Lutz Seiler, Eugen Ruge, Uwe Tellkamp feierten mit DDR-Romanen große Erfolge. Marko Martin ist 1970 ebenfalls in Sachsen geboren, er verweigerte den Dienst in der NVA und reiste mit der Familie noch vor der Wende aus. Er hat jedoch nicht die Nerven, sich akribisch mit historischen Details einer vergangenen Epoche zu beschäftigen. Sein Werk feiert eher die Vielfalt in der globalen Gegenwart, als dass es versucht, einen Ausdruck für vergangene, lokale Tristesse zu finden.
Martins aktuelles Buch Madiba Days schildert Eindrücke einer einwöchigen Reise nach Südafrika im Dezember 2013. Braucht es das? Was ist von Reisetagebüchern denn noch zu erwarten, da Reisen recht einfach geworden ist und Bilder vom anderen Ende der Welt unverzüglich abgerufen werden können? Die Ereignisse dieser einen Woche werden auf 320 Seiten wiedergegeben, die auch noch viel zu dicht bedruckt sind. Eine sperrige Lektüre.
Südafrika, 5. 12. 2013
Ein paar Anekdoten, Assoziationen oder Dialoge mit Rezeptionisten hätten durchaus weggelassen werden können. Die Erzählweise in der zweiten Person Singular macht das Buch auch nicht konsumierbarer. Trotzdem lohnt es sich durchzuhalten. Auf fesselnde Weise skizziert Marko Martin Ereignisse aus der Geschichte der Apartheid und der afrikanischen Dekolonialisierung. Er porträtiert wichtige Figuren des Widerstands wie den jüdischen Anwalt Albie Sachs, auf den der südafrikanische Geheimdienst 1988 in Mosambik ein Attentat verübt hat und der später Verfassungsrichter geworden ist. Marko, Protagonist des Buchs und Alter Ego des Autors, ist im Land, als Nelson Mandela stirbt. Mandelas Tod und das darauffolgende globale Medienspektakel rühren ihn aber eher wenig an. Zu den Pointen von Madiba Days gehört es auch, dass von der Trauer in den Straßen, Kneipen und Clubs in Kapstadt wenig zu sehen ist. Der Ausnahmezustand in den sozialen Netzwerken aller Länder fand dort kein Äquivalent. Trotzdem kann ein Kapitel auch als feierlicher Nachruf gelesen werden.
Am 5. Dezember, Mandelas Todestag, findet in dem Hotel, in dem auch Marko wohnt, ein Gesundheitskongress statt. Dort kommen Anti-Aids-Aktivisten und Aktivisten für die Rechte Homosexueller aus ganz Afrika zusammen. Marko nimmt zu der Gruppe Kontakt auf. Er hat Sex mit einem Mann aus Uganda, der danach erzählt, wie sein Freund in seinem Heimatland ermordet worden ist, weil er für die Akzeptanz von Homosexualität gekämpft hat. Er trifft viele später in einem Schwulenclub wieder. Und auch hier hört er krasse Lebensgeschichten in der seltsamen Intimität der Zigarette danach: Al, ein Aktivist aus Namibia, erzählt, wie seine Eltern vor den internen Säuberungen der marxistischen Befreiungsbewegung SWAPO geflohen sind. Der Chef der Organisation, Samuel Nujoma, wird später der erste Präsident des unabhängigen Namibia.
Madiba Days hat wenig mit Berghain-Prosa gemein. Die Lesenden werden zwar mal wieder in einen Club geführt, aber gleichzeitig mitten in die konfliktreiche afrikanische Geschichte. Vom Tod Mandelas erfährt Marko dann im Taxi auf dem Nachhauseweg, als im Radio Gimme Hope Jo’anna von Eddy Grant gespielt wird. Eine kurze Eloge endet mit einem Jürgen-Fuchs-Zitat: „Ja, es gibt sie, die demokratische Linke, die sich nicht verbiegen und korrumpieren lässt. Die den Menschen beisteht, anstatt ihnen Angst zu machen.“ Im Kontext des Buchs bezieht sich das nicht nur auf Mandela, sondern auf alle afrikanischen Aktivisten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, von denen zuvor ein dichtes Panorama gezogen worden ist. Die Begeisterung und der politische Optimismus hier wirken höchst ansteckend, die Lektüre macht Gänsehaut.
Die größte Qualität ist, wie hier die Heterogenität der südafrikanischen Gesellschaft entdeckt wird. Martin seziert die Sozialisation von Angehörigen der unterschiedlichen Generationen, Ethnien und Schichten. Dabei beweist er einen starken Sinn für Nuancen. Er teilt das Land nicht einfach ein in Arm und Reich, in unterprivilegierte, abergläubische Bewohner der Townships versus kleptokratische Politiker und Unternehmer. Nicht dass er diese beiden Pole nicht sähe. Er zeigt aber auch, was alles dazwischenliegt: Jan zum Beispiel ist ein erfolgreicher schwarzer Unternehmer. Zu Zeiten der Apartheid gehörte er den Regierungstruppen an und wurde in Auslandseinsätzen zur Stabilisierung diktatorischer Regime eingesetzt.
