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Netzkunde Am Ende des Monats werden die Grimme Online Awards zum zehnten Mal verliehen. In den bisherigen Preisträgern ­spiegelt sich auch die Geschichte des deutschen Webs

Was haben Harald Schmidt und die Fernsehsender n-tv und MTV außer ihren Dauerkrisen in der Gegenwart gemeinsam? Dass sie im Jahr 2001 zu den ersten Preisträgern des Grimme Online Awards gehörten.

MTV Online heißt mittlerweile mtv.de und die einst gerühmten Faktoren „modisch sachliches Design (…) und eine beispiellose Aufgeräumtheit“ sind heute typischen Strukturelementen der Aufmerksamkeitsökonomie im Netz gewichen: Pop-Ups, schnell wechselnden Bildern und vielen Sternchen. Schmidt.de, ausgezeichnet als „eine der besten Satire-Sites im deutschen Web“ wurde von der ARD einverleibt. „Hier finden Sie jeweils am Tag nach Ausstrahlung der Sendung im TV das komplette Video zur Show für sieben Tage zum Ansehen“, liest man dort aktuell. „Die Kult-Show im Internet ist (…) Stunden vorher zu besichtigen“, hieß es im Jahr 2001 in der Begründung zur Preisverleihung. Und n-tv.de, das damals „sein Informationspotenzial aus dem Fernsehen im Internet“ reproduzierte, „dabei die Gestaltungsmittel des neuen Mediums ein(setzte)“ und „das Programm beträchtlich im Rahmen der Möglichkeiten, die dieses Medium neu eröffnet“, erweiterte? Hm, nunmehr News, brav, Standard.

Menschen, Zeiten, Dinge verändern sich, Webseiten verändern sich schneller. Dafür können die wechselnden Nominierungskommissionen und Jurys des Grimme Online Awards nichts – im Gegensatz zu so manchem Seitenbetreiber. Drastischer ausfallen beim Vergleich zwischen 2001 und 2010 würden andere Webseiten: AOL – „in der ersten Hälfte der 2000er Jahre mit über 30 Millionen Kunden weltweit der größte Internet-Anbieter“, weiß die Wikipedia – , Yahoo!, zu Beginn des Jahres 2000 noch mit mehr als 33 Prozent Marktanteil führende Suchmaschine in Deutschland oder, Größe ist nicht alles, die nach 9/11 kurzzeitig boomende Netzeitung.de. n-tv.de kann sich auch heute durchaus sehen lassen.

Antwort auf Facebooks „i like“

Hier Telepolis, Jetzt.de, Perlentaucher; dort Der Mietmensch, Robokutschpiloten-Rallye, Kreidestriche.de. Das Grundmuster der frühen Preisträger – Allrounder neben Spezialisten, Marken neben Einzelgängern, Mut neben Konvention –, hat sich zum Glück bis in die Gegenwart gerettet. Ein wahlloser Auszug der Nominierten im Jahr 2010: Soukmagazine, Fußballwurst.de, WDR-Klangkiste, Zeit Online, Tiny Tales – Micro Fiction auf Twitter.

Ja, so ist das Internet, so nutzen wir es, so mögen wir es und so mögen wir es auch nicht. Altbewährtes wird abgesurft, neue Seiten werden entdeckt, aus dem Echtzeit-Log-in in ein neues Netzwerk wird morgen schon die nächste digitale Accountleiche; erinnert sich noch wer an Buzz oder Formspring.me? Chat-Fenster poppen auf während man noch in die Lektüre von Melvilles Bartleby the Scrivener – im Original oder in deutscher Übersetzung, auf jeden Fall in voller Länge und für lau – vertieft ist. Hübsche Vielfalt, bisschen blöde auch, disparat halt. Netter Zufall, dass sich hinter disparat.de das Archiv der Jahre 2000 bis 2003 einer gleichnamigen Band verbirgt. Typischer Zufall zudem.

2010 gehört also erstmals ein Twitter-Account zu den Nominierten. 2008 wäre das mutig, 2009 zu erwarten gewesen. Ob 2011 das erste deutschsprachige Facebook-Profil folgen wird? Eine in Deutschland entwickelte App fürs iPhone oder iPad gar? 23 Seiten sind nominiert, 2009 waren es 26, vor neun Jahren waren es noch 39. Seit 2007 weist die Webseite des Grimme Online Award auch die Vorschläge für Nominierungen aus, sie stiegen von 1300 auf 2000 in diesem Jahr. Man kann sagen, Nominierungsvorschläge sind die deutsche Antwort auf Facebooks „i like“, jeder drückt gern mal im Vorbeigehen auf einen Button, nennt einen Namen. Tatsächliche Nominierungen wären, wenn man im Bild bleiben will, qualifizierte Nutzerkommentare (die also über LOL, ROFL, :))) etc. hinausgehen).

Der Grimme Online Award ist ungefähr so alt wie das erste weltweit in Betrieb genommene UMTS-Netz. Knapp 100 Milliarden Euro nahm die Bundesrepublik Deutschland im Sommer des Jahres 2000 aus der Versteigerung von UMTS-Lizenzen ein. Der Hype um hohe Datenübertragungsraten, sprich: mobiles Internet, sollte nur wenigen der Käufer erst Jahre später etwas einbringen. Andere gaben frühzeitig entnervt auf.

