Ralph Naders Schattenkabinett

AMERIKAS LINKE Wie wird aus der weit verbreiteten Kritik eine politisch unüberhörbare Stimme?

Als die Axt in den Wald kam, sagten die Bäume: ›Nun, wenigstens ist der Stiel einer von uns‹.« Mit diesem Bonmot leitet der Nader-Unterstützer Christopher Hitchens in der linken US-Zeitschrift The Nation seine Kolumne gegen das Gerede vom demokratischen Präsidentschaftskandidaten als »kleinerem Übel« ein und fährt fort: »Al Gore kommt daher wie eine Mischung aus Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger und gleicht wahrhaftig einem bronzefarbigen, mit Nüsschen gestopften Kondom«. Es ist nicht Hitchens erste Polemik, und er ist beileibe nicht der einzige, der sich in den vergangenen Monaten mit beißendem und oft etwas selbstverliebtem Sarkasmus gegen realpolitisches Leisetreten der Linken und für eine klar linksalternative Position zu Wort meldet.

»Eine Präsidentenwahl ist nicht der richtige Moment für den Aufbau einer Bewegung«, kontert Gore-Supporter Eric Alterman, »angesichts der Schwäche der heutigen amerikanischen Linken beschränkt sich unsere Wahl naturgemäß auf die des kleineren Übels.« Außerdem seien die Unterschiede zwischen den zwei primären Präsidentschaftskandidaten ebenso substantiell wie in jeder anderen Kopf-an-Kopf-Wahl der modernen amerikanischen Geschichte. Auch das wiederholen die linken Blätter unentwegt: die Verdienste der Clinton-Regierung, vor allem seine sozial- steuer- und umweltpolitisch motivierten Vetos im republikanisch dominierten Kongress; und als drohende Alternative die Rückkehr zum Ancien Régimeunter Bush II.

Die 16,5 Millionen Gewerkschafter, allen voran der Chef des Dachverbandes AFL-CIO John J. Sweeney, haben Erfahrung mit dieser Art Kopf-Herz-Hand-Politik. In Seattle noch überzeugter Gewerkschaftsprotest auf der Straße, nach der Niederlage im Sommer in Sachen Handelsverträge mit China bloß noch halbherziges Schimpfen über die Demokraten - ausgenommen Al Gore - und jetzt kurz vor der Wahl tourt Sweeney, trotz nach wie vor laufender Kampagne gegen Clintons schlanke NAFTA-Pläne, höchstpersönlich durch den Nordwesten der USA, um in dem unentschiedenen Präsidentschaftsrennen demokratische Stimmen von Nader-Anhängern zu gewinnen. »Hier geht es nicht um Protest mit geringem Risiko«, donnert ein Gewerkschaftsfunktionär ins Publikum. Der politisch gewandte Sweeney selbst hätte das diplomatischer formuliert, propagiert er doch seit Neuem »die Globalisierung, die den Arbeiterfamilien nützt«.


    Ralph Nader

    Der 66-jährige Verbraucheranwalt, Deregulierungsgegner, Ökoaktivist und ausgemachte Gegner multinationaler Konzerne wurde Mitte der sechziger Jahre berühmt, als er der US-Autoindustrie grobe Sicherheitsmängel nachwies. Ein außergerichtlicher Vergleich mit General Motors - der Konzern hatte Nader bespitzeln lassen - brachte ihm 425.000 Dollar ein. Mit diesem Geld finanzierte er sein politisches Engagement. 1971 gründete Nader Public Citizen, eine inzwischen landesweite Verbraucherorganisation, deren Vorsitz er 1980 niederlegte. Nader tritt nach 1996 zum zweiten Mal als unabhängiger Präsidentschaftskandidat für die Grünen an. Vor vier Jahren bekam er enttäuschende 0,7 Prozent und handelte sich den Vorwurf ein, keinen Wahlkampf gemacht zu haben. Dieses Jahr werden ihm - nach einem vergleichsweise aufwendigen Wahlkampf - zwischen drei und sechs Prozent zugetraut.

Es gibt auf der Linken die alle vier Jahre wiederkehrenden allgemeinen Klagen über den durch Wirtschaftsgelder und das machtkonsolidierende US-Wahlsystem (winner-takes-all) korrumpierten demokratischen Prozess; erstaunlicherweise gibt es aber selbst im Wahljahr keine nennenswerten wissenschaftlichen Studien, die den wachsenden Einfluss der Wirtschaft auf die (elektorale) Politik in den USA untersuchen. Unternehmen seien keine traditionellen politischen Akteure, meint ein Politologe, und dann könne eine wirtschaftskritische Arbeit der Karriere schaden. Auf dem großen weiten Internet platziert ein Idealist sein ganz persönliches »Traumkabinett 2001«. Ein anderer schlägt vor, nach der Wahl am 7. November unverzüglich eine Schattenregierung aufzustellen mit den Grünen Nader/LaDuke an der Spitze, Noam Chomski als Außenminister und Historiker Howard Zinn im Militärdepartment. Diese Gruppe würde die offizielle Politik Woche für Woche begleiten, spiegeln und ergänzen, und sie hätte sogar eigene große Empfänge in der alternativen Schattenwelt.

