Bis zu seinem Nobelpreis kannten Patrick Modiano nur wenige. Seine Bücher lebten auch vom Charme des unentdeckten Autors. Kostbar erscheint uns Literatur ja oft, wenn sie nur einem eingeweihten Zirkel bekannt ist. Die Kehrseite davon: Viele Bücher bleiben natürlich unübersetzt. Es könnte sein, dass sich das nun ändert. Modianos letzter Roman, Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier, ist in Frankreich vergangenen Herbst erschienen. Eine deutsche Übersetzung kommt im diesjährigen Herbstprogramm bei Hanser.
Modianos Geheimnis ist seinen Fans bekannt: In seinen zahlreichen Romanen umkreist er stets ähnliche Vorstellungswelten, aber jeder Text erschließt neue Formen unaufgelöster Mehrdeutigkeit. Modiano beherrscht ein großes Register von Unklarheit schaffenden Andeutungen und beredten Auslassungen. Der Running Gag seiner Romane besteht darin, dass sich ein Modiano selbst ähnelnder Ich-Erzähler als Krimi-Autor vorstellt. Das ist auch deshalb lustig, weil sein ästhetisches Programm das Gegenteil einer Detektivgeschichte ist. Hier werden keine Geheimnisse gelöst, sondern immer mehr seltsame Puzzles angesammelt.
Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier beginnt damit, dass im Jahr 2012 der Schriftsteller Daragane, Jahrgang 1945, von Gilles Ottolini kontaktiert wird. Ottolini will eine Person gekannt haben, die in Daraganes 1970 erschienenem Erstlingsroman erwähnt wird. Ottolini bittet Daragane um Auskünfte, der kann sich an den Inhalt des Romans und an die Zeit seiner Niederschrift fast gar nicht mehr erinnern. Die Kontaktaufnahme wird für Daragane zum Anlass, seine Jugend zu reflektieren: Er ist mit der etwa zehn Jahre älteren Annie in dem Ort Saint-Leu-la-Forêt aufgewachsen, vermutlich sind sie nicht verwandt. Sie ist gleichzeitig eine Art Ersatzmutter, Ersatzschwester und Jugendliebe. Die beiden verlieren sich aus den Augen. Warum und wann dies geschieht, bleibt unklar. Daragane schreibt den Roman, um irgendwie den Kontakt wiederherzustellen. Die Publikation soll ein „Leuchtturm-Signal“ an Annie sein. Der Plan geht auf, kurz nach dem Erscheinen treffen sie sich. Danach verlieren sie sich erneut aus den Augen.
Auch im Zentrum des ebenfalls noch unübersetzten Romans Un cirque passe (1992) steht eine geheimnisvolle Zweierbeziehung. Der 18-jährige Ich-Erzähler muss aus irgendeinem Grund bei der Polizei aussagen. Als er das Büro verlässt, tritt eine junge Frau ein. Auf sie, Gisèle, wartet er in einem Café vor dem Gebäude. Als sie herauskommt, ruft er sie zu sich. Die beiden verbringen den größten Teil der nächsten vier Tage miteinander, Gisèle führt die meiste Zeit einen großen Koffer mit unbekanntem Inhalt und einen Hund mit sich. Angeblich hat sie eine Wohnung in dem Vorort Saint-Leu-la-Forêt, sie schläft jedoch entweder beim Erzähler, oder beide schlafen in einer Pension. In keiner dargestellten Szene erzählen sie sich Gehaltvolles über ihre Herkunft; sie tun dennoch so, als wären sie wie selbstverständlich in einer Beziehung. Nur einmal sieht der Leser, wie sie sich küssen. Gegen Ende des Romans fragt Gisèle den Erzähler einmal, ob sie ihn liebe. Die Antwort wird nicht übermittelt.
Zwei Bekannte Gisèles, Jacques de Bavières und Pierre Ansart, spannen das Paar in ein Komplott ein. Sie sollen an einem bestimmten Tag eine bestimmte Person in einem Café ansprechen und ihr sagen, dass Pierre Ansart in einem Auto an der nächsten Straßenecke auf sie wartet. Sie bekommen im Voraus viel Geld dafür und tun es. Der Café-Besucher steigt in das Auto, sie fahren zu dritt weg, und beide Bekannten sind nun aus Paris verschwunden. Gisèle und der Erzähler haben Angst, nun in ein Mord- oder Entführungskomplott verwickelt zu sein. Sowieso wollen sie gemeinsam nach Rom ziehen, jetzt aber so schnell wie möglich. Einem Gespräch mit einem Kommissar kann der Erzähler doch nicht aus dem Weg gehen. Dieser sagt ihm, seine Freundin heiße in Wahrheit Suzanne Kraay und arbeite als Prostituierte. Der Erzähler verhält sich zu Gisèle weiterhin wie zuvor, der Grund für seine Gleichgültigkeit bleibt offen. Suzanne, die von dem Gespräch mit dem Polizisten weiß, fühlt sich aber ertappt. Sie stirbt später bei einem Autounfall. Der Erzähler erfährt davon an der Rezeption der Pension.
