Die Erregung über die Rede des russischen Premiers Dmitri Medwedjew auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz war noch nicht verebbt, da erreichte deren Teilnehmer vor gut einer Woche die Nachricht vom Telefonat zwischen Barack Obama und Wladimir Putin. Die Rede war von einem gemeinsamen Plädoyer für eine belastbare Waffenruhe im Raum Aleppo und darüber hinaus.
In der aufgeheizten Atmosphäre des Münchner Treffens und den teils hysterischen Debatten über die russische Luftunterstützung für die Assad-Armee kam die Verständigung einem Eingeständnis gleich. An Russland führt in der Syrien-Krise kein Weg mehr vorbei, was nicht nur der wirren westlichen Politik geschuldet ist: Den IS bekämpfen, aber natürlich de
mpfen, aber natürlich den IS-Gegner Assad auch! Dass bei Obama Hang und Zwang zur Realpolitik wieder mehr zum Zug kommen, hat auch etwas mit dem sich wandelnden Kräfteverhältnis zwischen den Konfliktparteien in der Provinz Aleppo wie in Nordsyrien überhaupt zu tun. Vom Belagerungsring der Regierungsstreitkräfte und ihrer Alliierten um die von Anti-Assad-Formationen gehaltenen Viertel im Osten der Stadt Aleppo einmal abgesehen, gibt es einen Strategiewechsel der kurdischen Verbände. Diese verbuchen gleichfalls Terraingewinne und scheinen danach zu streben, ein geschlossenes Gebiet in Nordwestsyrien bis zur Grenze mit dem Irak zu beherrschen. Vollendete TatsachenVor diesem Hintergrund dürften sich Obama und Putin darüber ausgetauscht haben, dass die Türkei als weitere Kriegspartei in den Konflikt einsteigt, um genau das aufzuhalten. Um zu verhindern, dass die politische Führung der syrischen Kurden – verkörpert durch die Partei der Demokratischen Union (PYD) – vollendete Tatsachen schafft. Also hat die türkische Armee begonnen, Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungsmilizen YPG, des bewaffneten Arms der DYP, zu beschießen. Welches Eskalationspotenzial dieses Vorgehen birgt, bedarf keiner gesonderten Erklärung. Es reicht die Frage, ob Bodentruppen den Raketen und Artilleriegranaten folgen, um anzudeuten, was möglich ist. Eine solche Option lag für Ankara schon in der Luft, als die bewaffneten Übergriffe vor Wochenfrist begannen, mit denen ein NATO-Land die territoriale Integrität eines souveränen Staates verletzt, ohne dass etwa die deutsche Regierung daran übermäßig Anstoß nimmt, obwohl damit sowohl gegen die UN-Charta wie den NATO-Vertrag (1949) verstoßen wird. Nun aber stellt sich die Frage nach einer türkischen Intervention am Boden mehr denn je. Nach dem Attentat auf einen Militärkonvoi in Ankara am 17. Februar präsentierten Präsident Erdoğan und Premier Davutoğlu umgehend einen 23-jährigen syrischen Kurden als Täter, den die PYD ausgesandt und die PKK unterstützt habe. Man werde Vergeltung üben. Worin wird diese bestehen? Vermutlich doch in dem Versuch, die Lage in Nordsyrien so zu verändern, dass sie nicht länger den Kurden von Nutzen ist. Die dort errichteten autonomen Zonen werden in Ankara als Vorstufe kurdischer Staatlichkeit wahrgenommen. Sie können kurdische Bevölkerungsgruppen im Nordirak wie in der Türkei ermutigen, ihrem Selbstbestimmungsrecht ebenso Geltung zu verschaffen. Tayyip Erdoğan redet nicht erst seit dieser Woche über seinen Bodenkrieg in Syrien und dürfte sich darin bestärkt fühlen, seit die saudische Führung in die gleiche Richtung denkt. Riad will Truppen entsenden, sofern alle Mitglieder der Anti-IS-Koalition zustimmen. Dabei scheint es den türkischen Staatschef egal zu sein, dass er ein Zerwürfnis mit den Amerikanern riskiert, die kurdische Militäreinheiten – nicht zuletzt die der YPG – als effiziente Alliierte in ihrer Anti-IS-Allianz schätzen und in Maßen aufgerüstet haben. Offenkundig bleibt Erdoğan außer martialischen Sprüchen nur die Flucht nach vorn, um zu kaschieren, wie sehr er mit seiner Syrien-Strategie gescheitert sein wird, wenn dort der Regime- und Machtwechsel ausbleibt. Gemeinsamer UrlaubEin Blick zurück mag das verdeutlichen. Es gab Zeiten, in denen die Familien von Tayyip Erdoğan und Baschar al-Assad gemeinsame Urlaube verbrachten, Ankara solidarisierte sich in stramm antiisraelischer Diktion mit dem Verlangen Assads nach Rückgabe der seit 1967 okkupierten Golan-Höhen an Syrien – es wurde über eine Freihandelsunion gesprochen, über Syrien als Brücke für türkische Vorstöße in den arabischen Wirtschaftsraum. Als freilich in der Provinz Daraa vor fünf Jahren ein Aufstand gegen das Regime ausbrach, wurde in Ankara die 180-Grad-Wende vollzogen. In der Erwartung, der Sturz Assads sei nur eine Frage der Zeit, ließ man den „guten Freund“ in Damaskus fallen und wandte sich einer bewaffneten Opposition zu, deren militärisches Rückgrat zunächst die Muslimbruderschaft von Homs und Aleppo war. Das Kalkül: Sollte eine islamisch-sunnitische Macht in Damaskus übernehmen, würde Erdoğan islamisch-sunnitische Regierungspartei AKP der gebotene Schirmherr sein.Man träumte davon, in Syrien – einem Schlüsselstaat im Nahen Osten – regionalmächtig Fuß zu fassen. Doch je länger der Krieg dauerte, desto mehr wurde klar, dass es kein neo-osmanisches Trumpf-As geben würde. Spätesten seit dem Eingreifen Russlands dürfte der türkische Präsidenten endgültig begriffen haben, wie sehr er sich verkalkuliert hat.Doch wird es kein Ausweg sein, sich in einen Zwei-Fronten-Krieg gegen die Kurden zu flüchten – im Inneren gegen die PKK, in Nordsyrien gegen die dortige kurdische Autonomie.Drohender ZwischenfallErdoğan ist aus dem Windschatten der USA und der NATO herausgetreten, um sie zum Handeln zu treiben – dem direkten Eingreifen in Syrien. Denn: Kommt es zu einer erneuten Konfrontation zwischen türkischem und russischem Militär wie beim Abschuss eines Suchoi-Kampfjets 24. November 2015, würde die westliche Allianz wieder einmal auf der Schwelle zum Bündnisfall stehen. Und würder sie überschreiten. Bei einem von der Türkei provozierten Zwischenfalls werde sie sich "nicht in eine militärische Eskalation mit Russland hineinziehen lassen", lässt sich jedenfalls Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn zitieren.