Cave canem!

Desaströses Ende Sándor Márais Roman "Ein Hund mit Charakter" ist ein Vorbote des Verschwindens der bürgerlichen Lebensform in Ungarn

So idyllisch, wie das Paar da einstimmig und heiter über die Wiese spaziert, während es hinter ihnen widerspenstig in die verlockende Weite zerrt und zurrt, ist Sandor Marais Hunderoman aus dem Jahr 1931, mit dem der Piper-Verlag Marais in den letzten Jahren wieder ausgegrabenes Oeuvre vervollständigt, nicht. Tschutora - wie der Vierbeiner gerufen wird, um den sich das Buch dreht - war es nicht vergönnt, bloß um eines selbstgenügsamen Hundelebens willen einen Auftritt in der Literatur zu haben. Die Geschichte gerät dem Autor unter der Feder zum Abgesang auf jene bürgerliche Idylle, die Thomas Mann in Herr und Hund glanzvoll und ungebrochen ausschrieb. Den Einzug in den Haushalt seines Herrn verdankt der kleine zittrige Welpe dessen ebenso launigen wie redlichen Bemühen, für die Dame des Hauses kurz vor der Weihnachtsbescherung noch ein Geschenk zu finden, das aus dem ritualisierten Warentausch hervorragen würde. Der wahre Grund für den Hundekauf liegt aber tiefer. Der Herr, ein bürgerlicher Literat, standesgemäß situiert, in kühler Zweisamkeit mit seiner Gattin eingehaust in dem von ehrwürdigen Vorfahren her ererbten Mobiliar, kämpft mit einem beklemmende(n) Gefühl, "weil doch von einem Augenblick zum nächsten das alles hier ein Ende haben kann, diese bürgerlichen Formen und Sitten." Der heranwachsende Hund in seiner tapsigen Unbeschwertheit, mit den staunensrunden Augen eines kleinen Entdeckers in der ihm fremden Welt des bürgerlichen Interieurs, trägt die Bürde, die Malaise seines Herrn zerstreuen zu sollen.
"Man muß ihm ein Mäntelchen nähen", sagt die Dame einmal, und es klingt, als ob sie das Tier vor dem Kältetod bewahren will, dem in Wahrheit sie und ihr Mann entgegenleben, nachdem aus den Formen das Leben entwich. Aber der Hund zeigt Charakter, und er tut es, indem er sich beharrlich der Domestizierung widersetzt. Harmlos geht die Geschichte indessen keineswegs aus. Denn das Tier schnappt einmal heimlich nach dem Postboten, und dies hinterhältige Gebaren wird vom Herrn damit quittiert, dass er den Hund fortan ignoriert. Der Exkommunizierte wehrt sich dagegen in rührender Anhänglichkeit, geht aber nicht kläglich an seiner Missachtung zu Grunde wie Ebner-Eschenbachs Krambambuli, als Häufchen Elend, das unter Liebesentzug auf der Türschwelle mit Herzweh verendet, vielmehr reagiert er schließlich, nach langem Warten auf die erlösende Versöhnung, mit verzweifelter Wehrhaftigkeit, beißt Dame und Haushälterin und ganz am Ende, in einer letzten furiosen Konfrontation mit seinem bitter-enttäuschten Herrn, auch diesen. Beide verlieren jeden Rest an Reserve, gehen aufeinander los und kämpfen nahezu auf Leben und Tod - nichts von der gefällig-ironischen Distanz, aus der sich Thomas Mann auf seinen vermeintlich nur bedingt satisfaktionsfähigen Gegenstand herabließ. Schließlich lässt der Herr mit zerfleischter Hand, nach schier endlosem Kampf, seinen ebenfalls blutüberströmten Gegner, dessen Ausdauer er noch unter Schmerzen bewundert, auf den Boden fallen und wendet sich ab. Der Rebell aber scheint zu weinen, seine stumpfen Augen sind voll von Tränen, wie er da mit blutendem Maul liegt, zerschmettert, zerbrochen. "Sonderbar", so bilanziert der Herr das desaströse Ende der ungleichen Freundschaft, "aber auch mit dir bin ich gescheitert ...".
Márais Roman trägt autobiographische Züge, einen Hund namens Tschutora hat der Autor selbst besessen, und es ist die Geschichte dieses Hundes und die seines eigenen Lebens in den dreißiger Jahren, denen der Roman eine Stimme gibt. Zu Beginn seiner Autobiographie Land, Land erinnert sich Márai eines geselligen Abends, des letzten vor der Zerstörung Budapests gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Verschwinden jeder bürgerlichen Lebensform in dem sowjetisierten Ungarn. Es sei gewesen, schreibt er da, "als hätten wir oberungarische und Budaer Bürgersprößlinge einmal noch, zum letzten Mal, das Leben unserer Väter nachgespielt. All das, was Kulisse und Requisite des vergangenen Lebens war, wurde an diesem Abend lebendig". Hört man auf die Stimme des Erzählers in dem Hunderoman, so wurde Márai das Leben der Väter schon in den dreißiger Jahren als bloße Kulisse und Requisite des vergangenen Lebens unheimlich. Nach der Vernichtung der Budaer Altstadt - unter anderem auch seiner Wohnung samt der sechstausendbändigen Bibliothek - habe er, so Márai, eine Art Erleichterung gespürt, eine Befreiung von dem Zwang, jene Karikatur weiterzuleben, als die er jetzt, in den Trümmern, seine vorige Existenz zu durchschauen glaubte. Im Rückblick der Autobiographie revidiert er seine Selbsteinschätzung vom Ende des Krieges, denn auch die vermeintliche Karikatur sei sein Leben gewesen. Vielmehr, so scheint es dem Leser, war das bürgerliche Interieur, das dem Erzähler des Hunderomans zu zerfallen droht, ein Vorbote jener "ozeanischen Einsamkeit", die den ungarischen Exilanten später im fernen Amerika umschloss.

Sandor Marai: Ein Hund mit Charakter. Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Ernö Zeltner, Piper Verlag, München/Zürich 2001, 249 S., 12 EUR


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