Kampfbereitschaft und sanfter Größenwahn

Mut zum Ungehorsam Mein ´68 im deutschen Osten

Im Jahr 1968 ließ ich mich nicht gern fotografieren, von meinen Eltern schon gar nicht. Dagegen fand ich es aber nicht zu blöde, ziemlich früh viel zu viele kalkuliert einfältige Leserbriefe an die DDR-Presse zu schreiben. Das muss 1968 angefangen haben. Einmal wandte ich mich zum Beispiel an die Leitung der AMIGA-Schallplattenfirma, bei der ich nachfragte, wann endlich die revolutionäre, antiimperialistische Musik von Jimi Hendrix in der DDR veröffentlicht würde. Die Antworten waren immer freundlich und unbefriedigend. Man kann es psychologisch deuten, als früh- oder spätpubertär: sich nicht sehen wollen, aber den eigenen Namen so oft wie nur möglich lesen können. Man weicht sich aus und lebt in verfremdeter Gestalt als Texterfinder auf. Der Text inszeniert eine andere Person, und das Jahr 1968 lieferte den Startschuss für diese beschleunigte, intensivierte Inszenierungslust. Zumindest der Kampf um das Recht, lange Haare überall und auch in der Schule tragen zu dürfen, war real. Immer am ersten Schultag stand der Direktor in der breiten Eingangstür und selektierte ein paar von uns aus, die sich erst einmal beim Friseur scheren lassen sollten.

Anderes, was seinen Ausgangspunkt im Jahr ´68 hatte, wurde erst danach erlebbar, fühlbar. Als seien in diesem Datum Zeitzündereinheiten von Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen aufbewahrt, die sich mit Verzögerung erst in den Folgejahren offenbarten. 1968 bündelten sich mindestens zwei Bewegungen, die nichts miteinander zu tun hatten und sich doch auf vielfältige Weise beeinflussten: zum einen der von Prag ausgehende prinzipielle Erneuerungsversuch des Realsozialismus durch die tschechische Partei, auf der anderen jene westeuropäische Mischung aus Pop-Kultur, politischen Reformen und radikalen Revolutionssehnsüchten. Im DDR-Bürger mixte und mischte sich dies auf spezielle Weise, je nach Alter, sozialer Einbindung und Lebensort.

Die 20 bis 200 Freunde, die sich unterschiedlich nahe standen damals in Jena, waren im Grunde Bundesdeutsche, die sich in der DDR wie im Zölibat bewegten. Das ist eine Deutung aus heutiger Sicht. Viele ältere Intellektuelle und Parteimitglieder (keine getrennten Gruppen, ich weiß) dagegen knüpften große Hoffnungen an den innerparteilichen Reformprozess in der CŠSSR. Ihr ´68 war verbunden mit der allmählichen Änderung des Realsozialismus.

Coca Cola am Balaton

Ende Juli, Anfang August 1968 verbrachte ich zusammen mit den Eltern und meiner Schwester am ungarischen Balaton. Dort herrschten für einen DDR-Bürger lockerere und westlichere Verhältnisse: bessere Musik im Radio, lächelnd Alkohol trinkende Polizisten (eher südländisch als westlich), es gab Coca Cola zu kaufen. Für Westgeld war sie sogar - wie andere Dienstleistungen - sehr billig. Ostgeld durfte man nur bis zu einem bestimmten Satz umtauschen. Da fügte es sich gut, dass sich meine Eltern mit einem westdeutschen Ehepaar anfreundeten, die uns auch in ihr Hotel einluden. Am Strand übernahmen sie die Erfrischungen, es gab kleine Geschenke und Gutscheine für das leckere Café-Büffet im teuren Westhotel. Die gut gemeinten Gesten unserer Westgönner nahmen meine Eltern dankbar an. Mir passte es absolut nicht, dankbar sein zu müssen, obwohl ich davon profitierte.

