Vorhang auf und alle Fragen offen

Wahlkampf Wie es aussieht, wird es nicht zu einer Rot-Grünen Bundesregierung kommen. Aber insgesamt gelingt es kaum einer Partei, die großen Fragen mobilisierbar zu machen

Nüchtern betrachtet tendieren die Chancen von Rot-Grün auf eine eigene Mehrheit knapp vier Wochen vor der Bundestagswahl gegen Null. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Umfragewerte, die einen kaum einzuholenden Abstand zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb signalisieren, sondern um die Tatsache, dass es Rot-Grün bisher nicht gelungen ist, Fragen der sozialen Gerechtigkeit mobilisierbar zu machen und das, obwohl sich die Reichtums-Armuts-Schere in den letzten Jahren deutlich geöffnet Hat.

Das Ende ideologischer Polarisierungen

Es gibt kaum Gründe anzunehmen, dass sich daran in der heißen Phase des Wahlkampfes noch Entscheidendes ändern wird. Die Bevölkerung schreibt zwar die im europäischen Vergleich gute Wirtschaftslage und geringere Arbeitslosigkeit nicht unbedingt den Regierungsparteien zu, aber sie ist dennoch mit der allgemeinen wirtschaftlichen Situation zufrieden. Auch aus anderen zwischen Regierung und Opposition umstrittenen Themen ist bisher keine Wechselstimmung erwachsen – weder aus den konträren Positionen in der Steuerpolitik noch aus der Energiewende.
Die Erwartungen der Wählerinnen und Wähler an eine zukünftige Regierung sind letzten Endes gering und ähnlich pragmatisch wie der Regierungsstil der Kanzlerin. Das Ende des Zeitalters der Ideologien scheint auch den modernen Wahlkämpfen die Schärfe früherer ideologischer Debatten entzogen zu haben, so dass der Pragmatismus der Kanzlerin wie Blei über dem Wahlkampf liegt – eine Tendenz, von der Angela Merkel mit ihrer präsidentiellen, unaufgeregten Art des Regierens am meisten profitiert und die sie trefflich fördert.
Sieht man von den Parteien an den äußersten Rändern ab, tendieren alle wahlentscheidenden Parteien in die Mitte – selten war das Parteiensystem so zentristisch wie heute. Ideologische Polarisierung ist ein Ladenhüter. Selbst Sarah Wagenknecht kommt weichgespült mit Ludwig Erhard daher. Alle buhlen um die etwa 70 Prozent der Wahlberechtigten, die überhaupt noch wählen gehen – für das gewachsene Nichtwählerspektrum hat auch Rot-Grün wenig Überzeugendes im Angebot.

Schon wieder Merkel!?

Gibt es also überhaupt noch Hoffnung auf eine Regierung, in der Angela Merkel nicht erneut Kanzlerin wird? Während unter Journalisten und politischen Beobachtern schon ausgemacht zu sein scheint, dass das Rennen zugunsten der CDU gelaufen ist, sollte man sich in Erinnerung rufen, dass die Lager in den letzten Jahren – mit Ausnahme der Bundestagswahl 2009 – bei vielen Wahlen ganz eng beieinander lagen. Auch die jetzigen Umfragen signalisieren ja nichts anderes.
Ob sich die Popularitätswerte der Kanzlerin am Wahltag auf ihre Partei übertragen, ist also noch nicht sicher, und die gegenwärtigen Umfragezahlen sind immer noch momentane Stimmungsaufnahmen. Bei der Bundestagswahl 2005 sagten die fünf führenden Meinungsforschungsinstitute Forschungsgruppe Wahlen, Infratest dimap, Forsa, Allensbach und Emnid im Zeitraum vom 10. bis 12. August (also ungefähr zu einem Zeitpunkt, welcher der jetzigen zeitlichen Entfernung zum Wahltermin 2013 entspricht) den Unionsparteien im Mittel ein Ergebnis von 41,5 Prozent voraus. Das tatsächliche Ergebnis für die Union lag dann jedoch nur bei 35,2 Prozent. Im Wahljahr 2009 wiederum wurden für die CDU in der Zeit vom 21. Juli bis zum 12. August im Mittel 36,5 Prozent vorausgesagt – 2,7 Prozentpunkte über dem tatsächlichen Ergebnis von 33,8 Prozent. Die jetzigen guten Umfragewerte für die CDU sind also trotz der ohne Frage starken Position der Kanzlerin mit Vorsicht zu genießen. Welche Lagerkonstellation am Ende die Nase vorn haben wird, ist jedenfalls noch offen.

