Wenig Plot, viel Tiefe

Markt Verlage lassen Bücher oft intern begutachten – unser Autor Lukas Latz ist darin geübt. Sein Zeugnis für Rachel Cusks Roman „Outline“
Ausgabe 09/2016

Thema

Keins. Zumindest kein eindeutiges. Es geht viel um Partnerschaft, das Älterwerden und den damit verbundenen Verlust an Kreativität und Freiheit. Mit etwas Gewalt ließe sich der Roman auch als feministisches Buch labeln. In sehr vielen Gesprächen unter den Romanfiguren werden Gender-Fragen thematisiert; die Figuren beschäftigen sich vor allem mit weiblichen Erfahrungen. Der Roman ist experimentell. Als Thema könnte auch eine Krise des fiktionalen Erzählens benannt werden.

Handlung

Auch keine. Zumindest keine, die sich gut zusammenfassen lässt. Das Setting ist London und Athen in den 2010er Jahren. Die Schriftstellerin Faye, eine Ich-Erzählerin, trifft sich mit einem milliardenschweren Software-Entwickler, der überlegt, eine Literaturzeitschrift zu gründen. In Athen gibt Faye ein Seminar in kreativem Schreiben. Dort kommt es zu vielen weiteren Gesprächen. In diesen Gesprächen kommt es oftmals zu Schilderungen von anderen Gesprächen. Dabei werden zumeist die Lebensgeschichten der Sprechenden kurz skizziert. Die Ich-Erzählerin ist fast nur Zuhörerin. In dieser Hinsicht ist Outline eine spannende écriture féminine. In Deutschland kennt man einen ähnlichen Stil von Brigitte Kronauer. In ihrem Roman Rita Münster bleibt die gleichnamige Protagonistin über weite Strecken völlig blass. Sie hört fast immer nur ihren Freunden zu. Dabei erfährt man nichts über sie selbst. So ist es auch bei Faye. Wir erfahren nur, dass sie zweifache Mutter ist und vom Vater der Kinder seit drei Jahren getrennt lebt.

Figuren

Der Nachbar: Sie sitzt im Flugzeug neben einem Mann, der Mitte 50 oder älter ist. Er wird „der Nachbar“ genannt. Der Nachbar entstammt einer reichen griechischen Reeder-Familie. Er erzählt ausführlich von seinen drei Ehen. Nach dem Gespräch im Flugzeug treffen sich beide noch zweimal zu einer Bootsfahrt im Mittelmeer. Er versucht, Faye zu küssen. Sie will nicht. Nach seinem Versuch, sie zu küssen, spielt er vor ihren Augen mit einem Taschenmesser. Wir erfahren nicht, ob sich Faye davon bedroht fühlt. Am gleichen Abend schreibt er eine SMS, er vermisse sie. Kurz vor ihrer Rückreise ruft er sie noch mal an. Sie hält ihn auf Distanz.

Ryan: Ein Ire, Anfang 40, der wie Faye in Athen ein Schreibseminar gibt. In Irland fühlte er sich lange durchschnittlich. Seine glücklichste Zeit war das Creative-Writing-Studium in den USA. Hier hat er Kurzgeschichten geschrieben und sein Übergewicht abtrainiert. Hohe Bedeutung für ihn erhält das Fitnessstudio der Universität. Dort befindet sich ein Stepper mit Lesevorrichtung. Es ist für ihn der ideale Ort für seine aktuellen Selbstoptimierungsversuche. Ryan trinkt viel. Er geht jungen Kellnerinnen auf die Nerven.

Angeliki: Feministische Schriftstellerin, Ehefrau eines Diplomaten. Sie hat einen erfolgreichen Roman geschrieben über eine Malerin in Berlin, die auch Ehefrau eines Diplomaten ist. In dem Buch geht es darum, wie die Frau versucht, sich in der Berliner Künstlerszene zu etablieren und unabhängig zu werden. Angeliki hat zwei Kinder und ein Enkelkind. Die Veröffentlichung ihres Romans war wie eine Neugeburt für sie. Plötzlich ist sie eine gefragte feministische Stimme geworden.

Anne: Am Tag von Fayes Abreise kommt Anne in die Wohnung, in der Faye vorübergehend wohnt . Sie gibt auch einen Kurs in kreativem Schreiben. Sie wirkt neurotisch oder traumatisiert davon, dass sie in London brutal überfallen wurde. Sie hat Geldprobleme sowie eine Schreibkrise. Spricht von der gebrochenen Beziehung zu einem Mann, unter der sie sehr leidet.

