Jean Pauls vor 200 Jahren aufgezeichnete Erkenntnis, dass es bloß "einen Krieg braucht in einem Land, um bessere Geografie darüber zu bekommen", geht mir auf dieser winterlichen Reise durch Serbien kaum jemals aus dem Kopf. An der Autobahn Belgrad-Sofia taucht das Hinweisschild Aleksina auf: Der Ortsname ruft die Erinnerung an die 1999 aus der Stadt gemeldete Zerstörung von Wohnhäusern durch NATO-Bomben wach. Der Ortsname "Kragujevac" signalisiert die Zertrümmerung der Autofabrik, die den guten alten Yugo produzierte. Im südserbischen Nis schließlich kommt die NATO-Streubombe in den Sinn, die - "NATO regrets it", wie dann aus Brüssel verlautete - statt am Militärflughafen auf dem belebten Marktplatz niederging. Erst ganz allmählich kann sich die zivile Geografie Serbiens ein wenig gegen die Kriegsgeografie durchsetzen. Aber ganz zum Verschwinden lässt sich Letztere nicht bringen.
In Novi Sad, der Hauptstadt der Provinz Vojvodina, ganz im Norden, wird der fremde Besucher gleich ans Ufer der Donau geführt. Gegenüber sieht er die aus der österreichisch-ungarischen Zeit stammende Festung Petrovaradin. Fast auf den Tag genau 58 Jahre nach Hitlers Luftwaffe hatte die NATO im April 1999 neben zwei anderen Donaubrücken die Brücke zerbombt, die Novi Sad mit dem jenseitigen Ufer von Petrovaradin verband. "Aus strategischen Gründen" habe dies geschehen müssen, erklärte damals der stets manisch irr auftretende NATO-Sprecher Jamie Shea. Auch wer lediglich vage geografische Vorstellungen besaß, konnte sich darüber nur den Bauch halten vor Lachen: Ganz im Norden des Landes, jenseits von Belgrad, Brücken zerstören, damit die jugoslawische Armee keinen Nachschub in den Kosovo am anderen Ende des Landes transportieren kann! Das kanadische NATO-Kontingent hatte sich auf Anraten seines mitgebrachten Experten für Kriegsvölkerrecht im Übrigen geweigert, sich an dem militärisch sinnlosen Zerstörungswerk von Novi Sad zu beteiligen, das auch noch einen hirnverbrannten Cruise-Missile-Schuss auf das Gebäude des Provinzparlaments der pluriethnischen, wenig Milosevic-freundlichen Vojvodina einschloss.
Nur Bulgarien ist ärmer dran
Eine neue Brücke überspannt nun die Donau, doch der Strom ist nach wie vor nur sehr eingeschränkt schiffbar, da Geldmangel das Beiseiteräumen der Brückentrümmer verhindert hat. Zudem muss bei jeder Schiffspassage eine weiter stromabwärts errichtete Pontonbrücke umständlich geöffnet werden. Ein Lastkahn ist auch weit und breit nicht zu sehen. Geldmangel wird von meinen serbischen Begleitern für fast alles verantwortlich gemacht, was mir in den Städten als schäbig, heruntergekommen, dringend reparaturbedürftig auffällt.
Von dem am Zusammenfluss von Save und Donau gelegenen, in einen Park verwandelten Belgrader Festungshügel aus sehe ich am gegenüberliegenden Save-Ufer das ausgebrannte Hochhaus der Milosevic-Partei aufragen, das mit seiner zum Schrotthaufen zerschossenen Sendeantenne auf dem Dach immer noch so jammervoll dasteht, wie es unmittelbar nach dem NATO-Beschuss im Fernsehen zu sehen war. In der Nähe des Aussichtspunkts sehe ich ein Denkmal, das in kuriosem Kontrast zum NATO-Kriegsmonument gegenüber steht: A la France 1914 - 1918 ist in den Sockel eingemeißelt. Damals, als Frankreich und Serbien auf der Seite der Entente gegen den gleichen deutsch-österreichischen Feind kämpften.
Beim Gang durch die Innenstadt passiere ich das einstige Hauptquartier der jugoslawischen Armee, das im Frühjahr 1999 von Cruise Missiles schwer getroffen wurde. Es ist immer noch nichts anderes als eine von oben bis unten durchlöcherte Ruine. Ihr Anblick missfällt meinen Belgrader Gesprächspartnern, nicht weil sie etwas für Armeehauptquartiere übrig hätten, sondern weil sie die Architektur des Gebäudes mit seinen zurückgesetzten Fassaden als eine der wenigen modernen urbanistischen Bereicherungen der Innenstadt schätzten.
Nicht alles Heruntergekommene hat jedoch unmittelbar mit dem NATO-Krieg zu tun. Die alte Straßenbahn muss manchmal im Schritt fahren, weil der Schienenunterbau gefährlich nachgibt. Laut röhrende, Dieselwolken ausspuckende Busse eines anderen Zeitalters besorgen den innerstädtischen Nahverkehr. Und wer die Rentnerinnen auf dem Markt nach den billigsten Kartoffeln und Zwiebeln fahnden sieht, ahnt schon, welche kulinarischen Abwechslungen eine Rente von umgerechnet 30 bis 40 Euro im Monat ermöglicht. Das Durchschnittsgehalt eines Angestellten oder Lehrers liegt, wird mir gesagt, bei 125 bis 150 Euro. In Europa sei nur Bulgarien noch ärmer dran.