Linker Antikommunismus
Als Schwarzer hat Jan sich an den Verbrechen des Apartheidsstaats mitschuldig gemacht. Daher fordert er auch – was aus der deutschen Debatte über die NS-Vergangenheit nur allzu bekannt ist –, dass man einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Vergangenheit setzen soll. Einen Abend verbringt Marko mit dem Paar Francis und Manuel. Beide sind sogenannte coloureds, Südafrikaner, die weder richtig „weiß“ noch richtig „schwarz“ sind. Francis ist indischer, Manuel griechisch-portugiesischer Abstammung. In einer kleiner Wohnung innerhalb einer Gated Community führen sie ein schwules Mittelschichtsleben. Es wird nachgezeichnet, wie Südafrika die ethnische Segregation langsam überwindet und zu einer multikulturellen Gesellschaft zusammenwächst.
Marko Martin bezeichnet seine Homosexualität als „großes Privileg“. Für sein Schreiben, erzählt er in einem Berliner Café, vereinfache sie ihm die Recherche. Statt aktiv Nachforschungen anzustellen, lässt er sich durch die Schwulenszenen in aller Welt treiben. In seinen Büchern geht es immer auch um Sex. Er legt es aber eher selten darauf an, beim Leser eine Erektion zu erzielen. Als, wie er sagt, „Gast für eine Nacht“ erfährt er intime Details unfassbarer Lebensläufe. Sex ist da zwar ständig präsent, aber nicht das vordergründige Thema. Wenn man ihn auf die expliziten Szenen anspricht, scheint er fast peinlich berührt: „Für einen Koitus muss ich nicht nach Cape Town fahren. Die detaillierte Beschreibung von Stellungen interessiert mich auch nicht.“ Martin schildert zwar schamlos, was alles passiert zwischen zwei, drei oder vier Männern. Das Entscheidende ist aber stets das Gespräch bei der postkoitalen Zigarette.
In einer Erzählung aus dem Buch Die Nacht von San Salvador findet sich der Protagonist Daniel in der Schwulenszene Syriens wieder. Er nimmt an einer Orgie in einem Hamam in Damaskus teil. Ein junger Alawit spricht ihm gegenüber davon, wie er den Geheimdienst in seinem Nacken spürt. Die aus staatlicher Willkür und fehlender Rechtssicherheit resultierende Angst wird spürbar. In dem Erzählband Schlafende Hunde legt Martin ein Psychogramm eines politischen Gefangenen in der DDR vor, der von der Stasi verhört und vermutlich gefoltert worden ist. In den 90er Jahren arbeitet der Mann als Führer in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Er ist traumatisiert und leidet unter extremer Schüchternheit. Seine Homosexualität lebt er nicht offen aus. Das Kaputte und zugleich subtil Heroische dieses Charakters ist sehr berührend.
Marko Martin identifiziert sich mit einer Tradition des linken Antikommunismus. Davon zeugt Treffpunkt ’89, das vergangenes Jahr zum Jubiläum des Mauerfalls erschien. Es enthält Porträts von Intellektuellen, darunter Václav Havel, die polnischen Publizisten Adam Michnik und Jerzy Giedroyc und ein wenig in Vergessenheit geratene Schriftsteller wie Manès Sperber oder Arthur Koestler. Alles Personen, die im Zeitalter der Systemkonkurrenz einen kühlen Kopf bewahrt haben, die harte Gegner der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa waren, ohne sich mit den westeuropäischen Konservativen gemein zu machen. Die Begeisterung für diese großen Charismatiker überträgt sich auf die Leser. Den Köpfen der friedlichen Revolution scheint Martin mitunter persönlich für ihren Mut danken zu wollen.
Ansteckend ist auch der Enthusiasmus von Marko Martins Buch über Israel, Kosmos Tel Aviv, das Schriftstellerporträts, Reportagen und Kommentare versammelt. Wie in seinem Südafrika-Buch zeichnet Martin die kulturelle Vielfalt des Landes nach. Wir erfahren von äthiopischen Einwanderern, die Ende der 70er Jahre eine extrem gefährliche Flucht auf sich genommen haben. Eine lange Reportage handelt von der russischstämmigen Bevölkerung, die in großer Zahl die rechte Partei Israel Beitenu von Avgidor Lieberman wählt, die unter anderem die Siedler unterstützt. Er porträtiert junge arabischstämmige, israelische Intellektuelle. Das Buch versöhnt Multikultiromantik mit einem geschärften Bewusstsein für die inneren Konflikte des Landes. Emphatisch verteidigt er den jüdischen Staat gegen linksliberale Antizionistinnen wie Judith Butler und die Anhänger der Anti-Israel-Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“.
Unter den zeitgenössischen Schriftstellern speist wohl kaum einer sein Schreiben so sehr aus eigenen sinnlichen Erfahrungen und Erlebnissen. Marko Martin exponiert sich, aber nicht etwa, um seine eigenen Krisen breitzutreten, sondern um die Geschichten anderer zu erzählen. Der Vorwurf, in der deutschen Literatur schrieben zu viele behütete Ärztekinder, betrifft ihn bestimmt nicht. Ein Betrieb, der ständig über seine eigene Homogenität lamentiert, sollte öfter jemanden wie Marko Martin lesen.
Info
Madiba Days. Eine südafrikanische Reise Marko Martin Wehrhahn 2015, 328 S., 22,80 €
Treffpunkt ’89 Marko Martin Wehrhahn 2014, (2. Aufl.), 320 S., 22,80 €
Die Nacht von San Salvador Marko Martin Die Andere Bibliothek 2013, 500 S., 38 €
Kosmos Tel Aviv Marko Martin Wehrhahn 2013, 234 S., 19,80€
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