Themen, die von der realen Politik vernachlässigt werden, gibt es zur Genüge. Politisches Engagement und das Politikgeschäft 2000 haben sich, das vermelden sogar die großen Medien, weit voneinander entfernt. In den Debatten von Bush und Gore selbst kam »Politik« nur als Schimpfwort und als Gegenbegriff zum »Volk« vor. Ungewolltes Ergebnis der vielen Wahlumfragen: Unbeeindruckt vom ganzen Wahlrummel interessieren sich die meisten Leute für andere Themen als die Präsidentschaftskandidaten oder haben eine von den beiden Zentristen abweichende Meinung. Für fairen statt freien Handel, Kürzungen im Militärbudget oder Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen sind weder Bush noch Gore eingetreten. Keiner von beiden teilt die Besorgnis der Bürger bezüglich zunehmender sozialer Ungleichheit im Land, ungeregelter Marktwirtschaft oder des Unilateralismus in der US-Außenpolitik. Doch wie wird aus dem Umfrageergebnis eine demokratische Mehrheit oder zumindest eine politisch unüberhörbare Stimme?

Seattle-Protest forever? Hoffentlich! Aber die globalen Auftritte nutzen sich ab, ermüden die jetsettenden Aktivisten und schließen viele Menschen, und gerade wichtige Minderheiten, vom Mitmachen aus. Intellektuelle Debatten mit mehr Geschichtsbewusstsein und einer internationaleren Perspektive? Sehr gut! Allerdings sind die entsprechenden Foren in den USA so vollständig vom Mainstream separiert - U-Konsum versus E-Politik - und außerdem so ausdifferenziert (um nicht zu sagen zersplittert), dass man bereits heute vollauf damit beschäftigt ist, da und dort hineinzuschauen und das eine und andere zusammen zu denken. Der Dritte Weg mit der Dritten Partei, die im politischen System der USA bestenfalls Spielverderber sein darf? Vielleicht erreicht Ralph Nader nach 35 Jahren als Verbraucherschützer endlich mehr als fünf Prozent der Stimmen und erhält somit öffentliche Gelder, die den Aufbau seiner progressiven Partei erleichtern. Wenn nur seine »tiefe Demokratie« nicht so kommunitaristisch und weiß und männlich daherkäme, doch: Wie sonst kann politisch organisiert werden in einer Gesellschaft, die - wie politische Beobachter seit Alexis de Tocqueville feststellen - einen ausgesprochenen Hang zum Anti-Etatistischen, Anarchistischen, Libertären aufweist. Nader hat recht: »Es gibt Millionen von fortschrittlichen Menschen in diesem Land - das Problem ist, sie haben sich noch nie getroffen.«

Kommt dazu, dass politische Kritik am Status quo von der herrschenden Kultur radikaler noch als in den europäischen Neuen Sozialdemokratien als elitär und rückständig abgestempelt wird. Und zwar von der missionarisch auftretenden säkularen Religion des »Marktpopulismus«. Thomas Frank, Historiker und Autor eines eben erschienenen Buches zum Thema: »In den neunziger Jahren begannen die führenden Köpfe in den USA zu glauben, dass die Märkte ein volksnahes System seien, eine weitaus demokratischere Form der Organisation als die (demokratisch gewählten) Regierungen.« Nachfrage und Angebot, Umfragen und Zielgruppen, Supermarkt und Internet würden den Volkswillen besser wiedergeben als bloße Wahlen. Und demzufolge seien all die elitär, die Gesellschaft anders als durch Marktmechanismen regulieren möchten, insbesondere Gewerkschaften und interventionistische Keynesianer. Frank beschreibt wie die Idee des Marktes als egalisierende, anti-elitistische Maschine Politiker und Kulturschaffende von liberal bis links verführt. Diesen Wahlherbst etwa feierte der unter Intellektuellen immer noch beachtete New Yorker Clinton ungeniert als »Neuen Demokraten«: »Er hat es geschafft, das Land von fiskalen (und ideologischen) Zwängen zu befreien, welche die politischen Möglichkeiten einer ganzen Generation beschnitten haben.« Bush, fährt das Blatt im gleichen Atemzug fort, habe nun die Chance, als erster »Neuer Republikaner« zu regieren. Und die aufstrebenden High Tech-Unternehmen im Silicon Valley haben ungeachtet der »Cultural Wars« der achtziger Jahre den vergleichsweise kosmopolitischen Intellektuellen Gore und den frömmelnden Texaner Bush mit gleichermaßen großzügigen Spenden bedacht: ein doppeltes Ja zum Neoliberalismus.

Die offizielle Politik selbst ist ein Riesenmarkt mit einem geschätzten Vier-Jahres-Budget von 14 Milliarden Dollar für Werbung und Beratung geworden. Nicht nur die Fernsehstationen, auch die Politberater verdienen sich in den USA gegenwärtig eine goldene Nase, ihre Zahl hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren verdreifacht. »Ich verstehe nicht, wieso einer zwei Millionen ausgibt, um in einen 125.000-Dollar-Job gewählt zu werden«, sagt ein Veteran des Geschäfts über seine Parlamentarierklientel, »aber das tun sie nach wie vor.« Vielleicht weiß der Markt doch nicht alles.

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