Machtverfall Niemand wird es laut sagen, aber wenn Barack Obama nach Europa kommt, werden alle bang darauf schauen, wie die USA auf ihren langsamen Abstieg als Supermacht reagieren
Zwei Bilder aus den USA gehen seit der Tötung Osama bin Ladens um die Welt. Eine Aufnahme stammt aus dem Kommandoraum der US-Regierung: der Präsident, die Außenministerin und die Spitzen des Sicherheitsapparats starren auf einen Bildschirm, auf dem der militärische Sondereinsatz gegen den Al-Qaida-Führer live übertragen wird. Das zweite Foto zeigt fahnenschwenkende Amerikanerinnen und Amerikaner, die nach Bekanntwerden des Todes von bin Laden aus voller Kehle „USA! USA!“ skandieren.
Auf der einen Seite staatsmännische Zurückhaltung der Regierung, auf der anderen der überbordende, kathartisch ausgelebte Patriotismus des Volkes – das ist ein öffentlicher Auftritt ganz nach Wunsch des aktuellen Präsidenten. Barack Obama i
ck Obama ist keine Wildwestfigur wie sein Vorgänger George Bush. Dieser hatte nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 gerne die Rolle des unerschrockenen Retters der Nation gespielt. Kurz nach dem Fall von Bagdad schlüpfte er ins Kampfpilotenkostüm und verkündete ebenso vorlaut und wie voreilig Mission accomplished, Auftrag erledigt. Obama, der die von Bush angezettelten Kriege samt prekärer Kriegswirtschaft geerbt und weitergeführt hat, vermeidet Imponiergehabe. Das ist nicht bloß eine Frage des Temperaments, sondern auch des politischen Kalküls.Zum einen ist das Aufspüren und außergerichtliche Abschießen von bin Laden nach zehn Jahren aufwändigem „Krieg gegen den Terror“ bei genauerem Hinsehen kein Triumph, sondern eine der teuersten Strafaktionen aller Zeiten. Dass er nicht Kriegsland Afghanistan, gefunden wurde, sondern auf dem Territorium von Verbündeten, in Pakistan, ist ebenfalls keine sicherheitspolitische Glanzleistung. Und was das zweite und wohl zentrale Ziel der US-Militärkampagnen in Irak und Afghanistan betrifft, die Sicherung von Ölressourcen – oder nobler ausgedrückt: die Pax Americana – auch da haben sich die Zeiten geändert.Was sich auf der Weltbühne geändert hat, wird in der kommenden Woche die aktuellste von Obamas zahlreichen Europareisen zeigen. Ob in Irland die Weltwirtschaft diskutiert wird, ob am G8-Treffpunkt in Frankreich der arabische Frühling zur Sprache kommt, oder ob beim Polen-Besuch die Verantwortung der NATO festgemacht wird – immer wird es dabei auch um die sich verändernde Rolle und das Gewicht einer kriselnden Supermacht gehen. Obama formuliert es diplomatisch: Er komme nach Europa to listen, learn and lead, um zuzuhören, zu lernen und zu führen.Erfüllte ProphetienVor wenigen Jahren noch sah und behandelte sein Vorgänger George Bush Europa als schwachen Vasallen des mächtigen US-Imperiums – und war mit dieser Einschätzung nicht allein. Nach den Angriffen auf das World Trade Center propagierten in den USA nicht bloß rechte „Falken“ im Weißen Haus die Weltherrschaft der USA als einzig denkbare Sicherheitsstrategie. Auch zahlreiche Intellektuelle aus dem linksliberalen Lager begeisterten sich auf einmal für die Idee des „guten Krieges“ und eines neuen, aufgeklärten Empire lite.Im Frühjahr 2003, als große Teile der Welt gegen die bevorstehende Invasion im Irak protestierten, schwärmte etwa Michael Ignatieff – damals Harvardprofessor, heute erfolgloser kanadischer Oppositionspolitiker – im Magazin der New York Times: „Eine globale Hegemonie, komplettiert von freien Märkten, Menschenrechten und Demokratie und kontrolliert von der mächtigsten Armee, die die Welt je kannte. Es ist der Imperialismus eines Volkes, das weiß, dass es seine eigene Unabhängigkeit in Auflehnung gegen ein Imperium gewonnen hat.