USA Schauen Sie auf das Bild da rechts: Kritische Europäer wie unsere Autorin finden diese Familie schrecklich, viele Amerikaner sind begeistert. Aber wer hat hier Paranoia?
Praktisch jeder kann sich in den USA eine Knarre kaufen. Wenn nicht im Fachgeschäft, dann unter Hand oder auf Messen und in Supermärkten. Niemand verkauft weltweit so viele Kleinwaffen wie die Billigkette Walmart.
Ende Dezember 2012, kaum zwei Wochen nach dem Amoklauf in Newtown, habe ich in einem Einkaufszentrum im ländlichen Neuengland die falsche Rolltreppe erwischt. Statt bei Schneeschuhen landeten meine Tochter und ich in der Waffenabteilung, wo ein freundlich grüßender Verkäufer schon morgens um neun Uhr Pistolen, Schrotflinten und Sturmgewehre aller Art feilbot. Für uns Frauen sogar welche in freundlichen Pastellfarben. Die halbautomatischen Schnellfeuerwaffen waren zum Teil ausverkauft. Sie sehen den automatischen Maschinengewehren des Militär
litärs zum Verwechseln ähnlich und sind seit ihrer Wiederzulassung 2004 ein großer Verkaufsschlager. Nach Newtown befürchteten Waffenfans ein erneutes Verbot dieser „Assault Rifles“ (Angriffswaffen) und tätigten Hamsterkäufe.In den USA gibt es heute rund 310 Millionen Waffen in privaten Händen. Das ist statistisch ziemlich genau ein Gewehr pro Einwohner. In Wirklichkeit besitzen immer weniger Personen in den USA immer mehr – und immer potentere – Gewehre. Zum Beispiel sind das die rechtslibertären Tea-Party-Anhänger, die sich gerade jetzt wieder, nach der Wiederwahl von Barack Obama, bis an die Zähne bewaffnen, weil sie glauben, die kommunistische Diktatur stehe vor der Tür. Seltsamerweise gibt es auch unter den Linken immer wieder Waffennarren, die glauben, die Freiheit gegen die „faschistoide Regierung“ mit dem Gewehr in der Hand verteidigen zu müssen. Doch das allein erklärt nicht, warum in den USA jedes Jahr acht Millionen neue Handfeuerwaffen auf den Markt kommen.Plötzlich starrte ich in ein …Man könnte meinen, als Schweizerin sei ich an Waffen im Haus gewohnt, wo doch auch die wehrfähigen Männer der Confoederatio Helvetica ihr Sturmgewehr im Schrank stehen haben. Doch in der Schweiz kannte ich Waffengewalt nur vom Hörensagen. In den USA starrte ich, kaum angekommen, in die Öffnung eines geladenen Maschinengewehrs.Die Konfrontation war ein Missverständnis: Die Polizei hatte mich wegen eines geringfügigen Verkehrsdelikts angehalten, und ich war entgegen landesüblichen Gepflogenheiten aus dem Auto gestiegen. Es war dunkel, ich trug einen langen Mantel, und der Polizist war emotional aufgewühlt, da ein Kollege von ihm wenige Tage zuvor im Dienst umgebracht worden war. Die Situation konnte deeskaliert werden, doch sie ließ beide Beteiligten mit weichen Knien zurück. Viel hätte nicht gefehlt …Das war nicht die einzige Begegnung unserer Familie mit Waffen und Gewalt. Eine Tochter musste Polizeischutz anfordern, weil auf einer Party abgewiesene Gäste mit Gewehren auftauchten. Ein Mitschüler meines Sohnes wurde wegen Mordes verurteilt. In der High School stellte eine uniformierte Polizeibeamtin sicher, dass keine Waffen ins Gebäude gelangten.Mein Bild des bewaffneten Amerikas ist aber auch durch den Fotojournalisten Kyle Cassidy geprägt, der einhundert US-amerikanische Gewehrbesitzer im Kreise der Lieben porträtierte. Unvergesslich das Ehepaar Judi und Donno auf dem Titelbild seines Buches „Armed America“. Die beiden posieren festlich gekleidet im bordeauxroten Wohnzimmer, dessen Abstellflächen mit Babyfotos und Porzellankätzchen vollgestellt sind. Sie hält eine Remington-Repetierflinte in der Hand, er ein Kalaschnikow-Sturmgewehr. Im Vordergrund steht der kleine Sohn im knalligen Superman-Kostüm. Er heißt Uzi, wie die bekannte Maschinenpistole israelischer Herkunft.Andere Fotos zeigen die Kindergartenschülerin Morgan mit ihrem kleinen, aber funktionstüchtigen pinken Sturmgewehr, das perfekt zu ihrer rosaroten Kleinmädchengarderobe passt. Den Buddhisten im Lotussitz, der hinter sich einen Hausaltar und vor sich ein Sturmgewehr aufgebaut hat. Einen Mann mittleren Alters, der im engen, fensterlosen Kinderzimmer mit vorgehaltenem M4-Karabiner samt aufmontiertem Zielfernrohr über die Sicherheit von Frau und Kind wacht.Warum besitzen sie ein Gewehr? Diese Frage verblüfft viele Waffenbesitzer in den USA. Schließlich fragt auch niemand, warum sie ein Auto besitzen, eine Klimaanlage oder einen Feuerlöscher. Das gehört einfach zum American Way of Life. Waffen sind Teil der US-amerikanischen Identität: Mit Waffengewalt – erst gegen die Indianer, dann die Briten – wurden die USA ins Leben gerufen. Wehrbereitschaft bleibt Bürgerpflicht. Nicht selten wird Thomas Jefferson zitiert: „Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt werden.