Achtung: Der folgende Text ist in mindestens zweifacher Hinsicht selbstreferentiell. Vergangene Woche stand auf der Titelseite des "Freitag" ein Zitat von mir. "Wir werden von einem Kindergarten regiert", stand da als Zusammenfassung meines Textes über den Abgang von Michael Glos und klein darunter: lukasheinser.Als erstes rief mich meine Mutter an, um zu fragen, ob ich das denn schon gesehen hätte (hatte ich nicht), dann trudelten E-Mails von Freunden und Bekannten ein, die die Titelseite (manchmal auch sich selbst mit der Titelseite) fotografiert hatten. In diesem Moment wurde mir klar: Print ist noch lange nicht tot, Print hat immer noch eine Sonderrolle.
"Einmal alles" als JFK starb
Obwohl Mutter, Freunde und Bekannte alle durchaus aktiv im Internet unterwegs sind, sind derartige Reaktionen eher selten, wenn mein Name irgendwo online fällt. Vielleicht liegt das daran, dass ich ständig im Internet schreibe. Vielleicht aber auch daran, dass gedruckte Wörter für viele Menschen immer noch etwas Besonderes sind. Nachdem Barack Obama zum US-Präsidenten gewählt worden war, standen die Menschen Schlange, um Zeitungen von diesem historischen Tag zu erstehen. Ich selber habe an jenem Tag (zur großen Verwunderung und finanziellen Freude meines Zeitungshändlers) "einmal alles" gekauft und gut verstaut. Seit mir mein Großvater die deutschen Zeitungsberichte von der Ermordung John F. Kennedys gezeigt hat, bin ich milde besessen von dem Gedanken, meinen Enkelkindern später auch einmal historische Dokumente in die Hand geben zu können. Und ich glaube nicht einmal, dass ich ihnen dann erklären müsste, was diese "Zeitungen" eigentlich waren.
Ob ich meinen Namen auf dem Bildschirm sehen kann, weil ich ihn gerade in Word getippt habe, oder weil er in einem Blog oder einem Nachrichtenportal erwähnt wird, macht für mich technisch und medial keinen Unterschied. Dass ihn im zweiten Fall (zumindest theoretisch) Milliarden Menschen in aller Welt lesen könnten, ist ein viel zu abstrakter Gedanke, um ihn länger zu verfolgen. Aber wenn ich an jedem Bahnhofskiosk eine Zeitung sehe, in (oder gar auf) der mein Name steht, dann ist das plötzlich sehr konkret - und irgendwie auch beunruhigend. Dabei ist der Verbreitungsgrad offenbar weit weniger entscheidend als das Medium: Einige Blogs haben bedeutend höhere Leserzahlen als so mancher Lokalteil und trotzdem erzählen mir Menschen, die sich in ihrer Stadt politisch oder gesellschaftlich engagieren, dass sie sich online die Finger wund schreiben könnten - ab dem Moment, wo ihr Gesicht in der Zeitung zu sehen war, werden sie von Fremden angesprochen und von Freunden gefragt, ob sie jetzt wichtig seien.
iPod mit Spritzmilchschutz
Natürlich liest man in Zeitungen mitunter viel Schund (online übrigens noch mehr, einfach weil es online keine Platzbeschränkungen und weniger redaktionelle Kontrolle gibt), der am nächsten Tag im Altpapier landet. Aber gute und interessante Artikel schneide ich mir aus und lege sie in dem Bewusstsein weg, sie vermutlich nie wieder zu lesen. Aber ich könnte ja. Ich habe online großartige Texte gelesen, die theoretisch ohne eigenes Zutun für immer archiviert sind, aber sie sind in dem Moment aus meinem Leben verschwunden, in dem ich auf das kleine "X" im Browserfenster klicke. Früher habe ich immer gesagt, ich würde am Frühstückstisch immer die Zeitung lesen, weil die Milch in meiner Müslischale und mein Laptop sich vermutlich nicht gut vertrügen. Inzwischen habe ich einen (spritzmilchgeschützen) iPod touch und sitze in der Tat manchmal beim Frühstück und versuche gleichzeitig, einen Artikel im Internet zu lesen. Aber es ist nicht das selbe: In Zeitungen lese ich auch Artikel, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie mich interessieren könnten. Aus dem einfachen Grund, dass sie da waren, als meine Augen über die Seite wanderten. Online überfliege ich meist die Überschriften und Vorspänne auf der Startseite und habe meine Lektüre damit abgeschlossen. Bücher auf kleinen elektronischen Displays zu lesen, möchte ich für mich ausschließen. Natürlich weiß ich nicht, inwiefern ich mit meiner Begeisterung für gedrucktes Papier alleine dastehe, und wie vielen Leuten es egal wäre, wenn es plötzlich keine Zeitungen mehr gäbe. Aber ich glaube trotz der großen Krise an die Zeitung als Konzept. An manch andere Medien glaube ich weniger: In seinem Roman "Jahrestage" nutzt Uwe Johnson die "New York Times" als Kontextgeber, als verlässliche Stütze im Alltag seiner Hauptpersonen, als zweite (bzw. dritte, vierte) Erzählerstimme. In Daniel Kehlmanns mittelgutem neuen Roman "Ruhm" bezieht sich der Autor mehrere Male auf YouTube, Wikipedia und Internetforen.Während ich der festen Überzeugung bin, dass "Jahrestage" auch in hundert Jahren noch verständlich sein wird, bin ich mir nicht sicher, ob Leser von "Ruhm" in zehn Jahren noch vollständig verstehen werden, wovon da eigentlich die Rede ist.
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