Wir kamen in politische Gespräche. Was in Prag unter DubcŠek ablief, interessierte meine Eltern und mich schon. Doch der Westen an sich (für meine Eltern) und seine Rock- und Popkultur (für mich) waren wichtiger. Der Mann aus dem Westfälischen auf seiner gemieteten Hollywood-Schaukel und in Spendierlaune agitierte für die rechtsradikale NPD und hoffte, dass diese bei der anstehenden Wahl zur zweitstärksten Partei würde. Ich widersprach vorsichtig. Meine Eltern schärften mir ein, mich zurückzuhalten, weil er nicht verärgert werden sollte. Es war wie ein Klischee, der Mann entpuppte sich als - damals hätte ich "Nazi" gesagt, heute würde ich etwas vorsichtiger sein. Ihm entschlüpften Sätze wie "Man sollte noch viel mehr von diesem Studentengesindel abknallen". Und empörten mich zu Recht. Dann dämpfte ihn seine Frau, indem sie allen ein Eis spendierte, zur Abkühlung.

Ihm nicht offen widersprechen zu können, schürte meine Ablehnung. So entstehen Rachegefühle, so entwickelt sich Kampfbereitschaft und sanfter Größenwahn. Das in dauernd guter Laune und von deutschen Schlagern hinreichend verblödete, in Schrittweite sitzende, liegende, schaukelnde Fascho-Ehepaar aus Wessiland war der Feind schlechthin. In dieser Situation vereinigte ich mich still mit den 68ern im Westen. Ich fühlte mich auf deren Seite. Gefährliche Wichtigtuer wie dieser Herr, das war meine Überzeugung damals, mussten bekämpft werden, da hatte sogar mein Staatsbürgerkundelehrer recht. Auch wenn der nur redete und redete.

Nicht immer überzeugend übrigens. Zum Beispiel, wenn ich ihn fragte, warum er nicht an der Seite des vietnamesischen Volkes die amerikanischen Aggressoren bekämpfe - mit seinen Kollegen und der Waffe in der Hand - oder sich nicht zumindest als Freiwilliger melde. Er wechselte dann gern das Thema. Er verstand auch meine Solidarität mit der militanten farbigen Bürgerrechtsbewegung in den USA nicht. Schwarze waren einfach bessere Menschen, weil sie Jahrhunderte unterdrückt worden waren.

Der Westen in Ost-Berlin

Mit dem Fotografen Harald Hauswald habe ich diese Zeit 20 Jahre später in dem - nur im Westen - erschienenen Buch Ost-Berlin zusammengefasst. Was sich dort an mentalen, politischen und kulturrellen Eindrücken niederschlägt, wird von gleichaltrigen Westdeutschen heute gerne genutzt, um die gefühlsmäßigen Gemeinsamkeiten und Differenzen auszuloten.

Mein ´68 setzt sich wie ein Puzzle aus sehr verschiedenen Teilen zusammen: Da war die Ablehnung der Nazi-Vergangenheit, für die meine (in dieser Zeit allerdings noch jugendlichen) angepassten Eltern standen und die zahlreichen, älteren Herren, die meine langen Haare mit dem Spruch kommentierten: "Früher, bei Hitler, hätte man dich vergast!". Gleichzeitig lehnte ich aber auch die sozialistische DDR-Gegenwart ab, in fast allem unbefriedigend, vor allem kulturell. Die dritte Ablehnungslinie zog ich gegenüber dem Westen, insbesondere gegenüber Westdeutschland: dieser über das Fernsehen vermittelte Mischung aus Blauem Bock, braver deutscher Schlagerwirklichkeit und gelegentlichem Karneval. Einmal im Monat durfte der Beat-Club von Radio Bremen im West-Fernsehen daran erinnern, was sonst nicht zu sehen war. Der interessante Westen wurde im Westen behindert, aber alle glaubhafte Kritik am Westen kam ebenfalls von dort.

Der Westen hatte uns durch seine Rock- und Popkultur längst erreicht. Irgendwie reagierten die im Westen unseren Ost-Frust gleich mit ab. Ich war nicht der einzige, der kurze Zeit später Alexander Solschenizyn und Ulrike Meinhof gleichzeitig verehrte. Bis uns der Autismus und die Tötungsbereitschaft der RAF anwiderten und ich zur Kenntnis nahm, was die Kulturrevolution in China für die Menschen konkret bedeutete.

Da hörten wir auch auf, aus Spaß ein Lied aus unserem Musikbuch in der Schule zu singen: "Osten erglüht, China ist jung. Rote Sonne grüßt Mao-Tse-Tung." Es war ein älteres Liederbuch, längst durfte dieses (zweite Lied!) im Musikunterricht nicht mehr ertönen. Das erste Lied dort, die Nationalhymne, sangen wir auch nicht. Und die West-68er kündigten den DDR-Bürgern das Mitleid auf. Das war gemein und richtig. Die klassische Ost-Haltung vieler und beispielsweise die meiner Eltern, darauf zu warten, dass der Westen alles regelt, begann langsam komisch zu wirken. Ich lebte in einem Freundeskreis, der das West-´68 als politischen Erweckungskuss verstand.

