Jochen F. war neunzehn Jahre alt, als er im Juni 1941 nach Russland einmarschierte. Am Straßenrand brannten die Häuser der Bauern, die nicht verstehen konnten, warum sie für die Deutschen, mit denen es doch einen Freundschaftspakt gegeben hatte, plötzlich Feinde waren. Ein junger Russe griff zum Gewehr. Er wurde festgenommen und einem Erschießungskommando übergeben.
Jochen F. gehörte zu diesem Kommando. Ich will auf den nicht schießen, dachte er, was hat er mir getan? Die Kameraden spotteten über den zögernden Soldaten, und so drückte der Deutsche ab. Mehr als 60 Jahre ist das her, vor mir sitzt ein alter Mann, der von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Zum ersten Mal, betont er, weder seine Frau noch seine Söhne wissen von die
en von dieser Begebenheit. Als er mich am Telefon eingeladen hatte, war es ihm schwer ums Herz geworden, die Nacht vor unserer Begegnung hat er schlecht geschlafen, da kam so vieles wieder hoch, was jahrzehntelang eingesperrt gewesen war. »Wenn Sie als Soldat in den Krieg ziehen, dann sind von heute auf morgen ihre gesamte Lebenseinstellung, ihre Lebensgrundlagen vollkommen verändert,« sagt er. »Es heißt jetzt nicht mehr: Du darfst nicht töten, das heißt: Du sollst töten... Und wenn du das gut machst, dann wirst du auch belohnt. Du sollst nicht nur töten, du sollst den Gegner auch demoralisieren, sollst seine Familien vertreiben, seine Häuser kaputt machen, seine Brunnen sprengen -, all diese Sachen... Wenn man das eine Zeitlang gemacht hat, dann kommt ein ganz ungutes Machtgefühl in einem auf. Dann sieht man plötzlich: Da vorn steht er. Mach´ ich den Finger krumm und schieß ihn tot, oder laß ich es sein, es liegt an mir.«Ein Machtgefühl. Das könnte, so der Psychoanalytiker Tilmann Moser, auch durch demütigende Erfahrungen in der Kindheit entwickelt werden. Oft hätten ihm Patienten gesagt: »Ich habe als Kind immer gedacht: wenn ich mal groß bin! Dann zeige ich´s euch!« Und eine der Größenphantasien sei, so der Wissenschaftler, töten zu dürfen. Das war das Privileg der Könige, oder der Feudalherren, Herrscher über Leben und Tod. Das appelliert an etwas Gottähnliches beinahe! Ob der amerikanische Soldat im Irak, der eine Handgranate in das Zelt seiner eigenen Leute warf, von solchen Machtphantasien überwältigt worden war? Konditioniert durch die »Army-games« am Computer zu Hause, aufgeputscht durch Amphetamine, die fast überall im Feld verteilt werden. Zugedröhnt durch den Kanonendonner ringsum, - wenn es überall knallt, warum dann nicht auch hier, bei den »Eigenen«?Über die Wirkung der Drogen, die an die Mannschaften verteilt werden (»they kill the feeling, you know?«), erzählte der Afrikaner N., der es während der Befreiungskämpfe in Afrika unternommen hatte, Andersgläubige zum Marxismus zu bekehren. Da wurde gern auch Folter angewandt, schmerzvolle Methoden: »Wir gossen brennenden Kautschuk über die Haut, das dringt tief ein, wissen Sie? Oder jemand nahm ein Messer und schnitt die Nase ab oder die Ohren, während andere Gefangene zugucken mussten.« Könnte es sein, dass bei diesem Mann nach all den Jahren noch ein Glanz in den Augen zu sehen war, als er mir von seinen Taten erzählte, - eine Art von Befriedigtsein, das er mir eingestanden hatte, als das Tonband schon abgeschaltet war? Und dass der Psychoanalytiker Erich Fromm Recht hat, wenn er in seinem Buch über die Anatomie der menschlichen Destruktivität davon spricht, dass der Mensch das einzige Säugetier sei, das beim Foltern und Töten Lust empfinde? Und dass es Männer gab, die sich durchaus bewusst waren, dass die blutigen Aktionen im Kampf solche Gefühle bei ihnen hervorriefen? Wie der englische Oberst T. E. Lawrence, der während des Ersten Weltkrieges seinen Vorgesetzten um Versetzung bat, weil er bemerkt hatte, dass das viele Blutvergießen ihn aufgeilte?Menschen, die sehr gewalttätig sind, könnten - einer US-Studie zufolge - veränderte Gehirnstrukturen besitzen. Das komplexe Kontrollsystem wirke zwischen Stirnhirn - (direkt über den Augenhöhlen, dem sogenannten Mandelkern, - der beim Verarbeiten von Gefühlen eine Rolle spielt) - und