Das Lernziel heißt Elite

Roma-Schule Im ungarischen Pécs gibt es das weltweit ­einzige Gymnasium für Roma. Es soll ein Vorzeigeprojekt sein, aber Kritiker sehen darin eine andere Form der Abschottung

Krisztina schaut, als hätte sie gerade ihr Mittagessen aus der Toilette gefischt. „Roma!“ So möchte sie nicht genannt werden. „Der Begriff ist affig. Über-korrekt. Wir sind Zigeuner. Und wir sind anders“, sagt die 18-Jährige Abiturientin selbstbewusst. Dass das Wort Zigeuner einst zum Vokabular der Nazis gehörte, scheint die Teenager, die hier an einem Tisch der modernen, großzügig ausgestatteten Schulbibliothek sitzen, kaum zu irritieren. Entschuldigung, wie „anders“ seid ihr? Sie verdrehen die Augen, grinsen, sie seien auch deshalb auf dem Internat, damit sie diese Frage nie mehr beantworten müssen, sagen sie in gebrochenem Deutsch.

Die Gandhi-Schule ist das weltweit einzige Gymnasium mit angeschlossenem Internat für Roma, aber auch Nicht-Roma werden hier aufgenommen. Das preisgekrönte, mit viel Holz und Glas gestaltete Schulgebäude befindet sich in einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung am Rande von Pécs, der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas, in Südungarn, nur dreißig Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt. Seit 16 Jahren existiert die Schule, mehr als die Hälfte der Lehrer im Kollegium gehören selbst der Minderheit an. Vor der Büste des 1999 verstorbenen Schulgründers liegt ein Kranz. János Bogdán, der Roma war und Ungarisch und Geschichte studiert hatte, wollte eine Elite heranbilden, die stolz auf ihre Herkunft, Sprache und Traditionen ist. Möglichst viele Schüler sollen anschließend studieren.

Ein Absolvent in Harvard

Die Lehrerin Andrea Ritter ist Ungarin. „Als ich hier anfing, war ich schockiert“, erzählt sie. Nach dem Ende ihres Referendariats unterrichtet sie am Gandhi-Gymnasium Deutsch. „Die Schüler waren laut und reagierten oft sehr temperamentvoll, Konflikte kochen schnell hoch und werden auch mal handgreiflich gelöst.“ Den gepflegten, ruhigen Teenagern, die man an diesem Vormittag in der Schulbibliothek trifft, scheint aber nichts ferner zu liegen als eine Prügelei. Die Schüler seien vor allem unverstellt, sagt Ritter: „Entweder sie mögen einen oder nicht.“ Sie unterrichte an der Schule, weil es eine sinnvolle Arbeit sei. „Ich muss mich um die Schüler kümmern. Wenn sie schlechte Resultate abliefern oder fehlen, forsche ich nach: Was ist zuhause los? Können die Eltern helfen?“ Die Pause ist vorbei, Ritter muss in die Klasse. Gerade stehen touristische Gesprächssituationen auf dem Lehrplan: „Möchten Sie den Bus oder die Bahn nehmen?“ Die Klassenräume tragen Namen von berühmten Roma-Künstlern, wie dem Jazz-Gitarristen Django Reinhardt. Mariann, die sanfte Abiturientin, träumt von einer Gesangskarriere. Trotzdem wird sie sich wohl an der Universität für Psychologie bewerben. Dass ihr Auftrag „Studium“ lautet, ist ihr genauso bewusst wie ihren Mitschülern. Erik, 15, trägt die Mission sogar auf dem T-Shirt mit dem Aufdruck: Elite.

Ein Absolvent aus dem letzten Jahrgang studiert jetzt mit Stipendium in Harvard, eine seiner Mitschülerinnen besucht ebenfalls eine amerikanische Uni. Jeder an der Schule kennt diese Erfolgsgeschichten und soll sie auch weiterschreiben. Die Realität sieht allerdings meist nüchterner aus.

Rassismus in Ungarn?

Roma bilden mit sieben Prozent die größte ethnische Minderheit in Ungarn, ihr Anteil bei Abiturienten und Studenten liegt aber unter einem Prozent, weniger als die Hälfte der Kinder schließt die Grundschule ab. Dabei nannten die meisten ungarischen Roma laut einer EU-Umfrage von 2008 Ungarisch als ihre Muttersprache, in Bulgarien bekannte sich nur ein Viertel zur Landessprache. Doch das Leben der Menschen in der adretten Pécser Innenstadt und das der Roma berühren sich kaum. Die Arbeitslosenzahlen unter Roma sind alarmierend. Sie liegen, abhängig von der Region, bei 50 bis 90 Prozent. In ausschließlich von Roma bewohnten Dörfern im Grenzgebiet zur Slowakei klettern sie teils noch höher. Der Lebensstandard der meisten Familien ist geringer als der des Landesdurchschnitts, oft bleiben sie in kleinen Gemeinden unter sich. 62 Prozent der ungarischen Roma gaben im vergangenen Jahr an, sich als Opfer gesellschaftlicher Demütigung zu sehen. Das ist nach Tschechien europaweit der höchste Wert. Und bei den ungarischen Parlamentswahlen im vergangenen April errang die rechtsradikale Jobbik-Partei fast 13 Prozent der Stimmen. Ihr paramilitärischer Arm, die sogenannte „Ungarische Garde“, ist zwar gerichtlich verboten, aber weiter aktiv. Ihre Mitglieder hetzen gegen Juden und Roma. Andrea Ritter kennt all diese Zahlen. „Die Eltern unserer Schüler hoffen, dass wir sie vor Rassismus und einem Leben am Rande bewahren“.

