Öde war gestern

Neue Schule Im Jahr 2030 gibt es keine Klassenzimmer mehr, der Rektor spielt ein wenig Big Brother und auf dem Schulhof ist es richtig interessant
Ausgabe 52/2015

Wie wird die Digitalisierung das Lernen und die Schule verändern? Wir lassen fünf fiktive Mitglieder einer Schulgemeinde über ihren Alltag 2030 berichten: eine Schülerin, eine Mutter, eine Lehrkraft, den Rektor und den Architekten der Schule.

Die Schülerin: Ich kann tatsächlich noch mit dem Füller schreiben, auch wenn das vor 20 Jahren niemand glauben wollte. Mit der Hand schreibe ich aber fast nur noch im Kunstunterricht. Oder wenn ich auf meinem Tablet-Computer in einem Text Notizen anbringen will. Alle Tablets haben inzwischen eine Handschreibefunktion. Die meisten Texte tippe ich natürlich auf der Tastatur. Mit dem ersten Zehnfingertippkurs fängt es ja schon in der Grundschule an. Manchmal nutze ich auch Spracherkennungssoftware.

Die Lehrkraft: Ich unterrichte heute anders als noch vor 10 oder 20 Jahren. Früher bedeutete individuelles Lernen, den Kindern unterschiedliche Arbeitsblätter zu geben. Heute sind wir weiter. Wir übergeben den Schülern die Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess. Das funktioniert mit Werkzeugen besonders gut. Anstelle von Wörterbüchern, Taschenrechnern oder Atlanten gibt es jetzt Apps mit Grafiken oder Daten. Die Applikationen bieten einen Rückkanal für die Schüler: Wenn sie zum Beispiel Fehler in der Atlas-App finden, können wir das an den Anbieter zurückspielen, nach dem Prinzip Wikipedia, kurz „Wiki“. Das macht Schüler zu Produzenten und Ko-Konstrukteuren von Wissen.

Entgegen früheren Meinungen „will“ aber nicht jedes Kind von sich aus lernen, nicht jeder Schüler ist intrinsisch motiviert. Diese Einstellung ist immer das Resultat von der Erziehung, die ein Kind in seinem Elternhaus bekommt – oder eben nicht. Deshalb nimmt in digitalen Schulen das soziale Lernen, vor allem auch das Reflektieren der eigenen Persönlichkeit, viel Raum ein. Klingt paradox, ist aber so: Mehr Digitales brachte mehr face-to-face-Begegnungen.

Maik Riecken, Gymnasiallehrer in Cloppenburg, gilt als einer der Pioniere des neuen Lernens und bereitet Kollegen in Fortbildungen darauf vor

Die Mutter: Heute kann ich Lehrer viel unkomplizierter erreichen. Wir haben vereinbart, dass die jeweilige Lehrkraft mich auf besonders gelungene digitale Leistungen meiner Kinder per Klick über den Messenger aufmerksam macht.

Die Schülerin: Hausaufgaben sind für mich ein seltsames Wort, die Unterscheidung zwischen Schule und Zuhause mache ich gar nicht mehr. Ich arbeite immer in meinem digitalen Portfolio. Das ist mein Abschnitt auf der Lernplattform, auf die auch meine Mitschüler Zugriff haben. Wir bearbeiten dort Texte, Projekte, Aufgaben. Einige Lehrkräfte nutzen auch externe Plattformen, etwa Blogs oder Wikis. Alle Lernplattformen haben gemeinsam, dass ich meine Texte, Schaubilder und so weiter dort in einem geschützten Rahmen herstellen kann, nur die Mitschüler, die daran mitarbeiten, haben Zugang. Und ich kann jederzeit von überall darauf zugreifen. „Heft vergessen“ ist für mich leider keine Ausrede mehr.