einem Bereich, der die Verbindungsbalken zwischen den beiden Hirnhälften ummantelt. Im Stirnhirn würden impulsive Ausbrüche kontrolliert. Wenn die Wissenschaftler Recht haben, könnte sich ein Mensch mit einem solchermaßen defekten Hirnapparat trotz bester Vorsätze in der Konfrontation mit entsprechender Herausforderung nicht beherrschen. Einen solchen Fall beschreibt der Kirchenlehrer des christlichen Altertums, Augustinus. Ein gewisser Alypius habe es immer weit von sich gewiesen, durch die blutigen Gladiatorenkämpfe in Rom beeindruckt zu sein. Eines Tages ließ er sich mit in die Arena nehmen. Wie dieser Versuch ausging, berichtet Augustinus in seinen Bekenntnissen. »Als sie das Theater erreicht und sich einen Platz erobert hatten, fieberte schon alles in wilder Lust. Alypius schloss die Pforten seiner Augen und verbot seinem Geiste, sich an den sündhaften Gräuel hinzugeben. Hätte er sich doch auch die Ohren verstopft! Denn als bei einem Zwischenfall beim Kampf das unbändige Geschrei der Menge auf ihn einbrauste, öffnete er die Augen. Kaum sah er Blut, trank er auch schon wilde Grausamkeit in sich hinein, und er sah nicht weg, sondern fest dahin und letzte sich an der Untat dieses Kampfes und berauschte sich in blutsüchtiger Wollust.«»Blutsüchtige Wollust«. Da ist eine offiziell genehmigte Ausnahmesituation, der Krieg. Sie wird zur Rechtfertigung für so allerlei, was im normalen Leben unter Strafe steht. Auch für das Wegdrücken von Gefühlen, die man sonst vielleicht zulassen würde. Er habe sich zutiefst geschämt, und doch alles mitgemacht, schrieb der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter in seinem Buch Die Chance des Gewissens über seine Beteiligung am Russlandfeldzug. Er habe als Richtkanonier seiner Haubitze nie sehen können, wen oder was er tötete oder zerstörte, aber dass sie Tod und Vernichtung brachten, sei natürlich jedem klar gewesen. Und der Autor erinnert sich, dass er vor einer großen Offensive noch einen Feldgottesdienst miterlebte, bei dem der Geistliche ein großes, silbernes Kreuz auf der Brust getragen habe. Der vom Staat geforderte Gehorsam wurde in allen Zeiten durch das Anrufen Gottes, das Wirken von Kriegspfarrern gefestigt und legitimiert. Heinrich Misalla, emeritierter Professor für katholische Theologie, hat eine Dokumentation bisher unveröffentlichter Predigttexte von Pfarrern herausgegeben, die im letzten Krieg in der Truppenbetreuung tätig waren. Da konnten die Männer, zum Beispiel im März 1942, folgendes hören: »Das Frontsoldatensein ist kein schicksalhafter Zwang, sondern Gottes Wille. Und Gottes Wille ist auch die soldatische Tapferkeit dem Feind gegenüber. Mit der Losung »Gott will es!« zogen die Kreuzfahrer aus..., und ihre rein soldatische Tapferkeit erhielt so die Weihe einer übernatürlichen, sittlichen Tugend. Wir stehen nun einmal im Krieg, und es ist Gottes Wille, dass wir ausharren. Jeder an seinem Posten.« Und dann ist eines Tages der Krieg zuende. »Dann ist überhaupt nichts mehr da,« sagt Jochen F. »Das dauert eine Weile, ein, zwei Jahre, wo man auch nicht richtig zur Ruhe kommt. Aber wenn man dann nachdachte, hat man sich überlegt: Wer kann einem die Schuld, die man auf sich genommen hat, wer kann einem die wegnehmen? Niemand.«Viele Männer leben mit der Bürde ihrer eingekapselten Erinnerungen. Eine Kriegsverletzung eigener Art. Und die können sich, so der Frankfurter Psychologe und Familientherapeut Peter Orban, auf die folgenden Generationen auswirken. Er habe oft erlebt, dass es in Familien unerklärliche Belastungen und Dunkelheiten gab, Krisen und Verhaltensauffälligkeiten, die man zunächst nicht einordnen konnte. Bis sich dann herausstellte, dass der Großvater im Kriege an Judenerschießungen beteiligt gewesen war oder im Nahkampf einen Menschen getötet hatte. Die Kinder der Täter, die Kindeskinder, wussten von diesen Vorfällen nichts, es war nur eine Belastung da, wie eine schwere Bürde auf der Schulter, und niemand wusste, woher das kam. »Das ist etwas«, so der Psychotherapeut, »was noch sehr wenig erforscht ist.«
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