Form

Das Buch besteht fast ausschließlich aus Dialogen. Die Autorin verwendet direkte Rede und Anführungszeichen, direkte Rede ohne Anführungszeichen und indirekte Rede. Zeilenumbrüche, die das Ende eines Redebeitrags markieren, fehlen. So entstehen regelmäßig Ambiguitäten. Oft ist nicht klar, wer spricht und wer zuhört. Verwirrung entsteht auch darüber, auf welcher Ebene etwas gesagt wird. Diese Ambiguitäten werden jedoch stets aufgelöst. Die kleinen Täuschungen über die Sprechsituation und die Erzählebene sind unterhaltsam. Kommen sie zu oft vor, wird die Lektüre langweilig.

Eine ähnliche Verwirrung betreibt die Autorin auch in der Darstellung von Zeiträumen. Beispiel: Bei Angeliki denkt man lange, sie sei Mutter junger Kinder. Dabei ist sie schon Großmutter. Eine Lesereise durch Polen erhält in ihrer Lebensgeschichte ähnlich viel Raum wie Berlin, wo sie mehrere Jahre gelebt hat.

Anne, die Schriftstellerin, hält das Zusammenfassen für die Ursache ihrer Schreibkrise. Mit dem kurzen Zusammenfassen einer Erzählsituation scheint ihr die ganze Geschichte bereits überflüssig. Die Kunst des Zusammenfassens erweist sich für den Roman aber als sehr produktives Konstruktionsprinzip. Beispiele: Ryans Lebensgeschichte (Gefühl des Durchschnittlichseins in Irland, Hoffnung und Optimismus in den USA, überwiegendes Scheitern der Lebens- und Karrierepläne zurück in Irland) ist mit dem Schlagwort „Stepper, der das Treppensteigen simuliert“ pointiert zusammengefasst; die Aufwärtsbewegung in seinem Leben war irgendwie nur fiktiv. In der 50-jährigen Ehe von Theo und Irini – Onkel und Tante des „Nachbarn“ – symbolisiert die Warze auf Irinis Nase das heteronormative Gefängnis, in dem die beiden sich eingerichtet haben, mit Hass aufeinander und Drang zur Untreue.

Diese Kunst des Zusammenfassens kann verstanden werden als Gegenprojekt zum exzessiven Erzählen von Karl Ove Knausgård, den Rachel Cusk zugleich sehr bewundert. Statt wie Knausgård die eigene Lebensgeschichte über Tausende von Seiten auszuwalzen, beschreibt Cusk Lebensgeschichten in wenigen Sätzen. Diese knappen Skizzen werfen aber ein sehr starkes Licht auf die Personen. Sie beschäftigen die Einbildungskraft. Von dieser Art des Erzählens bin ich begeistert.

Urteil

Der Roman ist verspielt und experimentell. Zwischen den Zeilen sehe ich darüber hinaus viel zeitdiagnostische Brisanz. Allein das Setting, London und Athen, ist sprechend. Beide Orte sind zentrale Schauplätze derzeitiger europäischer Krisen. Athen muss sich der Währungsunion beugen. London zieht einen EU-Austritt in Erwägung. In dem Roman finden sich zwar keine expliziten Reminiszenzen ans Politische. Es geht aber nicht nur um eine Krise fiktionalen Erzählens nach Knausgård. Auf fast jeder Seite des Buches liest man von persönlichen und gesellschaftlichen Krisen. In den Enttäuschungen der Figuren manifestieren sich nicht nur persönliche Schwächen. Es wird auch ein kleines subtiles Panorama von Europa in der Finanz- und Eurokrise gezeichnet.

Problematisch ist trotzdem, dass schon zwei Titel der Autorin, die bei Rowohlt erschienen sind, auf dem deutschen Buchmarkt ziemlich floppten. Da das Buch keine stringente Handlung und kein klares Thema hat, wird es vielleicht schwierig, einen guten Pitch dafür zu finden.

Votum

Ich wäre dafür, es zu verlegen! (Und Suhrkamp hat es ja auch gemacht. Outline sei der Auftakt zu einer Trilogie, zu einer „weiblichen Odyssee im 21. Jahrhundert ... ein Roman über Liebe, Verlust, Erinnerung und den Drang, den anderen und sich selbst Geschichten zu erzählen“, heißt es in der Verlagswerbung. Das Buch, 235 Seiten, 19,95 Euro, erscheint am 7. März.)

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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