Inzwischen sehen die Lehrkräfte auch, was passiert, wenn ich nicht in der Schule an meinen Projekten arbeite, sondern woanders meinen Flow habe: zum Beispiel, wenn ich eine multimediale Präsentation im Format „Prezi“ gestalte, das die öden Powerpoints abgelöst hat, oder wenn ich eine Gedankenlandkarte (mindmap) anlege. Oder wenn ich ein Storyboard oder ein anderes Medienprodukt erstelle. Dabei werden Texte, Bilder, Videos und Grafiken kombiniert. So etwas wäre in der analogen Schule nicht möglich gewesen. Eine unserer wichtigsten Lektionen lautet, das Urheberrecht, vor allem von Bildern, nicht zu verletzen.

Der Architekt: In den vergangenen Jahren habe ich viele Schulgebäude neu entworfen. Meist nach skandinavischem Vorbild, weil Schweden und Finnen als Erste die Fiktion des Klassenzimmers aufgaben. Jede Schule befindet sich heute in einem ständigen Entwicklungsprozess, liquid school heißt das Stichwort. Das bedeutet: Jeder Klassenraum ist heute ein temporärer. Mit flexiblen Teilern wie spanischen Wänden, Schiebetüren oder Sichtblenden lässt er sich immer wieder umgestalten. Es gibt heute sogar Schulen, die nur aus einem einzigen Raum bestehen.

Die berüchtigten Bank- und Stuhlreihen aus dem 19. Jahrhundert sind verschwunden. Tische lassen sich variabel stellen, Sitzwürfel schnell umgruppieren. Stabile Polstermöbel laden zur Kreativität ein. In der Zeit der fortgeschrittenen Inklusion, also der Beteiligung von Schülern mit Handicaps, ist das immens wichtig. In jedem Raum gibt es Lademöglichkeiten für digitale Geräte – aber auch die Möglichkeit, das WLAN gezielt zu deaktivieren. Die bewusste Unterscheidung zwischen digitalem und analogem Arbeiten gehört heute zur Schulkultur. Früher gab es nur das totale Handyverbot – ein primitiver Ansatz.

Der Schulhof ist zu seiner alten Bestimmung zurückgekehrt: Er ist heute wieder ein Ort der persön-lichen, non-digitalen Begegnung. Als die Handys aufkamen, überschwemmten sie den Schulhof. Mit den Smartphones kamen die Verbote im Unterricht. Heute sind die intelligenten Telefone als Lernwerkzeuge erwünscht – aber auf dem Schulhof nicht erlaubt. So will es die Schulgemeinschaft, denn die Pause ist als Erholung und Zeit der Begegnung gedacht. Schulhöfe haben wir zu Natur umgestaltet, mit Bäumen, Wiesen und Wasser.

Der Schulleiter: Ich weiß heute über Dinge Bescheid, die ich früher erst in ungezählten Gesprächen mit Lehrern erfragen musste. Fehlzeiten von Lehrern wie Schülern, aber auch Benotungen sind für mich jederzeit im sogenannten Lernmanagementsystem sichtbar. Das hilft mir. Denn ich habe als Schulleiter nun eine untrügliche Entscheidungsgrundlage, zum Beispiel für Beurlaubungen oder für die Frage, welche Lehrer ich in eine Fortbildung entsende. Ein zentraler digitaler Kalender gibt mir darüber Auskunft, was an der Schule aktuell gerade läuft.

Das klingt ein wenig nach George Orwell – ist aber das Ergebnis zahlreicher Verhandlungen mit den Personalräten der Lehrer. Auch ihnen bietet das System nämlich Vorteile: Wenn sich ein Kollege mal übernimmt oder unverhältnismäßig stark durch Unterricht belastet war, erkenne ich das sofort. Mir liegen also Daten vor, die es mir ermöglichen, die Arbeit an meiner Schule gleichmäßig auf mehrere Schultern zu verteilen. Ich weiß gar nicht, wie das früher geklappt hat! Schulen lassen sich auf der Basis von Selbstausbeutung der Lehrer jedenfalls nicht sinnvoll führen. Natürlich gibt es auch Vereinbarungen, wozu die Informationen nicht verwendet werden dürfen. Außerdem überwacht ein externer Datenschutzbeauftragter, dass die Daten zu vorgegebenen Terminen gelöscht werden.