Unter ihnen befindet sich das Adolf-Grimme-Institut, obwohl es nie mitgeboten hat. Webseiten, Portale, Netzwerke und Videos wurden mal mehr, mal weniger kunstvoll für Smartphones angepasst, nach dem Erfolg Apples entsteht derzeit eine App-Industrie. Mobiles Internet war und ist jedoch ein Unthema im beschaulichen Marl, das offensichtlich in einem großen, durch nichts zu belebendem Funkloch liegt. Zum Vergleich: Bei den Webbys ist die Kategorie Mobile Web längst etabliert.

Das ist weitaus ärgerlicher als die von Bloggern und Info-Geeks oft kritisierten Pannen (Online-Bekanntgabe der Preisträger vor der offiziellen Verkündigung) und angeblichen Mauscheleien zwischen Nominierungskommission, Jury und Preisträgern.

Der Grimme Online Award folgt Trends und weist sie gleichzeitig von sich. Als es den Weblogs in Deutschland noch gut ging, erhielten sie ihre Preise: Bildblog, Spreeblick, Riesenmaschine, nochmal Niggemeier. Als Zeitungen neue Wissensressorts schufen, räumten kurze Zeit später Online-Wissensseiten auch bei Grimmes ab. Im Buzzword-Bingo des Jahres 2010 zucken viele Hände beim „hyperlocal blogging“, und siehe da: Nominiert ist FuPa – das regionale Fußballportal aus der Region Passau.

Erwartungen und Realitäten

„Erwartet haben wir nix, geändert haben wir auch nichts. Außer dem, was wir sowieso dauernd ändern. Wir geben nicht viel auf Awards, aber der Grimme hat uns damals sehr gefreut. In einer Zeit, in der Blogs als Klowände galten, war das vom Institut schon recht weitsichtig.“ Spreeblick hat im Jahr 2006 einen Grimme Online Award erhalten und Johnny Haeusler, Gründer des Weblogs, schickt auf Chat-Anfrage diese Zeilen als Facebook-Mail. „Grimme hat viel Aufmerksamkeit der klassischen Medien gebracht und ist für viele davon eine Art TÜV-Siegel. Nach dem Motto: Das sind offenbar keine kompletten Spinner, wenn sie einen Grimme bekommen haben.“

Jens Weinreich, der Sportjournalist und Blogger, 2009 für sein Blog jensweinreich.de ausgezeichnet und ebenfalls per Chat angefragt, ergänzt in einer E-Mail-Antwort: „Ruhm und Ehre: Vielleicht. Hin und wieder spricht mich mal jemand drauf an oder ich bekomme mit, dass jemand zur Kenntnis genommen hat, dass auf dem Blog seit einem Jahr ein riesengroßer Angeber-Button prangt :) Ernsthaft: Habe festgestellt, dass der Name ‚Grimme‘ offenbar zählt. Für Leute aus dem nichtjournalistischen Bereich ist ein Grimme-Preis ein Begriff, ob das nun TV oder nur online ist, scheint egal.“

Steigende Zugriffszahlen nach der Auszeichnung möchten beide Blogger über kurzfristige Aufmerksamkeitseffekte hinaus nicht bestätigen. „Finanzielle Auswirkungen: Null. Keine Aufträge deshalb“, meint Weinreich.

Kinderseiten gehen beim Grimme Online Award immer, Online-Pornos nie (auch wenn sich das Gerücht hartnäckig hält, Youporn sein ein deutsches Produkt – derzeit liegt das Private-Modus-Portal auf Platz 24 der in Deutschland am häufigsten abgerufenen Webseiten), Sport hat eine kleine, Film eine große Lobby – ein in Auszeichnungen übertragenes Abbild des Surfverhaltens in Deutschland sieht anders aus. Sympathisch an den Grimme Online Award ist, dass man sich nicht groß um Repräsentativität schert.

Weniger sympathisch ist, dass es an Courage mangelt, auch mal die Unterströme im Netz zu nominieren oder auszuzeichnen. Oder sollte es unter den Kommentatoren im Heise-Forum tatsächlich niemanden geben, der das Zeug hat, mit seinen tausenden ergänzenden Posts mal die Kategorie Information oder Kultur und Unterhaltung aufzumischen? So mancher Wikipedia-Beitrag wäre eine Auszeichnung wert, die Edit-Schlacht, die zu seiner Präsenz führte, möglicherweise auch. Auch das gehört zum Internet in Deutschland, manchmal sogar vor allem das.

Seit fünf Jahren ist am Kategoriensystem der Awards nicht mehr viel verändert worden; darin könnte ein Grund für so manche Einfallslosigkeit liegen. Wahrscheinlicher aber ist, dass schlicht Ergebnisse und Fakten den unhandlichen und gerade deswegen netztypischen Prozessen, Memen, Debatten, Evolutionen und Rhizomen vorgezogen werden. Gilles Deleuze und Félix Guattari verwendeten die Metapher des Rhizoms um ein Gegenmodell zur hierarchischen Wissensorganisation und der kognitiven Aneignung der Welt aufzuzeigen – knappe 20 Jahre vor dem großen Durchbruch des Internets, den Hyperlinks, die alles mit allem verknüpfen, und der Erschütterung jahrzehntelang mächtiger Wissens-, Kommunikations- und Kulturproduzenten.

Abhilfe beim Grimme Online Award könnten Kritiker statt Juroren und neue, thematisch und zeitlich hybride Kategorien schaffen. Und Abhilfe täte gut. Die Geschichte des Internets in Deutschland hat gerade erst angefangen.

Maik Söhler ist freier Journalist, lebt in Berlin und .twittert


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