Moralisch in Monrovia

Reportagen Für wen sind Entwicklungshelfer da? Rainer Merkel sucht im Kosovo, in Liberia und Afghanistan nach Antworten

Ein Schriftsteller als Doppelagent. Angeheuert, um zu helfen, aber beobachtend in eigener Mission. Kein Günter Wallraff im Krisengebiet, sondern eher ein Spion, der sich selbst beschattet. So schildert Rainer Merkel seine Rolle unterwegs in Afrika, dem Kosovo und Afghanistan. Mal trifft er als Mitarbeiter in Liberias einzigem psychiatrischem Hospital auf Schizophrenie-Patienten, mal sitzt er auf der Besuchertribüne im Gerichtssaal in Den Haag, sucht im Kosovo nach Traumatisierten oder reist als „embedded journalist“ mit der Bundeswehr nach Afghanistan.

Invasion der Helfer

Dieses Buch sei gelebtes „Nachdenken über das Trauma“ und handele vom Krieg, behauptet der Klappentext und legt damit leider eine völlig falsche Fährte. Rainer Merkel interessieren nicht die Schlachten, sondern die humanitäre Karawane, die nach ihnen anrückt. Seine literarischen Reportagen spielen in der „Parallelwelt“ der „Internationalen“. So nennen sie sich selbst: die Ausländer, die kommen, um zu helfen. Als Mitarbeiter von „Cap Anamur“ gehörte der Autor in Liberia selbst zu ihnen.

„Ich will wissen, was das für Menschen sind und warum sie das tun.“ Rainer Merkels Gegenüber in einer Bar in Monrovia versteht seinen Plan nicht, kapiert nicht einmal, von wem er spricht. „Menschen?“ Diese Gattung scheint sie schon länger nicht getroffen zu haben. Die Amerikanerin Tereza ist ein ehemaliges Fotomodell, das nun für UNICEF in Liberia arbeitet. „Und überhaupt … sind wir nicht zur Neutralität verpflichtet?“

Die Komik und gleichzeitige Verlorenheit dieses absurden, in der Schwärze der Nacht verendenden Dialogs ist bezeichnend für das ganze Buch, das nicht als Sachbuch, sondern Belletristik verlegt wird. In der Tradition von Joan Didions oder Bruce Chatwins literarischen Reportagen bewegt sich die Prosa an der Schnittstelle zwischen beiden Gattungen. Ein Hybrid, doppelköpfig wie auch der Erzähler an den verschiedenen, sich miteinander verzahnenden Schauplätzen. Rainer Merkel zeichnet psychologische Porträts der Mitarbeiter der NGOs, der Bundeswehrsoldaten und anderer Reisebekanntschaften, und nicht zuletzt von sich selbst.

Ein Mann ohne Ideale

Anhand alltäglicher Begleitumstände erzählt er von den Zwiespältigkeiten humanitären Engagements im Ausland. Welche psychischen und sozialen Auswirkungen hat ein solcher Einsatz auf die Persönlichkeit? Was macht das mit einem, wenn der eigene Bekanntenkreis alle sechs Monate umgebaut und alle zwölf Monate komplett ausgetauscht wird? Wie ist das Leben in einer „weißen“ Blase, einer durch tausend Schlösser geschützten, den Kaukasiern vorbehaltenen Welt, mitten in Afrika? Wie kommt es, dass UN-Leute und KFOR-Soldaten den Einheimischen im Kosovo den Eindruck vermitteln, ihnen gehöre die Stadt? Wie lebt es sich im Post-Kolonialismus?

Merkel berichtet vom Rhythmus aus Euphorie und Erschöpfung, der den Helfern eigen ist, vom exzessiven, zwanghaften Feiern, von „Abenden der inneren Sabotage“. Auf beflissene oder sensationsgeile Betroffenheit reagiert er allergisch, stellt sich in der Psychiatrie wie ein „Schatzwächter“ vor seine Patienten. Besonders aber Idealismus als Motiv für die Entwicklungsarbeit hinterlässt ihn skeptisch. „Die Empathiker, die Psychoakrobaten und Seelentröster der NGO-Szene sind abgezogen.“ Nur ein Mann ohne Ideale harrt im Kosovo aus. Er scheint dort am besten zurechtzukommen.