Die Schülerin: Meine älteren Geschwister kannten noch die Zeit mit Schulheften. Wenn man da nicht mit Vorlesen drankam, blieb der Text auf Papier unbeachtet, wie verschwunden. Heute können mir meine vernetzten Mitschüler Kommentare zu meinen Arbeiten schreiben. Oder sie schlagen gleich ein paar Verbesserungen vor. Wir können uns unsere Arbeitsergebnisse drahtlos überall hinsenden, entweder auf einen großen Monitor oder direkt auf die Tablets der Mitschüler. Schulbücher gibt es so gut wie keine mehr. Sie wurden ersetzt durch digitale Inhalte, die Schulbuchverlage in große Themensammlungen vorstrukturieren. Unsere Lehrkräfte kuratieren die Sammlungen so, dass sie zu unserem Schulprofil passen.

Die Mutter: Als es mit der Digitalisierung immer weiter voranging, gab es zwischendrin auch mal Fehlentwicklungen, an denen wir Eltern nicht unschuldig waren – etwa die digitalen Klassenbücher. Da wurde jede noch so kleine Verspätung und jede vergessene Lernaufgabe der Kinder sofort an die Eltern gemeldet. Ursprünglich wollten wir das auch so. Aber dann stellte sich sehr bald die Frage, was Kindheit und Heranwachsen eigentlich bedeuten. Ein gewisser Freiraum gehört eben dazu. Das mussten wir Eltern nach der ersten Überwachungs-, oder sagen wir besser: Begleitungseuphorie erst wieder lernen. E-Klassenbücher gibt es jetzt zwar immer noch, aber nur als Frühwarnsystem für die Schulleitung. Das ist hilfreich, etwa wenn in einer Lerngruppe ungewöhnlich viel Lernzeit ausfällt.

Die Schülerin: In meiner Schultasche befindet sich außer meinem Tablet und einem E-Reader nicht viel. Das ist gut, ich muss nicht so schwer tragen. Neben dem Pflichtunterricht, der die Grundlagen des Denkens sicherstellt, wie unsere Lehrer immer sagen, kann ich mich in selbst gewählten Projekten engagieren und dort mein Wissen anwenden. Das bringt Abwechslung in den Schulalltag. Eines dieser Projekte muss übrigens ein soziales sein, wie Streitschlichtung, Lernbetreuung im Flüchtlingsheim oder das Eine-Welt-Projekt.

Der Architekt: Mit dem Blick von vor zehn Jahren mag es fast etwas verwunderlich klingen: Aber die digitalen Endgeräte der Schülerinnen und Schüler lassen sich in Schränken wegschließen, die mit programmierbaren Zeitschlössern versehen sind. Und das ist oft sinnvoll, etwa in Stunden, in denen das soziale Lernen im Vordergrund steht oder in denen untereinander diskutiert wird. Die phasenweise Trennung von den Geräten ist wirklich hilfreich, denn sie zerstreuen oder fragmentieren ja oft auch die Gedankenstränge.

Der Schulleiter: Musste ich früher noch mühsam Statistiken zu Schüler- und Stundenzahlen selbst zusammenstellen, liegen mir diese Daten nun jederzeit vor. Das Ausschreiben von Lehrerstellen oder das Zuteilen von Aushilfskräften ist viel einfacher. Stundentafeln zu gestalten war früher eine Höllenarbeit, heute ist das ganz einfach. All diese Erleichterungen und Freiheiten geben mir die Zeit, mich um den Kern von Schule zu kümmern: die Qualität des Unterrichts.

Illustrationen zu dieser Ausgabe

Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem letzten Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler

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