Mitte-Links ist alles diffiziler

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Während Schwarz-Gelb ein intaktes und mobilisierungsfähiges Lager darstellt, ist das rot-rot-grüne Lager defizitär und politisch nicht handlungsfähig. Rot-Grün kann also allenfalls einen „amputierten“ Lagerwahlkampf führen. Um dies zu ändern, hätte man die Perspektiven für die Linkspartei öffnen müssen - natürlich um den Preis, dem schwarz-gelben Lager damit die Blaupause für einen rot-rot-grünen Angstwahlkampf zu liefern.
Die Spitzenakteure aus SPD und Grünen haben gleichwohl frühzeitig eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen.
Denn noch in der Mitte der Legislaturperiode und nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen sah es so aus, als könne man auf die Linkspartei verzichten und eine eigene rot-grüne Mehrheit gewinnen. Das Dilemma der SPD ist, dass es ihr mit ihrem Spitzenkandidaten bislang weder gelungen ist, der CDU Wechselwähler in der Mitte abspenstig zu machen noch die LINKE zu marginalisieren, wie das etwa Hannelore Kraft, Thorsten Albig und Stephan Weil in ihren westdeutschen Bundesländern geschafft haben. Im Gegenteil: Die Linkspartei hat nicht nur im Osten, sondern auch im Westen im Vorfeld der Bundestagswahl wieder Auftrieb bekommen, weil der Spitzenkandidat der SPD das Thema soziale Gerechtigkeit nicht glaubwürdig repräsentiert.
Angesichts dieser Ausgangssituation könnte allenfalls die Arithmetik des Wahlergebnisses das Lager aus SPD, Grünen und Linkspartei doch noch zusammenbringen. Sollten die drei Parteien eine knappe Mehrheit erzielen, müssten sie sich politisch dazu verhalten. Dann stellt sich die Frage, welche koalitionspolitischen Rationalitäten die Überhand gewinnen. Denn je weniger es in den nächsten Wochen gelingt, einen Aufwärtstrend für Rot-Grün zu erzeugen, desto stärker werden sowohl bei der SPD als auch bei den Grünen die koalitionspolitischen Alternativen abgewogen. Aus Partnern könnten dann Konkurrenten werden, die beide um die Gunst der Kanzlerin buhlen.

Warum nicht mit der CDU fremdgehen?

Für die SPD bestünde der Reiz einer Großen Koalition darin, dass sie sich nach vier Jahren aus der Regierung heraus eine wesentlich bessere Ausgangsposition zur nächsten Bundestagswahl verschaffen könnte als 2009, denn entweder tritt Angela Merkel im Laufe der Legislaturperiode zurück oder aber zur nächsten Bundestagswahl nicht mehr als Spitzenkandidatin an. Danach täte sich in der Union ein großes Loch auf.
Aber auch für die Grünen läge in einer schwarz-grünen Koalition eine süße Verführung, nämlich dann, wenn Angela Merkel bereit sein sollte, ihnen personell und inhaltlich entgegenzukommen, damit die Parteiführung die Parteibasis von den Vorteilen einer Regierungsbeteiligung überzeugen könnte. Das wäre nur der Fall, wenn die Union Jürgen Trittin das von ihm angestrebte Finanzressort überlassen und weitgehende Zugeständnisse in Richtung Energiewende machen würde. Das Signum dieser Koalition wäre dann ein Zweckbündnis für die Durchsetzung der Energiewende – ein Projekt, das sowohl für den Wirtschaftsstandort Deutschland als auch für die klimapolitischen Ziele, zu denen sich die Bundesrepublik verpflichtet hat, von elementarer Bedeutung ist. Sollten also Unionsparteien und Grüne ihre wirtschafts¬politischen Kompetenzen auf der einen und ihre ökologischen Kompetenzen auf der anderen Seite programmatisch zusammenbringen, wäre prinzipiell auch ein schwarz-grünes Bündnis denkbar.
Angesichts dieser Alternativen könnte aber trotz aller Bedenken bei SPD und Grünen eine dritte Option ins Spiel kommen. Es ist Sigmar Gabriel durchaus zuzutrauen, die defizitäre Linkskoalition politisch handlungsfähig zu machen. Er weiß, dass eine erneute Große Koalition für seine Partei auch ein großes Risiko darstellt und die Partei weiter schwächen könnte. Eine Zusammenarbeit mit einer Linkspartei, bei der nach dem 22. September die Reformer aus dem Osten innerhalb der Bundestagsfraktion der LINKEN eine Mehrheit stellen werden, wäre dann der Ausweg aus einem Dilemma, der eine nachhaltige Spaltung zwischen SPD und Grünen vermeiden würde.
Das würde zunächst einen medialen Proteststurm auslösen und wäre für die SPD ebenfalls ein hohes Risiko, zumal die Partei in dieser Frage gespalten ist. Eine Koalition zusammenzuhalten, in der die Linkspartei das Füllhorn sozialer Wohltaten ausschütten will und Trittin den Daumen auf der Staatskasse hält, wäre jedenfalls nicht einfach. Eine noch risikoreichere Variante wäre die Bildung einer Minderheitsregierung, die bei der Kanzlerwahl auf die Linkspartei setzt. Dass auch solch ein Szenario als Option ins Kalkül gezogen wird, lässt sich ebenfalls nicht vollkommen ausschließen, wie die Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung in NRW gezeigt hat, die ebenfalls zu Beginn unter starkem Beschuss stand. Nach den Erfahrungen in NRW hat sich dieses Risiko aus der Perspektive von SPD und Grünen sogar ausgezahlt.
Die Wahl ist jedenfalls noch lange nicht gelaufen und die Frage, welche Koalition Deutschland nach dem 22. September regieren wird, wird voraussichtlich erst am Wahltag entschieden.

Zuerst veröffentlicht am 27. August 2013 im Forum des Progressiven Zentrums vom Wahlforscher Prof. Dr. Lothar Probst

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