Das seinerzeit von Milosevic drangsalierte unabhängige Radio B 92 hat mich eingeladen, in Belgrad, Nis und Novi Sad einen Vortrag über die Aufarbeitung der Nazivergangenheit in Deutschland zu halten und darüber mit dem Publikum zu diskutieren. Man arbeite jetzt nämlich, war mir mitgeteilt worden, energisch an der Durchleuchtung der jüngeren serbischen Vergangenheit. Zu diesem Zweck ist in dem mit B 92 assoziierten Verlag Samizdat, in dem meine Reisebetreuerin, die Germanistin Drinka Gojkovic, arbeitet, bereits allerhand Literatur erschienen. Karl Jaspers´ aus dem Jahr 1946 stammende Schuldfrage wurde ins Serbische übersetzt, ebenso Hannah Arendts Eichmann-Buch und Raul Hilbergs Täter, Opfer, Zuschauer.
In den mit Büchern vollgestellten Räumen des Verlags kann man sich rasch zu Hause fühlen. Ein paar Häuser weiter findet sich das Büro des Belgrade Circle, eines seit Beginn der neunziger Jahre bestehenden Zusammenschlusses von oppositionellen Intellektuellen. Sein Vorsitzender, der Philosoph Obrad Savic, hatte vor Jahren durch eine selbstherrliche Maßnahme von Mira Markovic, der Milosevic-Gattin und Vorsitzenden einer sich ausgerechnet Neue Linke nennenden regierungsstützenden Phantompartei, seinen Posten als Professor an der Belgrader Universität verloren. Dass er ihn nach dem Belgrader Machtwechsel nicht wiederbekam, trägt Savic mit Humor: Der neue Premier Zoran Djindjic, der bei dem deutschen Philosophieprofessor Albrecht Wellmer promovierte, nachdem Jürgen Habermas den flotten Serben als Doktoranden abgelehnt hatte, hat eben, bemerkt er lachend, jetzt wichtigere Dinge zu tun, als sich für ehemalige Kollegen einzusetzen. Andere Belgrader Gesprächspartner meinen dagegen, dass von Aktionen des neuen demokratischen Premierministers eigentlich gar nichts zu merken sei. Der alte Schlendrian gehe einfach weiter. Und über den neuen jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica wird in den serbischen Zirkeln, mit denen ich in Berührung komme, überhaupt nur gelacht.
Ein Wettlauf mit der Zeit
Savic gibt mir einen 800 Seiten starken großformatigen, zweisprachig redigierten Sammelband mit dem Titel Spectre of Nation mit, den der Belgrade Circle herausgegeben hat, von Slavoj Zizek über Charles Taylor bis zu Jacques Derrida, ist alles darin vertreten. Es fehlt dem demokratischen Serbien offenbar nicht an wohlwollenden intellektuellen Fürsprechern. Das von Mangel an allen Ecken und Enden gebeutelte Land aber auch einmal aufzusuchen, scheint schon zu viel verlangt von den Freunden des neuen demokratischen Serbien. Wie oft bekomme ich während meiner einwöchigen Reise zu hören: Vielen Dank, dass Sie überhaupt gekommen sind! Ich schließe daraus, dass eine Reise nach Serbien für manche Ausländer einem Horrortrip zu gleichen scheint, den man besser meidet. Was ich während meines Aufenthalts nicht im Geringsten nachvollziehen kann. Gewiss sind neben Trümmern und Dreck auch viele andere hässliche Dinge zu sehen, doch wer die Ohren aufmacht, kann allerhand wissenswerte Dinge erfahren, auch über die serbische Wahrnehmung des NATO-Europa, das - nachdem es 1999 so wacker mitgebombt hat - ein sich mühsam, mit geringen Erfolgsaussichten aufrappelndes Land mit göttlicher Indifferenz links liegen lässt.
Die Belgrader Vortragsveranstaltung findet in einem ehemaligen Kino statt, der Saal ist nicht schlecht besetzt, auch von jüngeren Leuten. Was treibt sie um, was interessiert sie an deutschen Nachkriegserfahrungen? Können sie etwas mit der von mir referierten Auskunft Hannah Arendts anfangen, wonach die Deutschen auch fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Fakten der Naziherrschaft und des Krieges nicht anders behandelten als beliebige Meinungen, über die man sich ad infinitum streiten und die man von heute auf morgen auch wieder wechseln kann? Die Fakten der letzten zehn balkanischen Jahre, habe ich den Eindruck, sind diesen kritischen Belgrader Zuhörern inzwischen vertraut und werden auch nicht bestritten. Wie hat es geschehen können und warum haben wir es geschehen lassen, fragen sie sich hingegen, dass um 1990 der serbische Nationalismus von so vielen Geistern hat Besitz ergreifen können, ohne dass darin eine der Gesellschaft drohende Gefahr erkannt wurde? Wieso ist der Bosnien-Krieg einschließlich der Beschießung von Sarajevo durch die bosnischen Serben so gleichgültig verfolgt worden, als ginge er uns nichts an?