Beide Romane sind zarte Liebesgeschichten. In beiden Fällen legt Modiano ein vollendet scheinendes Werk vor, in dem dennoch viele Zusammenhänge offenbleiben. Liest man sie nacheinander, sieht man, wie Modiano über 22 Jahre sein Handwerk verfeinert hat. Die Ambiguitäten seines jüngsten Romans sind noch einmal zahlreicher und nuancierter geworden. Neben diesen Texten wirkt der Roman Quartier perdu von 1984 langweilig. Ein in Frankreich aufgewachsener, in England lebender und sehr erfolgreich englisch schreibender Krimi-Autor kehrt mit 40 Jahren nach Paris zurück, nachdem er dort 20 Jahre nicht mehr gewesen ist. Er sucht nach Spuren seiner Jugend. Der Plot ist linear, alle Ereignisse sind eindeutig erzählt.
Äußerst wünschenswert wäre dagegen eine Übersetzung von De si braves garҫons (1982). Ein Ich-Erzähler erinnert 20 Jahre nach seinem Schulabschluss seine Internatszeit in dem kleinen Ort Valvert. In jedem Kapitel werden einzelne Geschichten rekonstruiert, in denen das Internat mal eine große, mal eine marginale Bedeutung hat. Die assoziative Erzählstruktur, die an W. G. Sebald denken lässt (der erst Jahre später debütierte), bereitet großes Vergnügen: Vor keinem Kapitel weiß man, ob die folgende Geschichte in der Zwischenkriegszeit, der Zeit der Besatzung oder in den 1980ern spielt, ob die auftretenden Protagonisten jugendlich oder gebrechlich sein werden. Das kürzeste Kapitel ist auch das erschütterndste: Der sportliche und gut aussehende Kurt verlässt als Jude Österreich 1938 mit seiner Großmutter. Bis 1940 ist er Schüler in Valvert, die Großmutter geht nach dem deutschen Einmarsch in die USA. Auch er hätte dazu die Möglichkeit, will aber in Paris bleiben. Der Plan, im unbesetzten Frankreich als Skilehrer zu arbeiten, geht nicht auf. Ironischerweise kann er, der „Nicht-Arier“, als Model einmal ein wenig Geld verdienen. Als Vogelfreier wird er schließlich ermordet.
Die zu Anfang geweckte Erwartung, dass im Roman eine schöne, unbeschwerte Internatsjugend rekonstruiert wird, wird stetig untergraben. Stattdessen lauern überall gebrochene Existenzen, im vorletzten Kapitel löst sich selbst die Identität des Ich-Erzählers auf. Über das ganze Buch hinweg hat man mühsam zusammengetragen, dass der Erzähler Patrick heiße, am 19. Juli 1945 geboren und Krimi-Autor sei; im letzten Kapitel heißt der Erzähler Edmond und ist Schauspieler. Die Lesart, der Erzähler könnte in jedem Kapitel ein anderer sein, eröffnet eine schöne Schlusspointe. Gerade in diesem Buch zeigt sich, dass Modianos ausgereifte Erzähltechniken nicht nur Spielereien hervorbringen. Denn durch sie werden berührende und aufwühlende Lebensgeschichten katalysiert. Sie sind auch deshalb so mitreißend, weil das Zeitgeschehen als Hintergrundrauschen immer präsent ist.
Verloren, lost, perdu
Wie ein Roman liest sich auch das 120-seitige Gespräch mit dem Journalisten und Schriftsteller Emmanuel Berl (1892 – 1976), das die beiden in dessen Todesjahr geführt haben. Emmanuel Berl ist in der Atmosphäre der Dreyfus-Affäre aufgewachsen, im Ersten Weltkrieg wird er schwer verwundet. In der Zwischenkriegszeit ist er mit etlichen französischen Spitzenpolitikern bekannt, auch mit denen, die den Juden Berl unter deutscher Besatzung töten wollen. 1941 überzeugt ihn ein Mitglied der Vichy-Regierung sogar persönlich, sich als Jude registrieren zu lassen. Die meiste Zeit der Besatzung über versteckt er sich in einem kleinen Dorf.
Gemeinsam lästern Modiano und Berl über den Antisemitismus von André Gide. Dagegen hätte Modiano interessanterweise dem Schriftsteller Pierre Drieu La Rochelle, der in den 40er Jahren antisemitische Texte publizierte, gern verziehen, seinen Suizid im Jahr 1945 empfindet er als schmerzhaften Verlust. Für den Buchrücken einer deutschen Ausgabe von Emmanuel Berl wäre dies vielleicht eine Pressestimme: „In dem Gespräch wird die Tragödie der Lost Generation, der auch Walter Benjamin und Ernest Hemingway angehörten, so anschaulich dokumentiert, wie man es sonst kaum zu lesen findet.“
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