Die Gandhi-Schüler spüren das aggressivere Klima im Land kaum, so als würden sie auf einer Insel leben. Sind sie anderswo schon mal diskriminiert worden? „Rassismus in Ungarn? Unmöglich...“, antwortet Krisztina spöttisch. Mariann erzählt dann zögernd von Busfahrern, die sie unter dem Vorwand, es sei alles voll, nicht transportieren wollten. Sie vermutet, der wahre Grund sei ihre dunkle Haut gewesen.

Zu wenige Nicht-Roma

Bei der Aufnahme an die Unis werden Roma hingegen positiv diskriminiert, ihre Herkunft wird vergünstigend auf den Notenschnitt angerechnet. Die zur Aufnahme nötigen Ergebnisse erreichten in den letzten Jahrgängen allerdings nur wenige Gandhi-Schüler. Am Gymnasium existiert zwar eine Förderklasse, um die Schüler nach der Grundschule fit fürs Gymnasium zu machen. Aber in den vier Jahren auf dem Internat kann nicht alles nachgeholt werden, was vorher eventuell versäumt wurde. Der Weg zur Elite scheint noch weit.

Victoria Mohacsi ist eine der wenigen EU-Abgeordneten, die der Roma-Minderheit angehören – Ausgrenzungen, wie sie gerade in Frankreich geschehen, machen sie wütend. Aber auch das staatlich finanzierte Gandhi-Gymnasium sieht sie kritisch. „Mindestens zehn Schulen könnten mit dem Geld betrieben werden“, kritisiert sie immer wieder in Interviews. Wenn die Schule nicht so teuer wäre, könnte sie als Modell dienen. Aber selbst dann sei fragwürdig, ob sie wirklich integrativ sei. Die Zahl der Nicht-Roma sei zu gering. Mohacsi möchte jede Abschottung vermeiden.

Wenn man Krisztina auf diese These anspricht, wechselt sie sofort ins Ungarische. Ihre Lehrerin übersetzt den wütenden Schwall, wenn auch etwas moderater: „Leute, die noch nie hier waren und keine Ahnung haben, sollten ihren Mund halten!“ Dennoch: Begegnungen mit anderen Gymnasien in Pécs oder Auslandsreisen finden derzeit nicht statt, die Schüler pflegen Kontakte zu Nicht-Roma nur an der Schule.

Umgekehrte Integration

In jeder Klasse gibt es ungefähr ein bis zwei Schüler, die nicht der Minderheit angehören, eine ist Agnés Koloszi. Sie lernt gerade die ungarischen Romani-Dialekte Lovari und Bejás, die alle Schüler beherrschen sollen. Agnés sei wegen der guten Erfahrungen, die ihre Familie gemacht habe, hierher gekommen, sagt sie. Ihre Kusinen sind ehemalige Absolventinnen. Es dauert eine Weile, bis ihr einfällt, dass auch ihr Stiefvater Roma ist. Vor dem ersten Schultag habe sie Angst gehabt, mittlerweile sei sie aber als „Ehren-Roma“ von allen akzeptiert. Was draußen ein Stigma ist, wird im Internat zur Auszeichnung. Aber man spürt – die Herkunft zählt auch hier.

Momentan besuchen 212 Schüler das Gymnasium, das 350 aufnehmen könnte. Etwas mehr als hundert Jugendliche haben sich im vergangenen Jahrgang um einen Platz beworben, nur siebzig von ihnen wurden akzeptiert. Die restlichen Zeugnisse waren nicht gut genug. Doppelt so viele Mädchen wie Jungen besuchen das Gymnasium, sie seien reifer und motivierter, so erklärt es sich Andrea Ritter. Spätzünder-Jungs könnten später ein Fern-Abitur machen oder zur Abendschule gehen.

Hin und wieder kommt es vor, dass eine vierzehnjährige Schülerin heiratet. Andere Roma-Kinder müssen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Durch Gespräche und Hilfsangebote versucht die Schule, diese Ausfälle zu verhindern. Wenn ein Mädchen mit 14 Jahren schwanger wird, ist es für das Abitur verloren. Die Eltern der Schüler haben oft nicht einmal die Grundschule abgeschlossen und leben von Sozialhilfe. Die fünf Deutschschüler in der Bibliothek, die langsam ungeduldig werden, stammen dagegen aus geordneten Verhältnissen. Kriszti hat einen Bruder, der als Metzger in Deutschland lebt, ihre Eltern arbeiten im Rathaus und in der Zuckerfabrik. Eriks Bruder hat Linguistik studiert und einen Job in Budapest. Auch die Eltern der anderen sind fest angestellt. Sie fördern ihre Kinder. Nur Krisztinas Familie war gegen das Internat, über die Gründe schweigt sie. Sie hat sich durchgesetzt.

„Die Gandhi-Schule bietet einen Schutzraum. Aber er darf nicht zur Einbahnstraße werden. Die Schüler müssen den Sprung in die gesellschaftliche Wirklichkeit schaffen“, sagt Andrea Ritter. Sie weiß, dass der Erfolg der Schule an der Zahl der Roma-Studenten gemessen wird. Wird es irgendwann mal eine Staatspräsidentin in Ungarn geben, die Roma ist? So weit denkt hier noch keiner. Eriks Berufswunsch ist bescheidener. Er möchte Polizist werden.

Maike Wetzel, geboren 1974, ist zur Zeit mit einem Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa als Stadtschreiberin in Pécs. Die Schriftstellerin lebt in Berlin.

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