der Ministerien angestellte Experten. Unabhängig mit Sachverstand nachdenkende Leute kommen nicht zu Wort. Nachrichtensprecherinnen und -sprecher geben amtliche Verlautbarungen mit dem Ausdruck unerschütterlicher Autoritätsgläubigkeit wieder, als hätten sie alle gerade eine erfolgreiche absolvierte Parteischulung hinter sich. Ein merkwürdiger Ostwind bestreicht zur Zeit die westlichen Gefilde. Ein bislang nicht beachtetes, jedoch bedeutsames Symptom der DDRisierung nun ganz Deutschlands ist der überraschend inflationäre Gebrauch des Verbums "gestalten" in der politischen Rhetorik. Alle wollen sie auf einmal "gestalten": nicht nur die in der DDR sozialisierte CDU-Vorsitzende Angela Merkel, die, wie sie im Dezember 2001 auf dem CDU-Parteitag erklärte, "Politik gestalten" wolle, sondern auch die Vorsitzende der Grünen Kerstin Müller, die "Zuwanderung offensiv gestalten" will. Als der derzeitige Verkehrsminister Kurt Bodewig noch ein x-beliebiger unbekannter Sozialdemokrat war, nannte er in Sabine Christiansens ARD-Talkshow - dem eigentlichen Salbungsritual der Berliner Republik - "Spaß am Gestalten" als Kernstück seiner Kompetenz in Verkehrsfragen, die nicht für jedermann offenkundig war. Mit dem "Spaß am Gestalten" jedoch war Kompetenzzweiflern das Maul gestopft. Solche Inflation des Gestaltens kommt umso überraschender, als die gleichen gestaltungsspaßigen Politiker seit Jahr und Tag verkündet haben, dass ihre "Gestaltungsspielräume" immer enger werden, infolge Globalisierung, Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten, Vorgaben durch den Maastricht-Vertrag, der zu eisernem Sparen zwingt. In der Berliner Republik sind die Kategorien, wie im Königreich Popo von Leonce und Lena, offenbar in schändlichster Verwirrung. Gipfel der Konfusion: mit dem "Gestalten" kehrt das typische DDR-Kennwort der fünfziger Jahre wieder. Dem Schriftsteller Friedrich Carl Weiskopf, der als gebürtiger Prager ein besonders feines Sprachempfinden besaß, wurde die damals in der DDR omnipräsente Gestalterei zuviel: "Das Gestaltungsgeschwür" überschrieb er eine seiner zahlreichen, meist in der Ostberliner Weltbühne veröffentlichten Sprachglossen. "Im Sportteil unserer Zeitungen", schrieb Weiskopf 1955, "tobt sich die Sprachbarbarei besonders aus, vielleicht deswegen, weil den Redakteuren und Berichterstattern der Umgang mit Rekorden etwas Natürliches ist./ Den Rekord der Rekorde hat, unserer Meinung nach und bis auf weiteres, jener Sportreporter errungen, der seinen begeisterten Bericht über die Gastspielreise der brasilianischen Mannschaft Madureiras in dem Satz gipfeln ließ, daß die Spiele gegen die Mannschaften der westdeutschen Vertragsliga zum größten Teil siegreich gestaltet werden konnten./ Unter einer siegreichen (warum nicht gleich auch zackigen Gestaltung geht´s nicht! Das einfache Zeitwort gewinnen ist diesem Sprachgewaltigen sicher viel zu schäbig." Aufs Gestalten kam der Kommunist und Sprachkritiker Weiskopf immer wieder zurück. "Zu den häßlichsten Sprachunarten der letzten Zeit gehört der Mißbrauch, der mit dem Wort gestalten getrieben wird. Alles wird gestaltet, vom Sieg einer Fußballmannschaft bis zum Verputz der Staatsoper. Und natürlich hat es beim einfachen Gestalten nicht sein Bewenden; das schöpferische Gestalten, das wahrhaft schöpferische Gestalten, die hervorragende Einzelgestaltung, und so weiter wuchern allerorten in den Kritiken, Aufsätzen und Zeitungsmeldungen." Völlig willkürlich war das Verbum gestalten damals jedoch nicht in den Jargon der DDR-Publizistik geraten: es war mit einer besonderen fortschrittlichen Weihe versehen. Bis zu seiner in Ostblocksicht fatalen Teilnahme an der ungarischen Revolution 1956 galt gerade in der DDR der Philosoph und Literaturwissenschaftler Georg Lukács als unbestrittene Autorität in Fragen der Ästhetik. Als ständiger Autor der Zeitschrift Linkskurve, die von dem der KPD eng verbundenen "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" herausgegeben wurde, hatte Lukács bereits vor 1933 die Rolle eines literarischen Bergführers übernommen, der angab, welchen Weg eine im Sinn der Kommunisten fortschrittliche Literatur