Am Mittwoch vor dem französischen Referendum schrieb der französische Philosoph Etienne Balibar in der Libération, dass ein erstes wichtiges Resultat der letzten Wochen das Entstehen einer ausführlichen Debatte sei, die die von den Regierungen vorgesehenen Grenzen bei weitem überspült habe. Denn ein Text, der den Titel "Verfassung" trage, könne nicht einfach abgenickt werden. Die Verfassung sei nur dann legitim, wenn sie mit dem Auftritt einer neuen konstitutiven Gewalt einhergehe. Die französische Debatte sei ein Schritt in diese Richtung gewesen, denn, so Balibar, die vorbereitenden Etappen dieser Verfassung seien technokratisch, eine Absprache unter "Experten" gewesen.
Balibar nennt als Gründe, den Verfassungsentwurf zu akzeptieren, erstens, dass er die Vereinigung Europas nach dem Ende des kalten Krieges sanktioniert, zweitens, dass er eine Europäische Antwort auf die Machtansprüche der USA und Chinas zu liefern verspreche, und drittens, dass hinsichtlich der Verfahren, die im Augenblick schon die Europäische Gemeinschaft regieren, die Verfassung eine relative Demokratisierung und rechtliche Absicherung bedeute. Gegen diesen Verfassungsentwurf spreche weniger die im dritten Teil der Verfassung enthaltene Verankerung eines ökonomischen Liberalismus, als vielmehr die darin vorgeschriebene Rolle der Zentralbank, der die Position eines Souveräns zugeschanzt werde, oberhalb der Gesetze und der Entscheidungen der Bürger. Der vielleicht wichtigste Grund, den Balibar gegen den Entwurf vorbringt, betrifft die "Europäische Staatsbürgerschaft". Der Verfassungsentwurf vermeidet es, diese auf neue Weise zu definieren, sondern bescheidet sich darin, von den prä-existierenden nationalen Staatszugehörigkeiten auszugehen und lediglich eine Art Supra-Nationalität darauf zu setzen.
Balibar wendet ein, dass hier eine europäische Apartheid beibehalten werde, mit der Folge, dass Grundrechte je nach dem Herkunftsland in Europa zugesprochen würden und dass keine Mittel für eine dezentrale Teilhabe an der enormen Bürokratie vorgesehen seien. Deshalb könne, so schließt Balibar, eine transnationale "Gemeinschaft der Bürger" gar nicht entstehen, die die alten Zugehörigkeiten durchkreuze, wie seinerzeit die Reformen des Kleisthenes, die die Zugehörigkeit zur Genè (Familienclans) durch die Einschreibung in territorial definierte Wahlkreise (Démé) abgelöst hatte.
Im Lichte von Balibars Ausführungen hat die Ablehnung der Verfassung durch das französische Referendum vielleicht auch eine gute Seite: Wenigstens ein Teil der europäischen Bürger hat sich souverän in seiner Entscheidung gezeigt. Der vorliegende Verfassungsentwurf ist ein Vertrag zwischen Regierungen, kein Projekt einer Europäischen Bürgerschaft. Man könnte Balibars Argumenten noch hinzufügen, dass Souveränität mit der Frage nach dem Entscheidungsprozeß beginnt. Anstatt so konkrete Dinge wie eine EU-Wirtschafts- und eine EU-Verteidigungspolitik festzulegen, hätte die Verfassungskommission gut daran getan, den Prozess der Ausarbeitung zu öffnen. Vor allem hätte man ein Verfahren finden müssen, die Verfassung in einem einheitlichen, europaweiten Verfahren und an einem gemeinsamen Termin zu verabschieden. Denn wenn diese Verfassung etwas regeln soll, dann doch wohl, wie in ganz Europa politische Entscheidungen zu treffen sind. Im Augenblick aber ist es so, als sei es geradezu beliebig, wie und ob eine Abstimmung stattfindet; hier ein Referendum und anderswo entscheidet nach altem Brauch vielleicht der Erzbischof, dort der Fürst, dort der Rat der Alten Männer. Eine Europäische Republik, welch großartiger Traum; die Europäer machen gemeinsame Sache, geben sich eine Verfassung: Ganz gleich, was ihre unterschiedlichen Traditionen sind, ganz gleich, was ihre politische Orientierung ist: An diesem Tag hätte jeder eine Stimme.
Am Abend des 29. Mai schien es in Paris so, als sei das "Nein" der Menschen eine Absage an die vermeintlichen politischen Experten, auch eine Absage an die Medien, die konzertierte Propaganda für das "Ja", als sei es vor allem eine Lust, sich nicht als Stimmvieh missbrauchen zu lassen, sich nicht die Spielregeln diktieren zu lassen, eine Lust an der Gewalt der souveränen Entscheidung. Manch einer bemühte wiederum das Wort vom "politischen Erdbeben." Doch von nahem besehen war es, gerade angesichts der hohen Abstimmungsbeteiligung, ein routiniertes, fast schon gelangweiltes Abwinken.
Ludger Schwarte ist zur Zeit Professeur Invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
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