Ich las die eindrücklichen und gut nachvollziehbaren Zeilen Friedrich Schorlemmers über seine Erlebnisse in Prag (vgl. Freitag 22/2008 ) und kann nachfühlen wie enttäuschend die Gleichgültigkeit der Westdeutschen gegenüber den Verhältnissen in der DDR gewirkt haben musste. 1968 hätte ich sie gar nicht bemerken können, weil ich den Prager Verhältnissen ähnlich arrogant begegnete. Ich wollte die Dinge nicht zu genau wissen und suchte instinktiv nach Protestrollen, die ich in der DDR ohne Schulverweis oder Verhaftungsgefahr spielen konnte. Ein Dauerkarneval ohne Komik und Kostümierung. Erst als der Prager Frühling beendet wurde, begann dieses ´68 wirklich wichtig zu werden. Um den Einmarsch in Prag ganz ernst nehmen zu können, dazu waren wir ein paar Jahre zu jung; um ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, waren wir schon zu alt.

Erfindung des KGB

Wir diskutierten also nach Ferienende in unserer Klasse mit zwei Lehrern, die später von der Oberschule weggeekelt wurden, weil sie sich weigerten, den Einmarsch in die CŠSSR zu begrüßen. Ein Schüler wurde verhaftet, er trug eine tschechische Fahne mit Trauerflor. Zehn Jahre später hätten wir seine Freundin und seine Familie besucht, um uns zu erkundigen und um zu helfen. Aber 1968, auf der Rückreise vom Plattensee, benutzte ich die tschechische Hauptstadt als Warenhaus für Dinge, die es im deutschen Osten nicht gab: den Höhepunkt meines Konsumprotest-Tourismus stellte ein Plastik-Skelett zum Umhängen dar.

Die 68er-Bewegung aus dem Westen erreichte uns in Erfahrungsdosen in den Jahren danach: in der DDR waren der Roman Hinter Glas des Franzosen Robert Merle und der Film Blutige Erdbeeren Riesenerfolge, sie ersetzten eine andere, nicht vorhandene Kultur. Während das blutige Ende in Prag frustrierte, gaben die Revolten in Paris und Westberlin Hoffnung. Der Westen lenkte vom Widerstand in der DDR ab und führte gleichzeitig zu ihm hin. Und erzeugte viele Paradoxien.

So verehrten wir ´68 eine Zeitlang den rumänischen Regierungschef, der noch zum übelsten Diktator des Ostblocks mutieren sollte. Damals trotzte er der Sowjetunion und bereitete sein Land auf den bewaffneten Widerstand gegen eine möglicherweise einmarschierende Rote Armee vor. Die polnischen Proteste der Studenten wurden neidvoll registriert, die antijüdischen Diskriminierungswellen nahmen wir sprachlos zur Kenntnis. In Bulgarien schienen die Studenten nur an der Sex-Welle der 68er interessiert. Und ein Freund, der aus Litauen kam - damals Teil der Sowjetunion -, berichtete, dort kursiere, ´68 sei eine Erfindung des KGB, um den Kapitalismus zu destabilisieren.

Nein, das osteuropäische Bewusstsein bestand aus sich ausschließenden Wahrnehmungsfetzen. Ohne es zu bemerken, hatten wir in Jena eine aus medialen Realitäten und Einbildungen gespeiste, virtuelle Vereinigung mit dem Westen begonnen. Gerade die gegenüber der DDR kritisch Eingestellten konnten sich von der eigenen Staatssicherheit ein wenig erholen, wenn sie den vermeintlichen Überwachungsterror der Bundesrepublik solidarisch mit durchlitten. Die 68er und Nach-68er hatten zwar keine überzeugenden Antworten, aber sie inspirierten die richtigen Fragen. Sie machten Mut zum Ungehorsam - von Minderheiten.

Von Lutz Rathenow erscheint gerade die 4. erweiterte Auflage von Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall mit neuem erweiterten Vorwort und den alten Fotos von Harald Hauswald (Jaron Verlag, Berlin).

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