Zu Tolerant gegenüber der eigenen Blindheit

Kommentar Das Recht auf Leben ist keine Frage der Diplomatie

Beim Weltgipfel in New York vergangenen September waren sich alle UN-Mitgliedsländer einig, dass die nationalen Regierungen dafür verantwortlich zeichnen, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen, Genozid und ethnische Säuberungen zu verhindern. Dass sie die Pflicht haben, "angemessene und notwendige Mittel" zu ergreifen, derartige Schandtaten auszuschließen. Wenn das nicht geschehe, müsse die internationale Gemeinschaft mit "angemessenen diplomatischen, humanitären und anderen friedlichen Mitteln" helfen, die Bevölkerung zu beschützen.

Mit der Annahme ihrer Rolle als Schutzmacht für die Bevölkerung hat die internationale Gemeinschaft zum ersten Mal anerkannt, dass schwere Menschenrechtsverletzungen an und für sich eine internationale Reaktion verlangen. Noch ist es zu früh, um sagen zu können, ob es sich um einen wirklichen Durchbruch bei der Verteidigung des Rechts auf Leben handelt. Politische Verpflichtungserklärungen erscheinen erst dann sinnvoll, werden sie in der Praxis angewendet. Man kann sich natürlich fragen, ob die UNO - wobei ich die Mitgliedsländer meine - derzeit tatsächlich die Kapazität und den Willen besitzt, gegenüber versagenden Staaten schützend einzugreifen.

Genau genommen geht es aber gerade um diese Verantwortung. Die Funktion einer Schutzmacht erfordert in gewisser Weise auch die Intervention gegen die ständige Toleranz, die wir gegenüber Verletzungen des Rechts auf Leben zeigen. Dieses Recht ist der Grundstein aller anderen Menschenrechte - es spiegelt Selbsterhaltung und Würde. Diesen Rechtsanspruch in aller Vollständigkeit zu garantieren, wäre notwendig, um die massiven Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, die im Zentrum des UN-Gipfeltreffens standen. Allerdings beschränkt sich diese Verantwortlichkeit nach dem traditionellen Verständnis auf die eingangs erwähnten vier Verbrechen. Genau hier gehen die eingegangenen Verpflichtungen eigentlich an der Sache vorbei und blockieren nur unser Denken.

Armut, Hunger, Bildungsdefizite, schlechte Gesundheit, ungleiche Einkommensverteilung, Diskriminierung, der Ausfall des Justizwesens und der Verlust des Rechtsstaates schaffen weit größere Unsicherheiten - und gefährden letztendlich auch mehr Leben als jene Rechtsbrüche, für die eine Schutzpflicht vereinbart wurde. Solange wir Menschenrechtsverletzungen nur dann als Bedrohung auffassen, wenn der internationale Frieden und die Sicherheit bedroht sind; und solange wir blind dafür sind, dass die Wurzeln unserer kollektiven Sicherheit in unserem individuellen Wohlergehen liegen - so lange wird die Rhetorik aus New York nirgendwohin führen.

Trotzdem gibt es Gründe, optimistisch zu sein. Es ist sehr wohl ein Fortschritt, wenn man die Achtung der Souveränität von Staaten mit der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Schutz der Menschenrechte und der Bestrafung all jener, die sich massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, zusammenführt. Außerdem gibt es einen Konsens, wonach Menschenrechte sowohl vorbeugend als auch eingreifend zu schützen sind, wenn sie in schwerer Weise verletzt werden. Schon 1998 hatte UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärt, das 21. Jahrhundert müsse zum Zeitalter der Prävention werden. Das heißt, es ist nicht zuletzt auf die Ursprünge eklatanter Menschenrechtsverletzungen zu achten. Ein solcher Ansatz ist einfach aus Gründen des Rechts, der Moral und Effizienz notwendig.

Heutzutage sind die größten Gefahren für das Recht auf Leben weder der Krieg noch willkürliches Töten. Jedes Jahr sterben 530.000 Frauen in der Schwangerschaft oder bei der Geburt - und über zehn Millionen Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser und 2,6 Milliarden keinen sicheren Zugang zu sanitären Anlagen. Das sind Zustände, die jeden Tag etwa 3.900 Kinder das Leben kosten. 25 Millionen Menschen leben in Afrika südlich der Sahara mit HIV, von denen nicht einmal vier Prozent in den Genuss lebenserhaltender Medikamente kommen. AIDS hat im vergangenen Jahr weltweit mehr als drei Millionen Menschen sterben lassen.

Das sind ebenso Menschenrechtsverletzungen, wir haben es hier gleichfalls mit einem Affront und einer Gefahr für die Sicherheit der Menschen zu tun wie bei willkürlichen Festnahmen und Folterungen. Die von mir zitierten Fakten sind Ausdruck eines eklatanten Bruchs mit dem Recht auf Leben, sie gefährden die soziale Sicherheit und verhindern menschliche Entwicklung. Sie verlangen dringend nach Antworten auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene.

Louise Arbour, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte


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