Das Branding ist schon einmal super: kein hässlicher Trailer, keine aufwendige Selbstrepräsentanz; stattdessen ein fauchender Leopard, der vor jeder Vorstellung in seiner gelb-schwarzen Eleganz über die Leinwand schleicht, die Aufmerksamkeit bündelt und einen in einem aufgeweckten Zustand in das Filmerlebnis entlässt.
Seit mittlerweile sechs Jahren fahre ich zum Internationalen Filmfestival von Locarno. Dass sich der Stellenwert des Festivals in dieser Zeit enorm verändert hat, kann ich an den Reaktionen der Zuhausebleibenden ablesen. In den ersten Jahren wurde ich höchstens darum beneidet, eine Woche im sommerlichen Tessin verbringen zu können (aber: die Schweizer Preise! Und: Das Wetter ist ja auch nicht immer stabil). Inzwischen werde ich schon vorab für die vielen großartigen Filme beglückwünscht, die ich in der Südschweiz zu sehen bekommen werde. Und zwangsläufig bleiben Jahr für Jahr weniger der Kollegen zu Hause.
Verändert hat sich in den sechs Jahren tatsächlich einiges. Wo die Kuratoren früher vor allem aufgesammelt hatten, was bei den großen Festivals (oft aus guten Gründen) unter den Tisch gefallen war, geht das aktuelle Team um Leiter Carlo Chatrian und Programmchef Mark Peranson bewusst Risiken ein. Bestes Beispiel ist der diesjährige Gewinner des Goldenen Leoparden: From What Is Before, das neue Epos des philippinischen Autorenfilmers Lav Diaz, ist ein fast sechsstündiges Schwarzweißdrama über die Notstandsgesetze, die der Diktator Ferdinand Marcos im Heimatland des Regisseurs in den 70er Jahren ausgerufen hatte.
Diaz, Straub, Besson
Die Berlinale hätte diesen Film bestenfalls in den dunkelsten Ecken der Nebensektionen vergraben, in Locarno wird Diaz gefeiert. Wobei es dem Festival ganz und gar nicht um cinephilen Extremsport, um eine grundsätzliche Präferenz fürs Sperrige geht. Eher arbeitet man in Locarno an einem im besten Sinne eklektizistischen Begriff von Kino. Zunächst einmal sind alle Formen des Bewegtbilds unserer Aufmerksamkeit würdig, Entdeckungen gibt es fast überall zu machen, und oftmals kommunizieren gerade Filme besonders gut miteinander, die auf den ersten Blick kaum etwas gemein haben. Und so kann in Locarno, zum Beispiel, populäres Kino aus Hongkong (Tsui Harks Blockbuster Young Detective Dee: Rise of the Sea Dragon) unvermittelt auf gleich drei neue Arbeiten des immer noch lebhaften Über-Brechtianers Jean-Marie Straub treffen. Selbst der Eröffnungsfilm Lucy fügt sich in dieses Programm – ein eigensinnigerer Mainstreamfilm als Luc Bessons The-Tree-of-Life-Variation, in der Scarlett Johansson über Entwicklungsgeschichte, Stammesgeschichte, Raum und Zeit gebietet, dürfte dieses Jahr schwer aufzutreiben sein.
Vielleicht gab Lucy, gerade in den deutschen Kinos gestartet, sogar eine Art Thema für die diesjährige Auswahl vor: Wieder und wieder konnte man in den Filmen Figuren begegnen, deren Narzissmus gigantische, schließlich selbstzerstörerische Ausmaße annimmt. Ein Höhepunkt des Wettbewerbs war, nicht nur in dieser Hinsicht, Alex Ross Perrys Philip-Roth-Umsetzung Listen Up Philip: Jason Schwartzman bewegt sich als absolut unerträglicher junger Erfolgsautor Philip Lewis Friedman durch ein sommerliches, wunderschön fotografiertes New York, sabotiert die Beziehung zu seiner Freundin (toll: Elisabeth Moss aus Mad Men) fast schon systematisch und freundet sich schließlich mit einem älteren Schriftsteller an, dem kaum weniger unerträglichen Ike Zimmerman (einem offensichtlichen Doppelgänger von Roths Alter Ego Nathan Zuckerman). Es gibt keinen Ausweg aus dem filigran konstruierten Selbstgefängnis, nicht in der pompös beschworenen Ausgrenzung des Sommersitzes, nicht beim Lehrauftrag am Provinzcollege, wo der anfängliche professionelle Enthusiasmus bald von Intrigenspielen im Kollegenkreis erstickt wird. Je mehr man sich seinen Mitmenschen überlegen fühlt, desto mehr ist man auf ihre Bewunderung angewiesen, durch die sich die Überlegenheit erst realisiert: „Ich möchte, dass du meine Melancholie kontextualisierst“, meint Friedman einmal zu einer seiner Gespielinnen.
Normalität, Paranoia
Nach solchen literarischen Exzessen schaut man sich am besten einen Film wie Buzzard von Joel Potrykus an. Die Hauptfigur Marty Jackitansky (allein wegen seiner Augenringe sehenswert: Joshua Burge), ein Bankangestellter, der seine Zeit mit zunehmend beknackteren Modellen, Geld zu verdienen, verbringt, ist kaum weniger selbstbezogen als Perrys Philip. Unglücklicherweise findet Marty Jackitansky kein geeignetes Ventil für seinen Narzissmus, sondern flüchtet sich, als eines seiner Modelle aufzufliegen droht, erst in Wahnvorstellungen, dann in den Hobbykeller des kaum weniger erbärmlichen Kollegen – und macht sich schließlich auf nach Detroit, wo er eine Odyssee durch heruntergekommene Motels, Fast-Food-Restaurants und Elektronikfachgeschäfte antritt. Auch das konnte man in Locarno miterleben: einen klarsichtigen Blick auf die USA der Gegenwart, durch die Augen eines asozialen Paranoikers.
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