“ Der Titel seiner Vision lautete: „Das amerikanische Imperium. Gewöhn’ dich dran!“Fünf Jahre später ließ dasselbe Magazin einen anderen Politikwissenschafter zu Wort kommen, diesmal unter der Überschrift „Abschied nehmen von der Hegemonie“. Parag Khanna von der Denkfabrik New America Foundation stellte eine globale Machtverschiebung fest. Es treffe zu, dass Präsident George Bush mit seiner unilateralen Politik auf der ganzen Welt Gegenbewegungen inspiriert habe. Doch im Wesentlichen sei die Entstehung einer multipolaren Welt mit China, Europa und Amerika als Konkurrenten trotz Bushs imperialistischer Politik passiert. Khanna: „Die neue Weltordnung ist bereits da, und der neue Präsident wird nur wenig dagegen tun können.“Die Prophezeiung erfüllte sich: Nach seiner glanzvollen Wahl im November 2008 konnte Barack Obama in der Tat kaum spektakuläre Kursänderungen vornehmen. Sein Handlungsspielraum war außerordentlich eingeschränkt. Der reformfreudige Demokrat hatte von der rechtskonservativen Regierung Bush nicht bloß eine außenpolitisch verfahrene Situation geerbt, sondern innenpolitisch die schlimmste Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Obama fand ein korruptes System vor, in dem Krieg und Krisen sich seit Jahren hochgeschaukelt hatten. Der US-Ökonom James Galbraith bezeichnet das Resultat dieser Entwicklung als Predator State. Gemeint ist ein Räuberstaat im doppelten Sinn: Er schröpft die breite Bevölkerung und wird seinerseits von einer kleinen Elite nach Strich und Faden ausgeplündert. Die USA sind in der Amtszeit von George Bush zum Tummelplatz für Kriegs- und Krisengewinnler geworden, die Interesse an einer Weiterführung, ja Zuspitzung dieser Situation haben.Der drohende Zusammenbruch des Kapitalismus hat viele in der Überzeugung bestärkt: Eine andere Welt ist möglich! Für den neu gewählten Präsidenten hingegen bedeutete die Rezession, dass die Hoffnung und der Optimismus, die ihm zum Sieg verholfen hatten, dahinschmolzen wie das Eis an den Polarkappen. Darunter kamen all die Ängste wieder zum Vorschein, die seine politischen Gegner seit 9/11 so wirkungsvoll geschürt hatten.Die Regierung Obama setzte wenig dagegen, ihre Arbeitsbeschaffungspolitik etwa war und ist kaum der Rede wert. Die existentielle Unsicherheit vieler Amerikanerinnen und Amerikaner brachte den Republikanern einen beträchtlichen Stimmengewinn bei den Zwischenwahlen im November 2010. Das wiederum machte den Präsidenten zum noch straffer gebundenen Riesen. Seine Popularität sank.Nun hat ihm Osama bin Ladens Ende eine kleine politische Verschnaufpause verschafft. Die hollywoodreife Militäraktion der Navy Seals in Abbottabad hat Barack Obama, den kulturellen Außenseiter, den polyglotten Afrikaner, den kühlen Intellektuellen mit einem Schuss amerikanisiert. Er ist zu „einem von uns“ geworden – für einen Moment lang wenigstens. Einen Moment, den er hoffentlich für eine innen- und vor allem außenpolitische Wende zu nutzen weiß. Zum beschleunigten Rückzug aus Afghanistan zum Beispiel, den er wiederholt versprochen, aber noch kaum angegangen hat. Rund 200.000 US-Söldner und Soldaten sind