Neid- und Rauschzustände

In Liberia umzingelt Rainer Merkel sich selbst: „Wir beneiden die Einheimischen, dass sie hier wirklich leben und Ahnung von alldem haben, und die wir andererseits dafür bemitleiden, dass sie dazugehören und es hier aushalten müssen. Sie sind Teil des Dilemmas, Teil des Unglücks, Teil der ganzen Krise, über die Thomas schreibt, die James verwaltet und von der Wayne irgendwie am besten profitiert.“ Der UN-Mitarbeiter Wayne, der keine Illusionen oder Skrupel mehr kennt.

Für Merkel bildet die sogenannte Entwicklungshilfe eine zunehmend widersprüchliche Kette, in der Ursache und Wirkung nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Gleichzeitig setzt er als Mitarbeiter von „Cap Anamur“ viel in Gang, sieht viel mehr Fortschritte als am heimischen Schreibtisch. Er wird süchtig nach dieser Arbeit, berauscht sich daran, wie viel mehr er in Afrika leisten kann, in wie vielen Bereichen ihm Kompetenzen zugestanden werden. Auch das ständige Überschreiten der Erschöpfungsgrenze trägt zu dem Allmachtsgefühl bei. Seine Kollegen leugnen, Ähnliches zu empfinden.

Hierarchie als Befreiung

Auch beim Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr will niemand etwas vom Suchtpotential wissen. Dafür erfährt Rainer Merkel für ihn Überraschendes. Die Hierarchie habe „etwas Befreiendes“, sagt ein Soldat. Er fliege gern dorthin, schon zum dritten Mal. In Deutschland sei alles viel schwieriger. „Hier ändert sich ständig alles, hier muss man total flexibel sein.“

Rainer Merkel erlebt den Alltag in der extremen Abschirmung des Lagers in Kunduz und den Blick, allein aus dem Panzer heraus, auf Afghanistan. Der deutsche Flughafen, von dem aus die Soldaten nach Afghanistan starten, wurde neu errichtet. Er liegt in der Nähe des Kölner Flughafens, aber so, dass die deutsche Öffentlichkeit keine Notiz vom Einsatz der Soldaten nehmen muss.

Zwischen den Zeilen erzählt Rainer Merkel oft mehr, als wenn er etwa den Präsidentschaftskandidaten in Liberia endlich interviewen darf. In ihren Gesten und hingeworfenen Bemerkungen verraten seine Gesprächspartner, was sie wohl gern verbergen würden: die Brüchigkeit ihrer Motive und Beziehungen. Alle Sicherheiten zersplittern, werden zwiespältig, lösen sich auf.

Das eigene Scheitern

Auch die enervierenden Begleitumstände seiner Recherche lässt Rainer Merkel nicht aus. Das Stochern, das Warten, das Schweigen oder Verpassen von Gesprächspartnern. Er erzählt vom eigenen Scheitern. Im Kosovo nimmt er sich vor, die Situation einer aus Deutschland ausgewiesenen Roma-Familie zu beobachten. „Zweieinhalb Stunden später werde ich mich jedoch von einem interessierten Zuhörer in eine vielköpfige Hydra, eine Ein-Mann-NGO, verwandelt haben, die vor keinem Hilfsangebot zurückschreckt.“

„They are like a world of virgins studying sex.“ So beschreibt der Militärpsychologe Dave Grossman in seinem Buch On Killing all diejenigen, die noch nie in einem Krieg oder wirklichen Gefahren ausgesetzt waren. Rainer Merkel fällt die Rückkehr aus Liberia in sein altes, behütetes Leben in Deutschland schwer. Selbst zwei Jahre später fühlt er sich noch darin fremd, gleicht einem Kriegsveteranen.

„Wir haben für etwas gekämpft, das so weit von uns entfernt war und so wenig mit unserem Leben zu tun hatte, dass die Möglichkeit des Scheiterns (…) nicht bedrohlich und gefährlich erschien, und vielleicht liegt darin die besondere Leichtigkeit und Freiheit, die die Arbeit in Hilfsorganisationen für Leute wie Linda und mich so reizvoll macht.“

Ende der Auszeit

Als Rainer Merkel nach Liberia aufbrach, wollte er eine Auszeit nehmen. Er wollte dort nicht schreiben. Tatsächlich las er vor Ort nicht einmal oder machte sich Notizen. Trotzdem ist Das Unglück der anderen nun mit fast 500 Seiten Umfang erschienen. Es ist kein Handbuch für Reisende oder praktischer Ratgeber für die Arbeit in einer NGO. Seine Fragen zu den persönlichen Motiven humanitärer Arbeit im Ausland sind für alle, auch für die, die nicht dazu aufbrechen, relevant.

Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan Rainer Merkel S. Fischer 2012, 480 S., 22,90 €

Maike Wetzel ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie lebt in Berlin

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