“Das beliebteste Argument lautet: Das Recht auf private Bewaffnung ist ebenso wie das Stimmrecht von der Verfassung historisch geschützt. Erst das Gewehr in der Hand macht aus dem Untertanen einen freien Bürger. Diesen Anspruch auf individuellen Waffenbesitz hat der konservative Oberste Gerichtshof der USA 2008 leider mit knapper Mehrheit bestätigt. Besonders häufig traf ich auf Menschen, die überzeugt waren, dass nur Waffen im Haus die individuelle Sicherheit gewährleisteten. Der Selbstschutz könne nicht an andere, auch nicht an den Staat delegiert werden. Dieser Vigilantismus geht zusammen mit wirtschaftlichem Egoismus und mit einer Politik, die das Misstrauen in den Staat und die Gemeinschaft schürt. „Wenn es uns nicht gelingt, den gegenseitigen Respekt in Politik und Recht wieder aufzuwerten, dann fehlen uns die Gegenmittel zum giftigen Misstrauen, das unsere Gesellschaft zerstört“, schrieb die Juristin und Bürgerrechtsaktivistin Patricia Williams kürzlich im linken Magazin The Nation. Und sie fügte hinzu: „Gewehre sind nur das tödlichste Sinnbild für eine Nation, die gegen sich selber Krieg führt.“Dieses Gefühl, ständig bedroht und in einem Kriegszustand zu sein, ist tief in der US-amerikanischen Gesellschaft verankert. Es ist, vermute ich, ein Resultat der unverarbeiteten gewalttätigen Gründungsgeschichte. Die Traumata des Indianermordes und der Sklaverei werden umgedeutet in den Mythos von der eigenen Sonderstellung: Die USA sind von Gott oder der Geschichte dazu erwählt, die Welt als leuchtendes Beispiel zu führen. Die Kehrseite dieses Exzeptionalismus besteht in Neid, Missgunst und Hass der Nichterwählten, der anderen: Das Gute sieht sich ständig vom Bösen bedroht. Die USA befinden sich in einem ewigen Krieg, für den das Land allzeit gewappnet sein will.„Es gibt kein Paradies ohne Vertreibung“, warnte die afroamerikanische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison ihre paranoiden Landsleute 1998 im Roman Paradise. Für mich ist dieses Buch, mehr als jede historische oder soziologische Abhandlung über die USA, zum Schlüssel für das Verständnis meiner Wahlheimat geworden: Eine verschworene Gruppe ehemals Verfolgter – bei Morrison sind es Nachkommen von Sklaven – verteidigt ihre religiös geprägte Gemeinschaft gegen reale und imaginierte Sünden von außen, und zwar um jeden Preis. Das heißt, auch wenn sie dabei selber zu Sündern und Verrätern an ihren eigenen Idealen werden.… geladenes MaschinengewehrAls die Türme in New York in einem Terrorangriff zusammenstürzten und 3.000 Menschen unter sich begruben, spürte die US-Bevölkerung ihre Verletzlichkeit, man könnte auch sagen: ihre Weltlichkeit. Für einen Moment schien es, als würden sich die USA mit der Außenwelt verbünden. Doch erst recht wollten viele US-Amerikaner – allen voran die Regierung – ihr mythisches Paradies durch Vertreibung oder sogar Eliminierung des Bösen wiederherstellen und sichern.Eine vergleichbare Aufrüstung in den Köpfen passiert jeweils auch nach Amokläufen und löst eine verheerende Dynamik aus. Die Waffenlobby, bestens organisiert in der National Rifle Association (NRA), forderte nach dem tragischen Massenmord in Newtown umgehend eine Bewaffnung des gesamten Lehrpersonals. In einem Schulbezirk im Bundesstaat Ohio wurden Anfang Januar tatsächlich alle Schulhausmeister bewaffnet. Man mag sich über die archaische Sichtweise der NRA lustig machen, doch auch die aktuelle Diskussion um Waffenverbote verläuft auf diesem Niveau. Es geht lediglich darum, wer welchen Gewehrtypus besitzen darf. Immer noch glaubt man, die Guten von den Bösen trennen zu können. Welche Rolle die Waffen in der US-Gesellschaft sowie der Innen- und Außenpolitik des Landes spielen und welche sie in Zukunft spielen sollen, kommt dabei nicht zur Sprache. Vielleicht nach dem nächsten Massaker?
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