Keine Zeit! Die Leute im Kino biegen sich vor Lachen, wenn auf der Leinwand ein Stadtstreicher zwei anderen Stadtstreichern, die mit ihm ein Schwätzchen halten wollen, zuruft: »Je n'ai pas le temps!« Ein Penner in Eile, das gibt es nicht und ist deshalb zum Brüllen komisch. Der Mann will sich gegenüber seinen Kameraden in der Misere nur zu etwas Besserem machen, zu einem Verwandten der vielen ordentlich beschäftigten Zeitgenossen, die durch den Tag hetzen von Termin zu Termin. Die Leute im Kino, Zuschauer des Films Joyeux calvaire* von Denys Arcand, Regisseur der auch außerhalb Kanadas bekannt gewordenen Spielfilme Jesus von Montréal und Der Untergang des amerikanischen Imperiums, biegen sich vor Lachen. Sie lachen, wie wenn sie sich über eine F
Keine Zeit!
DIE ANGST, DEN ANSCHLUSS ZU VERPASSEN Die Zeitklassengesellschaft unter Kommunikationszwang
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wenn sie sich über eine Figur amüsierten, die sich das falsche Kostüm angezogen hat und es nicht merkt. Doch der Penner macht kein Theater, er weiß, was er sagt. Der Film lässt ihn eine ernst und wörtlich zu nehmende Einsicht aussprechen.Wenn wir auch sonst nichts haben, haben wir immerhin Zeit, riefen französische Arbeitslose bei einer ihrer Demonstrationen. Der Slogan kommt an bei den Zaungästen: Sie sind zwar arm dran, die Arbeitslosen, aber in gewisser Hinsicht auch nicht ärmer als wir, die wir zwar manches haben, nur keine Zeit. Am ärmsten dran sind in dieser Hinsicht vielleicht sogar diejenigen, die in den die Arbeits chancen und Zeitbudgets zuteilenden Kommandozentralen sitzen, meint Hans Magnus Enzensberger: »Bizarrerweise sind es gerade die Funktionseliten, die über ihre eigene Lebenszeit am wenigsten frei verfügen können. Das ist nicht in erster Linie eine quantitative Frage, obwohl viele Angehörige dieser Schicht bis zu achtzig Stunden in der Woche arbeiten; viel eher sind es ihre vielfältigen Abhängigkeiten, die sie versklaven. Man erwartet von ihnen, dass sie jederzeit erreichbar sind und auf Abruf bereitstehen. Im übrigen sind sie an Terminkalender gebunden, die auf Jahre hinaus in die Zukunft reichen«, heißt es unter dem Motto: »Die Zeit. Das wichtigste aller Luxusgüter.«Mit dieser Lesart könnten sich auch die demonstrierenden Arbeitslosen einverstanden erklären, die darauf verweisen, dass es ihnen an dieser Luxusware, der Zeit, nicht fehlt. Der Penner in Arcands Film ist damit allerdings nicht einverstanden, wahrscheinlich deshalb nicht, weil er mit der Freiheit der Verfügung über die Zeit allerhand Erfahrung hat. Den Trost, wenn er auch sonst nichts hat, wenigstens Zeit zu haben, hat der Penner sich längst ausgeredet. Es ist ihm aufgegangen, dass er, bei aller Freiheit vom Zwang zur Zeit einteilung, dennoch nicht selbst über die Zeit verfügt. Auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit dominiert das Paradigma der Erwerbsarbeit und damit auch die von den Rhythmen der Erwerbsarbeit bestimmte Zeit. Diese Zeit hat auch den Stadtstreicher im Griff, deshalb macht er keinen Witz, sondern beschreibt seine Lage ganz richtig, wenn er sagt, dass er keine Zeit hat.Die Stadt, die der Penner durchstreift, ist in sein Zeiterleben eingesickert, mag er ihren approbierten Geschäften auch den Rücken kehren. Er ist vom Bewusstsein der Ohnmacht durchdrungen, wie