Ich war 14, als die Mauer fiel. Und ich kann mich erinnern, dass sich in den darauffolgenden Jahren plötzlich alle möglichen Leute scheiden ließen, die ersten Kündigungen kamen, Dorfläden schlossen, immer mehr Menschen weggingen und die Alteingesessenen nur den Kopf schütteln konnten. Der totale Einbruch – immerhin gab’s Milka-Schokolade und Stone-washed-Jeans. Sehr jung ging dann auch ich: erst auf ein Schulinternat in die nächst größere Stadt, später zog ich in eine WG nach Berlin. Ich arbeitete eine Weile als Erzieherin, holte mein Abitur nach, studierte. Meine Verbindung zu Karow ist dennoch nie abgebrochen. Regelmäßig besuchte ich meine Familie, doch jenes blühende Dorf aus meiner Erinnerung, mein Kindheits- und Jugendland – das konnte ich nicht mehr besuchen, denn Karow verlor in den letzten 20 Jahren nicht nur knapp die Hälfte seiner Einwohner, sondern auch mehr als die Hälfte seiner Infrastruktur.
Ländliche Regionen kämpfen überall mit der Abwanderung, insbesondere von jungen Menschen. Dünne Besiedlung bei gleichzeitiger Überalterung der Bevölkerung, sich verschlechternde Infrastrukturen, geringe Industriedichte, die Landwirtschaft als wichtigster Arbeitgeber, der jedoch zunehmend aus den Regionen verschwindet, sind die bekannten Folgen der sogenannten Peripherisierung. Heute zählt Karow in Sachsen-Anhalt 454 Einwohner und steht stellvertretend für viele andere schrumpfende Dörfer.
Nix los hier, behaupten die Jungen
Idyllische Natur, Ruhe, Häuser stehen verlassen oder verfallen, Straßen gähnen leergefegt, aber neu, Verbundpflasterwege, Aufbau Ost, kein DSL, aber Handyklingeltöne, Windkrafträder säumen Feldränder, die Agrargenossenschaft hat noch 23 Angestellte, das Erntedankfest ist Jahreshöhepunkt mit Programm und Gulaschkanone, Heimat- und Jagdverein, Feuerwehr, kein Schmied, kein Bäcker, kein Friseur, kein Fleischer mehr. Stattdessen kommen mobile Verkaufswagen. Besser als nichts, sagen die Alten. Nix los hier, behaupten die Jungen. Wer bleibt eigentlich hier und warum? Was ist Heimat, wenn man sie nicht mehr begehen kann, wenn selbst hübsch erneuerte Hausfassaden oder die himmlische Ruhe nicht über fehlende Perspektiven hinwegtäuschen können? Diese Fragen trieben mich um.
2008 begann ich, mich mit meiner Identität und den gesellschaftlichen Veränderungen in meiner Heimat intensiver auseinanderzusetzen. Kein leichtes Unterfangen, wenn man sich zunächst mit eigenen Befindlichkeiten und beidseitigen Vorurteilen arrangieren muss. Die meisten kannten mich noch von früher, trotzdem reagierten einige anfangs etwas irritiert. Für sie war ich die Fremde: „Jetzt kommt die hier an, und denkt wohl, sie ist was Besseres. Warum will die uns fotografieren? Wir sind doch keine Fotomodelle!“ Ich verbrachte viel Zeit mit den Leuten, fotografierte zunächst sozial schwache Familien, die im sogenannten Neubau, einem 50er-Jahre-Bau, am Rand von Karow wohnen.
Als ich dann anfing, nach einem geeigneten Thema für meine Diplomarbeit zu suchen, war sehr schnell klar, dass zu viele Fragen unbeantwortet und meine eigene Position zum Thema Heimat und Veränderung nach wie vor zerrissen waren. So beschloss ich, für die Zeit meines Diploms nach Karow zu gehen und den Alltag der Menschen fotografisch zu begleiten.
Mir war wichtig, möglichst viele Ebenen von Verwurzelung abbilden und verstehen zu können. So nahm ich an allen Dorfaktivitäten teil, kegelte mit der Kegelgruppe, spielte Karten mit der Seniorensportgruppe nach dem Sport, besuchte die Menschen zuhause, trank viele Tassen Kaffee … Ich beobachtete ihr ganz alltägliches Leben – Fußballverein, Freiwillige Feuerwehr, Fahrradtouren, Grünkohlwanderung, Hühnerfüttern, Gartenarbeit. Seltsamerweise halten auch die Jüngeren daran fest, besinnen sich zunehmend auf ihre Heimat. Sie wollen in Karow bleiben, weil sie ihre Familien und Freunde nicht verlassen möchten, und weil sie Arbeit in der näheren Umgebung haben. Wer Kinder hat, ist anders verwurzelt. Die älteren Leute bleiben da, weil sie ihr ganzes Leben dort waren und gearbeitet haben. Die Jugendlichen, die keine Ausbildung finden, sind zerrissen zwischen Bleiben-wollen und Gehen-müssen, oft kam die Frage: Was soll ich denn in Bayern oder Baden-Württemberg?
Kultur im Schloss
In meiner Fotoarbeit porträtierte ich sowohl mehrere Generationen, die unter einem Dach wohnen, als auch Jugendliche, Senioren und Dorfaktivitäten. Es sind die Menschen, die sich gegen das Verschwinden stemmen, neben all dem Schwund, dem Verfall, durchaus sehr viel Eigeninitiative und Aktivitäten entwickeln. Die Fotos der leeren Dorfstraßen stehen in direktem Kontrast dazu.
Das Schloss, in dem früher meine Schule war, wurde von Menschen aufgekauft, die in der angegliederten Brennerei der alten Gutsanlage ein Kulturzentrum etablieren wollen.
Als ich letzten Monat meine Fotos in der alten Brennerei in Karow ausstellte, kamen 140 Leute, auch ehemalige Klassenkameraden. Hände schütteln, liebe Worte, alle klatschen, alle verstehen, strahlender Sonnenschein. „Was machst Du eigentlich so in Berlin? Lebst Du immer noch in einer WG? Keinen Mann? Keine Kinder? Ist Fotografieren jetzt Dein Job?“ Wenn ich an Karow denke, dann sehe ich nicht vordergründig die leer gefegten Straßen, sondern die Menschen, mit denen ich mich weiterhin verbunden fühle, auch wenn meine Wahlheimat Berlin bleibt. Karow, das weiß ich, ist eine prägende Form.
Ich musste erst weggehen, um das verstehen und abbilden zu können. Schön! Das gehört wohl zum Älterwerden … Wie die vielen Bilder, die von einem Gestern erzählen. Bilder von Leuten, die abends auf ihrem Haustritt sitzen statt fernzusehen, wenn einer mit dem Fahrrad vorbei kommt, steigt er ab und stellt sich einfach dazu. Bilder von Männern in schmutziger Arbeitskleidung, Bilder von Frauen in schönen bunten Schürzen, auch meine Mutter hat so eine getragen. Und so ist Heimat auch immer ein Nicht-Ort, eine Sehnsucht.
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Mandy Buchholz, 35, hat mit dieser Arbeit im Dezember 2010 ihr Fotodiplom gemacht (Ihr Buch heißt Karow oder die Sehnsucht nach Heimat). Ihre Ausstellung wandert und ist ab Anfang Juli beim Landesheimatbund Sachsen-Anhalt in Wernigerode sowie ab September in der Diakonie in Halle/Saale zu sehen.
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