heute in diesem Land stationiert. Im Juli sollen gerade mal 5.000 davon abgebaut werden, lächerliche 2,5 Prozent. Noch wichtiger wäre eine prinzipielle Absage an den endlosen „Krieg gegen den Terror“, der in den USA seit 2001 als Euphemismus für imperialistische Übergriffe aller Art herhalten muss. Die neuesten Verteidigungsrichtlinien des US-Kongresses weisen allerdings nicht in diese Richtung: Die Liste der terroristischen Feinde, die mit allen Mitteln und auf unabsehbare Zeit militärisch bekämpft werden müssen, wird in der Gesetzesvorlage noch ausgeweitet.Selbst die Armee soll sparenDoch der kurze Traum vom gütigen US-Imperium und vom amerikanischen Jahrhundert ist so oder so ausgeträumt. Leute wie Michael Ignatieff haben für ihre Leichtgläubigkeit öffentlich Abbitte geleistet. Heute sprechen sich selbst ehemalige Falken gegen Alleingänge der USA und für die Anpassung an eine multipolare Welt aus. Sogar der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, gewiss kein Friedensfürst, plädiert für Kooperation als oberstes Ziel der US-Außenpolitik. Und Benjamin Friedman, Sicherheitsexperte am rechtskonservativen Cato Institut, schrieb in der New York Times: „Die Vereinigten Staaten, rund fünf Prozent der Weltbevölkerung, sind für die Hälfte aller Militärausgaben verantwortlich. Der Grund dafür sind nicht unsere Feinde, welche historisch gesehen eher schwach und vereinzelt sind. Die eigene Macht verführt uns dazu, uns überall einzumischen und herumzukommandieren, die Kräfte zu verzetteln und unüberlegte Versprechungen abzugeben.“ Eine bescheidenere Strategie, so Friedman, würde die Sicherheit des Landes erhöhen und zugleich die Kosten senken.Friedmans Ruf nach außenpolitischer Selbstbeschränkung ist an sich nicht überraschend. Die US-amerikanische Rechte pendelt seit jeher ziemlich kopflos zwischen Imperialismus und Isolationismus hin und her. Gegenwärtig begünstigen zwei Faktoren den libertär-isolationistischen Flügel der Rechten: Erstens ist mit dem Erzfeind bin Laden ein wirkungsvolles Feindbild beseitigt worden, und kann so schnell nicht wieder symbolisch besetzt werden. Zweitens ist das Staatsdefizit der USA derart angewachsen, dass die radikalsten unter den Fiskalkonservativen ihr Messer überall ansetzen wollen, auch bei der bisher unantastbaren Armee.Kaum ist Osama bin Laden im Meer versenkt worden, verkündeten einige Kommentatoren in den USA frohgemut das Ende eines Zeitalters. Kann der Tod eines einzigen Terroristen tatsächlich einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel auslösen? Schön wär’s. Aber bin Laden war ja nicht der Urheber der tief sitzenden Ängste dieser Nation, die sich seit ihrer Gründung von einem Ausnahmezustand zum nächsten hangelt. Er hat diese Ängste bloß meisterhaft zu nutzen und zu mehren gewusst: Seine islamistisch begründete absolute Weltsicht speiste den apokalyptisch angehauchten Dualismus des christlichen Amerika: für uns oder gegen uns, Himmel oder Hölle, Sieg oder Niederlage.Jetzt ist der gefürchtete Terrorist tot, aber die in ihrer Führungsrolle bedrohten USA suchen weiter Sicherheit in militärischer Übermacht. Für alternative Konfliktmodelle wie Kooperation und Kompromiss, Aushandeln und Austauschen fehlen im Mainstream des Landes vorläufig noch die passenden Worte, Bilder und – in den USA ganz wichtig – die motivierenden Symbole und Mythen.
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