Die aus Deutschland mitgebrachte Erkenntnis, dass Durcharbeitung einer verstörenden Vergangenheit ein langwieriger Prozess ist, beruhigt das Publikum wenig. Verschiedenen Redebeiträgen ist zu entnehmen, dass die Leute sich in einem Wettlauf mit der Zeit fühlen. Wenn sich nicht bald etwas zum Besseren wandelt, lautet der Tenor, und das ist weniger ökonomisch als mental gemeint, werden gerade kluge junge Leute das Land verlassen. Zu viele seien bereits emigriert, säßen in den USA, in Kanada oder Australien. Sie würden jetzt dringend gebraucht - ihre von dort aus gegebenen guten Ratschläge hingegen seien nur eingeschränkt brauchbar. Der in meinem Referat implizit enthaltene Appell, Geduld aufzubringen, da sich ein Prozess der Bewusstseinsveränderung nicht übers Knie brechen lässt, hilft den Leuten nicht viel weiter, spitzt höchstens das Dilemma zu, das sie ihren Worten nach verspüren. Die lange Zeit, auf die man sich einrichten müsste, glauben sie nicht mehr zu haben.
Am nächsten Tag fällt es mir merkwürdig schwer, Abschied von dieser Stadt zu nehmen - trotz des schlechten Frühstückskaffees im Hotel. Auf dem Rückweg lese ich in der französischen Übersetzung eines Buchs, das Samizdat auf Serbisch herausgebracht hat. In den Fängen der Humanisten lautet die wörtliche Übersetzung des Titels U Kandzma humanista. Sein Autor Stanko Cerovic ist leitender Journalist des serbischen Dienstes von Radio France Internationale in Paris. Von jeher Regimekritiker und seit Milosevics Machtantritt dessen erbitterter Gegner, trägt der Autor in diesem wenige Monate nach dem Ende der Kosovo-Intervention abgeschlossenen Buch eine Fundamentalkritik des politischen und militärischen Vorgehens des Westens gegen das Milosevic-Jugoslawien vor, deren Radikalität mich überrascht. Für Cerovic hat der Westen 1999 das verheerende Waterloo seiner Glaubwürdigkeit erlebt. Er hat, weist er überzeugend nach, seine Institutionen wie OSZE und Haager Tribunal ohne die geringste Gegenwehr vollständig von CIA und anderen US-amerikanischen Diensten manipulieren lassen. Seine besondere Verachtung gilt dabei der damaligen Chefermittlerin des Tribunals, der Kanadierin Louise Arbour, die sich statt von rechtlichen Erwägungen von Washington die Anklage gegen Milosevic diktieren ließ, wenig später aber, als sie als Juristin begriff, dass die von der CIA ihr auf den Schreibtisch geworfenen Materialien nicht ausreichten, um eine stichhaltige Anklage zu erstellen, den Bettel hinwarf und sich von hilfreichen Freunden zum Obersten Gericht Kanadas hinwegloben ließ. Carla Del Ponte darf nun die eingebrockte Suppe auslöffeln, was die noch mehr als Louise Arbour von Ehrgeiz zerfressene, aber weniger intelligente Schweizerin mit offenkundigem Enthusiasmus tut.
Cerovics maßlose Enttäuschung durch den einst angebeteten Westen mag manche Merkwürdigkeit in diesem aufschlussreichen Buch erklären. Angesichts der von Propagandafeuerwerk begleiteten, militärisch jedoch dilettantischen und dazu moralisch feigen NATO-Kriegführung lässt sich der Autor förmlich zu einer Huldigung an die Professionalität und Standhaftigkeit der regulären jugoslawischen Armee hinreißen. Dies sei ihm nachgesehen, da der in Montenegro in der Nachbarschaft von Albanern aufgewachsene Cerovic eine beachtenswerte Erklärung der Genesis des Kosovo-Konflikts vorträgt. Er führt nämlich nicht nur politische Faktoren wie die Aufhebung der Autonomie des Kosovo durch Milosevic ins Feld, sondern auch sozialen und kulturellen Wandel. Die ungeheure demografische Explosion bei den Kosovo-Albanern, die in den siebziger und achtziger Jahren Kosovo-Serben in Panik versetzte, ging laut Cerovic mit dem Zerfall der traditionellen patriarchalischen Ordnung einher. Die männlichen Jugendlichen, mehr und mehr sich selbst überlassen, ließen sich, dazu von schnellem Drogengeld verlockt, bereitwillig in entstehende Mafia-Strukturen einbinden, die dann dem Terrorismus der UÇK den notwendigen Unterbau verschafften.
Dass Milosevic zu einem bestimmten Zeitpunkt die bewaffnete Staatsmacht gegen den UÇK-Terror vorgehen ließ, ist für Cerovic fast noch die entschuldbarste seiner zahlreichen in dem Buch kritisierten Fehlentscheidungen.
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