Fast wie ein Roman

Schreibkrise Peter Stamm lässt das gute alte Doppelgängermotiv wieder aufleben – und eine Geliebte
Ausgabe 09/2018

Der neue Roman von Peter Stamm ist überraschend anders und doch ganz Stamm, und was zunächst erstaunt, erweist sich als folgerichtig. Man kennt diese perfekte Mischung aus nüchternem Realismus und präzise gesetzten Leerstellen, mit der uns der Autor alle zwei, drei Jahre beglückte. Doch da öffnete sich ein Abgrund in Stamms letztem Roman Weit über das Land, der aber das eigentliche Zentrum des Textes bildete: Vielleicht ist alles nur Einbildung?

In Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt wird die unauflösbare Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion nicht nur erzählerisch realisiert, sondern wird zugleich zum Thema eines grandiosen Romans. Damit kehrt der Schweizer zum großen Thema seines Debüts zurück, zum Verhältnis zwischen Leben und Literatur. Er habe tatsächlich Lust gehabt, wieder etwas wie Agnes zu schreiben, einen Text, der sehr „strukturiert“ (nicht „konstruiert“) sei, so der Autor im Gespräch. Aber eine gewisse Offenheit müsse bleiben – es gebe eine „gefühlte Komplexität“, die man als Leser auszuhalten vermöge. Gerade als Reaktion auf die digitale Revolution zeige man sich heute möglicherweise für das Irrationale wieder empfänglicher.

In einer Schreibkrise sei er vor fünfzehn Jahren sich selbst als jungem Mann begegnet. Diese Geschichte erzählt der Schriftsteller Christoph in Stockholm der jungen Schauspielerin Lena. Es ist die Geschichte von Christophs unglücklicher Liebe zu Magdalena und bald die Geschichte von Lena und ihrem Mann Chris, der auch Schriftsteller werden möchte. Wer nun eine angestrengte philosophische Spiegelfechterei befürchtet, wird von den Romanfiguren widerlegt. Mit spielerischem Ernst zweifeln sie das Erzählte und Erlebte immer wieder an, versuchen es als Erinnerung oder Traum, Einbildung oder Erfindung zu rationalisieren. Doch die Magie des Unheimlichen, das bei Sigmund Freud von der Begegnung mit sich als anderem ausgeht, bleibt gerade durch die Leichtigkeit von Stamms Erzählstil erhalten.

Ein feiner Zauber

Peter Stamm überblendet zwei Vorstellungen des romantischen Doppelgängers und lässt diese auf ihre jeweiligen Aporien zulaufen. Im klassischen Fall stellt man sich den Doppelgänger als optische Spiegelung vor und sieht sich dadurch mit einer Verdoppelung der Welt und der Ununterscheidbarkeit von Original und Abbild, von Wirklichkeit und Kunst konfrontiert. Richtig unheimlich wird es, als Christoph realisiert, dass er nicht nur einen Doppelgänger hat, sondern vielleicht selbst einer ist und so „Teil einer endlosen Kette immer gleicher Leben“ wäre. Man kann sich die Figur aber auch wie in René Magrittes berühmtem Gemälde La reproduction interdite vorstellen, in dem sich der Doppelgänger über die Schulter schaut anstatt seinem Spiegelbild in die Augen. Das Paradox der fehlenden Wechselseitigkeit bildet auch für Christoph den Erzählanlass, da er von den Doppelgängern nicht erkannt wird.

Dank der Verbindung dieser beiden Vorstellungen erweist sich der Doppelgänger als die ideale Verkörperung der Erinnerung, in der Damals und Jetzt zugleich miteinander verschränkt und durch das zeitliche Nacheinander getrennt sind. Christophs „jüngeres Ich“ ist „eine Erinnerung, die Wirklichkeit geworden ist“, und ihm die „Illusion“ vermittelt, er könnte seinem Leben „eine andere Wendung geben“. Den Wendepunkt bildet die entscheidende Nacht in Stockholm, die damals zur Trennung führte und die Christoph nun mit Lena und Chris zu reinszenieren und – vergeblich – umzuschreiben hofft. Folglich lässt sich Stamms Buch wie die versuchte Wiedergutmachung für eine der Literatur geopferte Beziehung lesen.

Genau dies war Agnes’ Schicksal. Stamms Erstling bildet den Nukleus seines neuen Romans und wird gleichsam gespiegelt überschrieben: Während Agnes von einer Geschichte getötet wird, lässt Christophs Geschichte seine Geliebte wiederaufleben. Seit Agnes Schullektüre geworden sei, müsse er ganzen Klassen erklären, wieso eine Fortsetzung der Idee des Buches widersprechen würde. Und doch, sagt Stamm beinahe entschuldigend, sei der neue Roman gewissermaßen das „Metabuch“ zu Agnes, das allerdings auch unabhängig davon funktionieren müsse. Sein bisher geschlossenstes Werk baut ebenfalls auf die Wirkkraft der Fiktion; indem es deren Konsequenzen bis zum Äußersten verfolgt, geht es aber über Agnes hinaus. „Am Ende kommt doch alles, wie es kommen muss“, resümiert Christoph. Indem er die Erinnerung in eine Erzählung transponiert, befreit er sich von sich selbst und kann seine eigene Liebesgeschichte am Schluss als die eines Dritten betrachten: „Fast wie in einem Roman.“ Dadurch wird das Verschwinden in die Literatur zu einer Art Kunstleben, zur Kunst, „von allem befreit, dem Leben zu entkommen“. In diesem Sinn spielt der Buchtitel auf das Glück an, das der Fremde am Schluss von Albert Camus’ gleichnamigem Roman angesichts der „zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt“ empfindet, und auf seine Bereitschaft, angesichts des Todes wie Sisyphos alles noch einmal zu erleben. Doch Geschichten lassen sich ebenso wenig umschreiben wie das Leben, und vielleicht gibt es kein Leben jenseits der Geschichten, die wir davon erzählen. Selten hat ein Plädoyer für die Macht der Literatur eine derart perfekte Form gefunden und zugleich derart feinen Zauber erzeugt.

Info

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt Peter Stamm S. Fischer 2018, 160 S., 20 €

Lucas Marco Gisi ist Leiter des Robert-Walser-Archivs in Bern

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