Deutschland ist auf dem am 14. März in Paris eröffneten Salon du Livre zu Gast. Im Mai 1989 war Deutschland, damals noch exklusiv West, schon einmal zum Pariser Buchsalon eingeladen worden, doch die Veranstaltung geriet zur mittleren Katastrophe, weil die aus der Bundesrepublik angereisten Verleger die meiste Zeit unter sich blieben. Diesmal allerdings soll alles ganz anders werden.
Zur Begrüßung des teuren Nachbarn hat Frankreich sich im Kostüm des muffigsten Deutschland von anno dazumal präsentiert, das kritische deutsche Geister, von Heinrich Heine bis zu Kurt Tucholsky, zu ihrer Zeit eben nach Frankreich abhauen ließ.
Den traditionellen Kontrast zwischen deutschem Muff und aufgeklärter französischer Gelassenheit hob Tucholsky im Jahr 1930 rech
ucholsky im Jahr 1930 recht anschaulich anhand zweier Sittenaffären hervor. In Deutschland hatte der sozialdemokratische preußische Innenminister Grzesinski zurücktreten müssen, nachdem öffentlich ruchbar geworden war, dass er mit einer Frau lebte und, horribile dictu, sogar schlief, mit der er nicht verheiratet war. Dass derselbe Minister am 1. Mai 1929 in Berlin Arbeiterdemonstranten, auch sozialdemokratische, hatte abschießen lassen, fiel nicht ins Gewicht. Ordnung musste sein auf deutschen Strassen und in deutschen Betten.Um die gleiche Zeit stellte in Frankreich die von Léon Daudet, dem missratenen Sohn des Schriftstellers Alphonse Daudet, herausgegebene rechtsradikale Zeitung L'Action Française einen amtierenden französischen Minister öffentlich bloß. Dieser gut verheiratete Bourgeois ließ sich demnach regelmäßig in einem spezialisierten Haus von jungen Mädchen ausziehen und versohlen. Was geschah nach der lästerlichen Enthüllung, die delikate Geister sogleich der braven Ehefrau des Ministers zukommen ließen? Nichts, gar nichts - der französische Minister blieb im Gegensatz zu dem friedlich mit der Geliebten schlafenden deutschen Kollegen im Amt und behielt auch seinen Sitz in der Académie Française. Tucholsky fand das völlig in Ordnung.Woher der Unterschied in der Behandlung? Weil das öffentliche Deutschland, schrieb Tucholsky, ein "Fibelland ist, ein Land für Kinder, für die Dummen, angefüllt mit Unwahrheit bis oben hin" ist. "Ein Blick nach Frankreich", fuhr er fort, "wird uns darüber belehren, dass es auch anders geht."Diese französische Alternative ist heute, 70 Jahre danach, offenbar zum Teufel. Flotte Pariser Journalisten, die vorher auf der Website der unglückseligen Bettina Röhl herumgeschlittert waren, zögerten keine Sekunde, den grünen Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit zum real-potentiellen Kinderschänder zu machen. Da hatten sie etwas von antiautoritärer Kindererziehung in Frankfurt gelesen, was ihnen, wie so vieles andere Vergangene und Ungewohnte in der Welt, komplett unverständlich ist. So wurde der ehemalige alternative Frankfurter Kindergärtner Cohn-Bendit in den Abendnachrichten von TF1 fast wie ein Double des belgischen Kinderschänders und Kindermörders Dutroux vorgeführt und verhört. Anschliessend sollte das Publikum per Internet über Cohn-Bendits "Pädophilie" abstimmen. Selbst die angeblich seriöse Zeitung Le Monde setzte den Schmarren auf die Titelseite. Und das Genfer Magazin L'Hebdo plapperte es auch noch brav nach, unter der Überschrift "Unter dem Pflaster, die Schande". Von wessen "Schande" ist eigentlich die Rede? Erinnert sich niemand mehr an die schändliche Entscheidung der Pariser Regierung von 1968, den als Kind jüdischer Flüchtlinge im französischen Montauban zur Welt gekommenen Daniel Cohn-Bendit des Landes zu verweisen?In Deutschland hingegen rührte sich in Sachen Cohn-Bendit'scher "Pädophilie" nicht einmal die sexskandalgeile Boulevardpresse, die in den Monaten und Wochen davor hingerissen in Boris Beckers Hotelbetten herumgerochen und einen "Samenraub" ermittelt hatte. Was ist da los? Spinnen die Gallo-Römer? Oder nur deren Medien, in denen heute hauptsächlich gewendete Umstürzler von 1968 ff. das Sagen haben?Während sich Frankreich im schlechten Sinn germanisiert, kehren sich die Schriftsteller und Intellektuellen beider Länder den Rücken zu. Régis Debray hat kürzlich unverblümt ausgesprochen, was alle wissen: "Man liest sich, man sieht sich, man hört sich immer weniger zu." Im heutigen Frankreich dürfen solche Wahrheiten aber nicht laut artikuliert werden: dem "Land für Kinder", dem zu gleichen Frankreich sich anschickt, ist das nicht zuzumuten. In der Wiedergabe der Äußerungen Debrays in Le Monde, dem selbsternannten "Leitjournal Frankreichs", fehlte der entsprechende Absatz.