ein Gefolterter, der mit zerschlagener Nase und aufgeplatzten Lippen vor dem Verhörspezialisten kauert. »Ich habe Zeit«, sagt der Verhörspezialist zu seinem Opfer, »ob heute, morgen oder übermorgen, reden wirst du so oder so. Besser wäre es allerdings für dich, wenn du gleich den Mund aufmachst, denn wenn du damit noch wartest, wirst du dich hinterher nicht wiedererkennen, wenn du dann überhaupt noch etwas erkennst. Früher oder später wirst du sowieso alles sagen. Je früher, desto besser - für dich, nicht für mich. Ich kann warten. Ich habe Zeit, du aber tust besser daran, dich zu beeilen.« Der Folterer hat Zeit, weil er die Macht über den Körper des Gefolterten hat und die vergehende Zeit dieser Macht über den der Zeit unterworfenen Körper zuarbeitet.Möglichst viel Zeit vernichtenMacht und Zeit hängen eng miteinander zusammen, nicht nur über die Vermittlung Geld. »Kein Zweifel: Es besteht ein geheimer Zusammenhang zwischen dem Maß der Güter und dem Maß des Lebens, will sagen, zwischen Geld und Zeit. Je nichtiger die Zeit eines Lebens erfüllt ist, desto brüchiger, vielgestaltiger, disparater sind seine Augenblicke, während die große Periode des Daseins den überlegenen Menschen bezeichnet.« Macht haben heißt über die Zeit anderer zu verfügen, bis hin zum geringsten Augenblick; doch wer ist es, der da verfügt? Das sagt der Stadtstreicher nicht, der die Verfügung spürt, und kann es wahrscheinlich auch nicht sagen.Andere können es an seiner Stelle, der Schriftsteller Florian Felix Weyh etwa, der sich eingehend mit den Techniken temporaler Machtausübung beschäftigt hat: »Auf jeden Menschen dieses Planeten wird täglich ein Vielfaches der verfügbaren Stundenzahl aufgehäuft, so dass jedermann zwischen parallelen Zeitvernichtungsfeldern wählen kann. Filme und Computer, Musikvideos und Radiosendungen, Gameboys und Werbung - alles zielt auf sein kurzes Leben.«»Zeitvernichtungsfelder« ist ein treffend gewählter Ausdruck. Interessanterweise vermehren sich diese Felder exponentiell zusammen mit eben den Rhetoriken, die die Zeit zu einem sich verknappenden Gut erklären: »Es gibt zu wenig Zeit in der Welt. Deshalb stellen wir sie selber her«, behauptete eine Bank in ihrer Werbung. Die Schluss folgerung drängt sich auf, dass der Eindruck der Zeitknappheit in dem Maß erzeugt wird, in dem Zahl und Ausmaße der angebotenen Zeitvernichtungsfelder zunehmen. Zeit erscheint dann besonders knapp, wenn man nicht genug davon auf einmal vernichten kann. Jedes neu hinzukommende Fernsehprogramm, jedes neue Magazin, jede neue Website vermehrt die Vernichtungsmöglichkeiten. Dafür aber, werden wir getröstet, nähmen auch die Informationsmöglichkeiten entsprechend zu.Schön wär's, wenn es so wäre. Eine Information in vollem Wortsinn kommt erst dann zustande, wenn sie sich in der Ausdehnung von Zeit entfalten kann, denn Verstand, Erinnerung und Gefühl benötigen bei Rezeption und Nachbearbeitung der empfangenen Nachricht Zeit. Ohne mitgelieferte Zeit bedeuten mehr Möglichkeiten der Information keineswegs mehr Information. Die Zeit, die wir heute bräuchten, um die zahllosen übermittelten Bilder und Signale in Informationen zu verwandeln, mit denen wir dann auch etwas anfangen können, steht in keinem irdischen Leben zur Verfügung. Sie schrumpft auch noch weiter in dem Maß zusammen, in dem allein