einzuschlagen hatte. Ein programmatischer Lukács-Aufsatz von 1932, der sich als Demonstrationsobjekt den justizkritischen Roman Denn sie wissen, was sie tun des kommunistischen Schriftstellers Ernst Ottwalt vorgenommen hatte, war "Reportage oder Gestaltung?" überschrieben. Es heißt darin: "Die Anwendung der Reportagemethode auf den Roman, die als reines Zur-Geltungbringen des Inhalts beabsichtigt gewesen ist, artet in idealistisches Formexperiment aus./ Dies ist am deutlichsten in der Beziehung von Fabel und Gestalten sichtbar. Das Umschlagen von Form in Inhalt und umgekehrt, kommt ja - bei wirklicher Gestaltung - am deutlichsten zum Ausdruck." In der frühen, sich in vielerlei Hinsicht an der alten KPD orientierenden DDR wurde der Gebrauch des Verbs gestalten somit zum Ausweis dafür, dass man auf der richtigen Linie liegt und am gestalterischen Kampf gegen "idealistische Formexperimente" teilnimmt. Gegen Experimente geht es auch heute noch - oder wieder -, nur gelten die nicht mehr als "idealistisch": in diesem Wort steckte ja noch Anerkennung einer bestimmten Legitimität, wenn auch einer als gegnerisch und überholt eingeschätzten. Heute sind Experimente jeder, keineswegs nur ästhetischer Art, delegitimiert: um das zu unterstreichen, werden sie meistens mit dem Zusatz "utopisch" versehen, was heißen soll, hirnrissig und jenseits aller Diskussion. Die gouvernementale Standardentgegnung auf jede Art Einwand gegen die Politik der Berliner Regierung lautet deshalb folgerichtig: "Dazu gibt es keine Alternative!" (zu Afghanistan-Einsatz, Hochschullehrerstillegung, Schließung der Grenzen für Unerwünschte, Sparhaushalt, Kürzung von Sozialleistungen, steuerliche Subventionierung von Großunternehmen, Transrapidbau etc., ad libitum). Daraus folgt, dass das jüngst in inflationären Gebrauch geratene Verbum gestalten genau das Gegenteils dessen meint, was gewöhnliche deutschsprechende Sprachbenutzer darunter verstehen. "Lüge ist Wahrheit", der Wahlspruch von Orwells "Wahrheitsministerium", lässt grüßen: sich alternativlos irgendwie hindurchwursteln, zwischen Sparvorgabe, Parteitagsbeschluss, Anschiss vom Boss und dem nächsten Fernsehtermin und sich bei auffälligen Schummeleien und allzu grober Verdrehung der Tatsachen nicht erwischen lassen, scheint demnach der Kern des neuen deutschen Gestaltens zu sein. Vom Artikulieren und Verwirklichen einer Idee, gar einer neuen, anderen, die das Bestehende in Richtung auf die Zukunft transzendieren könnte, ist keine Rede. Das wäre ja "utopisch", my God. Wo nichts ist, gibt es immer noch die "Kultur", mit der sich das Vakuum verschönern lässt. Werden Beschäftigte entlassen, lässt man die Gekündigten nicht unartikuliert ins Leere fallen, sondern versüßt ihnen den Rausschmiss mit dem Bonbon einer neuen "Kündigungskultur", die laut Betriebsmitteilung zu den jüngsten Errungenschaften des Hauses zählt. Nicht lange auf sich warten lassen konnte in Gestaltungszeiten die "Gestaltungskultur": sie wurde entgegen dem Anschein keineswegs in der DDR erfunden, sondern ist die Kreation einer ganz und gar zeitgenössischen, dazu westdeutschen Länderverwaltung, und zwar ausgerechnet im Justizbereich. Was wollten die Damen und Herren des Strafvollzugs damit sagen? Daß "Gestaltungskultur" heißt, das Personal bis hinunter zum Anstaltspfarrer einer rigiden "Qualitätskontrolle" zu unterwerfen. Womit wir wieder im Osten wären, wie die Verbreitung des Gestaltens sprachlich bereits anzeigte: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das Gestaltungsgeschwür allerdings ist nicht unter Kontrolle. Seit das immer moderner gestaltete Deutschland zusammen mit anderen als überflüssig betrachteten Hinterlassenschaften der Vergangenheit die Sprachkritik abgeschafft hat, darf in der Berliner Republik neben anderen malignen Sprachgewächsen das Gestaltungsgeschwür ungehindert weiterwuchern, egal ob in rot, grün oder schwarz. Die DDR war grau und in ihr war bekanntlich alles schlecht - dass dies Ländchen einen Schriftsteller und Sprachkritiker namens F. C. Weiskopf schreiben und publizieren ließ, beweist gar nichts.
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