Im Tal der Ahnungslosen

Widerrede Warum selbst DDR-Bürgerrechtler die Stasi-Vorwürfe gegen Gregor Gysi als Kampagne gegen sich erleben
Gregor Gysi im Jahr 1978 mit seinem Mandanten Rudolf Bahro
Gregor Gysi im Jahr 1978 mit seinem Mandanten Rudolf Bahro

Foto: Mehner/ Ullstein

Für Menschen, die Ende der Achtziger in der ehemaligen DDR politisch anders aktiv waren als im Sinne des Politbüros der SED, gab es für den Fall der Verhaftung eine goldene Regel: Wer vor allem seelsorgerische Betreuung braucht, nimmt einen der von der Kirche vermittelten Anwälte. Wer glaubt, auch strafrechtlich etwas erreichen zu können, wendet sich an Gregor Gysi. Mit diesem Mandat verband sich automatisch der Auftrag, mit „allen zuständigen Stellen“ zu reden, wie es damals hieß. Diese Regel, die bereits jugendlichen Aktivistinnen und Aktivisten frühzeitig vermittelt wurde, scheint einigen Altvorderen der Opposition nicht bewusst gewesen zu sein. Zumindest beschwerten sich etwa Katja Havemann und Bärbel Bohley später darüber, dass Gregor Gysi das gemacht hat, womit er beauftragt wurde. Aus der Familie des eigentlichen Mandanten, Robert Havemann, blieben diese posthum erhobenen Vorwürfe nicht unwidersprochen. Sein Sohn Florian Havemann bestand darauf, dass Gysi mit seiner Verteidigung viel für Robert Havemann erreicht und zu jedem Zeitpunkt in dessen Interesse gehandelt habe. Und er bot sich im Falle eines Verfahrens als Entlastungszeuge für Gysi an.

Die Resultate zählen

Dass es im Umfeld der oppositionellen Gruppen viele Menschen in gesellschaftlich anerkannten Positionen gab, die mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) redeten, war selbstverständlich und notwendiger Teil der damaligen politischen Situation. Der inzwischen prominenteste Vertreter dieser Notwendigkeit ist Joachim Gauck. Als Pfarrer in Rostock wandte er sich unter anderem direkt an das Ministerium, wenn ihm bekannt wurde, dass Mitglieder seiner „Jungen Gemeinde“ gegen ihren Willen als Informelle Mitarbeiter verpflichtet wurden. Aber auch bei größeren geplanten Aktivitäten, etwa anlässlich des Kirchentages in Rostock im Jahr 1988, sprach Joachim Gauck mit den „zuständigen Stellen“ – und sein Handeln zeitigte für die oppositionellen Gruppen keinesfalls zufriedenstellende Ergebnisse. Jedenfalls reichte die Art und Weise der Kontakte, dass sein zuständiger MfS-Offizier, Hauptmann Terpe, die Feindbearbeitung in der Operativen Personenkontrolle „Larve“ beendete und stattdessen empfahl, eine Vorlauf-Akte zur Anwerbung von Joachim Gauck als inoffiziellen Mitarbeiter (IM) anzulegen. Vergleichbare Vorgänge kosteten später viele Bürger ihren Job, ohne dass genauer geprüft wurde, welche Qualität ihre Beziehung zum Geheimdienst gehabt hatte.

Völlig anders als beim Umgang mit Vertrauenspersonen wie Pfarrern und Rechtsanwälten lag der Fall bei Vertretern von Politik und Journalismus aus der damaligen BRD. Gespräche mit Menschen aus diesem Personenkreis zogen mit hoher Wahrscheinlichkeit und unmittelbar ein Zusammentreffen mit dem MfS nach sich. Wer darauf keine Lust hatte, war gut beraten, ihnen weiträumig aus dem Weg zu gehen. Dieses Problem galt insbesondere für Journalisten des Spiegel, und unter denen ganz besonders für Ulrich Schwarz, den Ost-Berliner Korrespondenten des Magazins, der die MfS-Mitarbeiter normalerweise gleich im Dutzend nach sich zog. Die wiederum gingen fest davon aus, dass Schwarz nicht einfach nur Journalist war, sondern seinerseits Kontakte zu Geheimdiensten hatte. So führte das MfS-Schulungsmaterial Ulrich Schwarz spätestens seit 1984 unter „Personelle Kontakte imperialistischer Geheimdienste zu Massenmedien“.

Als sich Gregor Gysi im Februar 1989 mit Ulrich Schwarz traf und ein bis heute sehr lesenswertes Interview erschien, galt dies nicht nur im Westen als spektakulärer und mutiger Schritt. Im Spiegel-Archiv lässt sich auch nachlesen, dass dieses Treffen nicht im luftleeren Raum stattfand: Zu diesem Zeitpunkt vertrat Gysi den Ost-Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann, heute Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikatur, in einer Klage gegen Unbekannt wegen Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Eppelmann hatte Weihnachten 1988 in seiner Wohnung mehrere Wanzen (Technik von Siemens) entdeckt. „Unerwartet traf Eppelmann der Lauschangriff nicht“, berichtete Ulrich Schwarz kurz vor dem Gysi-Interview. Dies mag auch daran gelegen haben, dass Rainer Eppelmann einer der wenigen DDR-Oppositionellen war, die regelmäßig in der Botschaft der USA zu Gast waren und er sich auch außerhalb mit US-Botschaftspersonal traf, weshalb viele Gruppen der Opposition eine Zusammenarbeit mit ihm ablehnten. Sein wichtigster Gesprächspartner in der US-Botschaft war der CIA-Mitarbeiter und II. Sekretär der politischen Abteilung der Botschaft, Gregory William Sandford. Vor seinem Aufenthalt in Ost-Berlin hatte Sandford als „Counter-Intelligence Analyst“ gearbeitet und war unter anderem im Zusammenhang mit der US-Invasion in Grenada tätig gewesen.