die Abwehr der Zeitvernichtungs attacken, die von allen Seiten kommen, immer mehr Zeit frisst. Unterdessen sorgt die Industrie mit dem massenhaften Ausstoß tragbarer Telefone, tragbarer E-Mail- und Internet-Stationen und anderer Kommunikationsboxen für die Tasche dafür, dass keine Minute der Zeit, die jemand fern von den terres trischen Datenleitungen nur so nutzlos und zum Spaß individuell mit sich herumträgt, dem Zugriff technisch übermittelter Zeitvernichtung entgeht.Ihr arbeitet dabei die über die gleichen Kanäle massenhaft verbreitete Angst entgegen, den Anschluss zu verpassen, eine Angst, die das Erbe der mit den Fahrplänen und Bahnhofsuhren aufgekommenen Furcht vor dem Zuspätkommen angetreten hat. Nur ist die Angst vor dem Anschlussverlust nun omnipräsent und kann ihre Opfer weit abseits von Schienen und Straßen und ihren Normaluhren überfallen, beim Spaziergang im Park oder im Wald. Ein bezeichnender Werbespot von CNN spielt mit ebensolchem Anschlussfrust: Finsteren Gesichts steht ein Mann in menschenleerer Landschaft, wartet an einer gottverlassenen Haltestelle; die Landschaft sagt ihm nichts, und die vergehende Zeit wird ihm sichtlich zum Feind. Auf einmal zieht er einen winzigen elektronischen Kommunikator aus der Tasche, sieht »CNN« auf dem winzigen Display, gefolgt von einem Baseballergebnis oder Ähnlichem, und schon entspannt sich der eben noch verbissene Gesichtsausdruck. Die heilige Kommunion mit der Kommunikation hat ihre heilende Wirkung entfaltet. »Wir wollen alles, und zwar sofort«, diese von kulturrevolutionären Bewegungen der frühen siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ausgegebene Parole hat sich Jahrzehnte danach ausgedünnt zu: Wir wollen mit allem kommunizieren, und zwar augenblicklich.»Ihre Zeit interessiert uns«Das Gefühl der Zeitnot kommt infolgedessen nicht ausschließlich von dem beschleunigten Arbeitstempo, das permanente Steigerungen der Produktivität in der Industrie und Just-in-Time-Verfahren diktieren, die umfangreiche Lagerhaltung überflüssig machen, dies jedoch auf Kosten des unter weiter zunehmenden Zeitdruck gesetzten Personals, das mit seinen rollenden Materiallagern auf die Minute genau am Bestimmungsort ankommen muss. Dadurch, dass die losgelassene Ökonomie die Zeit in die Mangel nimmt, zerstört sie jede individuelle oder auch kollektive Ökonomie der Zeit. Doch dieses Zerstörungswerk verrichtet sie nicht allein.Sie kann auf die Mitwirkung zahlreicher Zuträger und oft völlig ökonomieferner Kollaborateure zurückgreifen, die wie Kollaborateure aller Art in dem gut eingeredeten Glauben handeln, letzten Endes etwas ganz anderes zu tun als das, was sie kollaborierend tun. Also etwa für die freie Entfaltung der Individuen und ihrer frei gewählten Bedürfnismöglichkeiten bereitstellen, wo es nur darum geht, sie an die Kandare der Kommunikation zu nehmen und über deren Kanäle an ihre Zeit heranzukommen. »Ihr Geld interessiert uns«, dieser Werbespruch einer französischen Bank ist in dieser Hinsicht veraltet: »Ihre Zeit interessiert uns«, lautet die allerdings nicht laut ausgesprochene Parole der vereinigten Kommunikationsindustrien.Wenn Enzensberger um Verständnis für die Nöte der »Funktionseliten« wirbt, die »über ihre Lebenszeit am wenigsten frei verfügen können«, da sie ständig erreichbar sein müssen und so von vielerlei Abhängigkeiten versklavt werden, gibt er sich freilich mitleidsgetrübten Illusionen über die von diesen Funktionseliten selbst geschaffenen Abhängigkeitsverhältnissen hin. Es sind ja nicht die Vorstandsvorsitzenden und obersten Chefs selbst, die Tag und Nacht und bei jedem erlesenen Diner darauf gefasst sein müssen, vom piependen Handy aufgestört zu werden. Dafür, dass sie gerade nicht jederzeit aufgestört werden, sorgen Assistenten und andere Angestellte, die das, was an Kommunikation hereinkommt, erst einmal abfangen und filtern müssen. Wenn ständige Erreichbarkeit versklavt, dann gerade diese Kategorie von Beschäftigten und nicht ihre Chefs, die die Macht haben, einen ganzen dämpfenden und verarbeitenden Apparat zwischen sich und das Rauschen der technischen Kommunikation zu schieben.Je weiter man in der sozialen Hierarchie nach unten klettert, desto unmittelbarer schlägt die Unterwerfung unter den Kommunikationszwang durch. Die ärmsten Schweine sind vermutlich diejenigen, die, kaum haben sie im Intercity Platz genommen, einen Handyanruf nach dem anderen entgegennehmen müssen und sich nicht getrauen können, den sie und die Mitreisenden nervenden Taschenquälgeist abzustellen. Arm dran sind aber auch die Fahrgäste, die ihr tragbares Telefon sichtbar vor sich aufs Tischchen legen, doch von keinem einzigen ankommenden Anruf gegenüber den nicht angeschlossenen Mitreisenden herausgehoben werden, wie verbissen sie das magische Gerät auch fixieren mögen.Im Internet gähnt ein schwarzes LochDer Stadtstreicher aus Denys Arcands Film Joyeux calvaire trägt zwar kein Handy mit sich herum (obwohl durchaus denkbar ist, dass Wohnsitzlose eines nicht fernen Tages verpflichtet werden, sich mit einem solchen Gerät auszustatten, damit die Behörden sie jederzeit, wenn sie schon keinen festen Wohnsitz haben, wenigstens kommunikationell unter Kontrolle halten können, so wie US-amerikanische Behörden auf Bewährung entlassene Delinquenten schon heute per elektronischer Fußfessel am Schlafittchen haben), aber bei den Antipoden der geschäftigen Handyträger befindet er sich nicht unbedingt. Wie sie hat er keine Zeit, es ist zwar nicht genau die gleiche Art Zeit, die er nicht hat, aber sein Ausschluss aus der Gesellschaft geht nicht so weit, dass sie ihn auch von der kommunikationsgeladenen Atmosphäre ausschließt, die seine Zeitgenossen atmen.Was aber fängt das System insgesamt mit den Unmassen Zeit an, die es der Verfügung der Individuen entzieht? Warum die Industrien und der Handel es auf unser Geld abgesehen haben, liegt in der von ihnen konkurrenzlos beherrschten Welt auf der Hand: Es dient der Konsolidierung auf dem Wachstum ihrer Macht. Doch was haben die Indus trien davon, dass sie sich auf jeden Fleck brachliegender Zeit stürzen? Neuartige Form der Vergesellschaftung, die sich dadurch realisiert, dass sie alle an die Zeitkandare nimmt? Im Innern des ganzen Zeitregimes gähnt irgendwo ein schwarzes Loch.* Wörtlich übersetzt: Fröhlicher Leidensweg. Da »Calvaire« jedoch auch ein in Québec verbreiteter Fluch ist, meint der Titel ebenso etwa »Fröhliche Kacke«.Vorabdruck aus dem dieser Tage erscheinenden Buch von Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung. Antje Kunstmann-Verlag, München 2000, 224 S., 32.-DM
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