Dieses kurze Panoptikum aus politisch angespannten Zeiten ruft in Erinnerung, dass Menschen, die regelmäßig mit Sicherheitsdiensten zu tun haben – wissentlich hin, willentlich her –, kaum beeinflussen können, in welcher Form der entsprechende Dienst sie führt und was der Lauf der Geschichte davon später ans Licht befördert. Weder Rainer Eppelmann noch Ulrich Schwarz können sicher sein, ob sie nicht unter einer Abkürzung in Langley oder Pulach abgelegt sind. Sicher ist hingegen, dass Joachim Gauck ziemliches Glück hatte, dass die DDR so schnell nach seinem letzten bekannten Treffen mit Hauptmann Terpe zusammenbrach. Wer kann schon einschätzen, wohin ihn ein IM-Vorlauf später geführt hätte?

Eine gute Orientierung in derart unübersichtlichen Konstellationen besteht darin, Personen konsequent nach dem Ergebnis ihres Handelns zu bewerten. Im Gegensatz zu Joachim Gauck konnte sich bei Gregor Gysi niemand aus der Opposition über die Resultate seines Engagements beschweren: Aus der langen und prominenten Liste seiner Mandanten von Bahro bis Wegner wurden bis heute keine Klagen bekannt. Und selbst Bärbel Bohley, die aufgrund seiner Verteidigung im Jahr 1988 nicht nur aus-, sondern auch wieder in die DDR einreisen konnte, hatte trotz intensivstem Aktenstudium nichts vorzuweisen, was einen Schatten auf das Mandantenverhältnis werfen würde.

Grüße aus Dunkeldeutschland

Die Annahme, ein Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer der DDR hätte in dieser Situation keinen Kontakt mit der Stasi gehabt, ist jedenfalls so realitätsfern, dass man sich fragen möchte, wo hier eigentlich das Tal der Ahnungslosen liegt. Richtig ist genauso, dass für solche Kontakte keinerlei formale Verpflichtung notwendig war, schon gar nicht bei jemandem mit der Familiengeschichte und der Funktion Gregor Gysis. Dass nun, im Wahljahr 2013, ausgerechnet ein pensionierter Hamburger Richter mit einer eidesstattlichen Erklärung von Gregor Gysi vor Gericht zieht, nährt zumindest das Vorurteil, dass ungefähr dort der naivere Teil Deutschlands zu Hause ist. Aber so einfach ist es nicht. Immerhin verteidigen selbst namhafte westdeutsche Liberale Gysi gegen diese nervtötenden und offensichtlich politisch motivierten Anwürfe. Vielleicht ist es, unabhängig von geographischen Dimensionen, eher der dunklere Teil Deutschlands, der sich nun rührt. Und so bleibt zu hoffen, dass nicht nur Ostdeutsche diese Causa als eine Kampagne gegen sich erleben, denn eigentlich handelt es sich um eine Kampagne gegen und eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand: „Völlig absurder Unsinn“, um es mit den Worten des Betroffenen zu sagen.

Auch wenn manchmal ein anderer Eindruck entsteht: Die aktuell ermittelnden Hamburger Staatsanwälte wollen nicht herausfinden, ob Gregor Gysi als inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet hat. Vielmehr geht es um eine eidesstattliche Versicherung, die Gysi im Januar 2011 abgegeben hat. Damals erklärte er: „Ich habe zu keinem Zeitpunkt über Mandanten oder sonst jemanden wissentlich und willentlich an die Staats-sicherheit berichtet.“

Diese Aussage schließt beruflich veranlasste Gespräche mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht aus. Sie verneint aber eine IM-Tätigkeit und selbst vereinzelte Berichte über andere. Laut einer im April 2012 bekannt gewordenen Aktennotiz hat Gysi allerdings am 16. Februar 1989 mit Stasi-Offizieren auch über zwei Spiegel-Journalisten gesprochen. Sie hatten ihn zuvor zum DDR-Rechtssystem interviewt. Gysi streitet nicht ab, in seiner Funktion als Vorsitzender des Rates der Anwaltskollegien auch mit MfS-Vertretern gesprochen zu haben. Nach einem Hinweis prüfen die Staatsanwälte nun, ob Gysi eine falsche eidesstattliche Er-klärung abgegeben hat.

Malte Daniljuk arbeitete als Forschungsbeauftragter bis 1994 für das „Bürgerkomitee 15. Januar zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit“. Er beschäftigte sich unter anderem mit der Kooperation der Geheimdienste der Staaten des Warschauer Vertrages

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 9/13 vom 28.02.20013

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