Als sich die französische Linke, nach kurzer Betäubung durch die Wahlergebnisse des 21. April 2002, massiv zum Protest gegen Le Pen auf die Straße begab, war dies nur ein Strohfeuer. Das wortlose Abtauchen von Lionel Jospin, die internen Querelen der Sozialisten, das Verstummen der Kommunistischen Partei, der nie endende Führungsstreit bei den Grünen, all das hat eine ratlose, orientierungslose Linke zurückgelassen, deren Erbe, in Sachen Ideen wie Wählerschichten, nun der allmächtige Präsident Bruchstück um Bruchstück einsammelt.
Aber die Frage, ob und wie die Linke jemals wieder regierungsfähig wird, verblasst derzeit hinter einem Streit im intellektuellen Lager, wie es ihn nur in Paris gibt. Der Philosoph Daniel Lindenberg, Sohn eingewanderter polnischer Juden und Mitglied der PS, hat den neuesten Sturm im Wasserglas mit einem eher bescheidenen Essay Le rappel à l´ordre (Umkehr zur Ordnung) ausgelöst, an dem vor allem der Untertitel provozierte: Untersuchung über die neuen Reaktionäre.
Lindenberg denunziert keine organisierte Bewegung, sondern eine Tendenz, deren indirektes Oberhaupt der Romancier Houellebecq sei, der die politisch unkorrekten Themen und Ausdrucksweisen - wenn auch mit Talent - vorgegeben habe. Andere Namen auf der schwarzen Liste sind der Autor Maurice Dantec (SF, Tagebücher), aber auch all die bekannten und weniger bekannten Köpfe der Neuen Philosophen als da wären: André Glucksmann, Alain Finkielkraut, Blandine Kriegel, Alain Renaut, Alain Badiou et cetera. Was Lindenberg empört, ist die Aufgabe des Projekts der Moderne und die stete Bezugnahme auf Tabu-Autoren der Linken wie Tocqueville, Nietzsche, Carl Schmitt, Maurras. Für unkorrekt hält er pauschale Angriffe gegen den Islam, Kritik an der Demokratie (die französischen Intellektuellen seien im Herzen feudalistisch und elitär), an Erscheinungen der Massenkultur wie Tourismus, aber auch die bedingungslose Verteidigung des Israels von Sharon. Die Avantgarde war nicht immer fortschrittlich, sagt Lindenberg, und heute sei sie es schon gar nicht mehr. Er will am Projekt der Moderne ungebrochen festhalten. Dass diese Moderne auch zum Klonen von Menschen führt, scheint ihn nicht weiter zu beunruhigen.
Das Amalgam der Namen und Themen und die etwas altbackene Argumentation wären kaum der Rede wert, aber dass er alle subsumiert hat unter dem Begriff Reaktionär, das traf ins Schwarze. Der kollektive Aufschrei lässt auf ein echtes Problem schließen. Es gab ein breites Echo in allen Zeitungen, von Le Monde bis Marianne, es gab Manifeste und Proteste allenthalben; das Wort Reaktionär ist zur allgegenwärtigen Modevokabel geworden.
Wird hier die alte Linke ein Opfer ihrer eigenen Dichotomien? Lindenberg kann nur einen Generalverdacht äußern, was ihm dann auch die Vorwürfe stalinistischer Methoden einbrachte. Wenn die Angegriffenen allerdings von einem "neuen historischen Horizont" und von "unüberschreitbaren anthropologischen Realitäten" (L´Express vom 28.11.2002) reden, bekommt der Vorwurf plötzlich Substanz. Es ist eben doch ein neues Denken im Gange.
Die erste Verschiebung in der französischen Landschaft gab es, als die Neuen Philosophen die kulturelle Dominanz der Kommunisten beendeten. Unter Mitterrand und Jacques Lang übte sich die Linke im Utopieverzicht. Nun aber im Zeichen der Globalisierungsgegner scheint sich auf dem frei gewordenen Feld eine Ersatzlinke einzurichten, mit zum Teil denselben alten Kämpfern, und der neuen Hoffnung, die alte Flamme der Radikalität zu entfachen, vor allem im Kampf gegen die Schimäre "Amerika".
Die etablierten Philosophen, Finkielkraut, Glucksmann, Bruckner und andere, predigen ja eher eine Mäßigung, eine Abkehr von Radikalität und Nihilismus, von besinnungsloser Verklärung des Marktes durch Neoliberale wie von hemmungsloser Kritik des Kapitalismus. Am weitesten geht darin der neue Erziehungsminister Luc Ferry, der schon früh das Denken in der Tradition von Mai 68 kritisiert hat. Sein Buch mit der Titelfrage "Was ist ein gelungenes Leben?" wurde als Snobismus eines allzu erfolgreichen Philosophen gedeutet, der nun im Ministerrat thront. Aber es war nicht als persönliche Eitelkeit gemeint, im Gegenteil; es ist ein klassisch-philosophischer Essay, der ein antikes Thema in die Gegenwart transportieren will. Jeder solle sein einziges Leben als Hoffnungsprinzip eines menschlichen Lebens anlegen.
Während Jacques Chirac immer neue Namen der Linken in seinen Bann zieht (meist durch Aufträge zu Berichten über gesellschaftliche Probleme, etwa Blandine Kriegel über die Gewalt in den Medien), während die Linke nicht verarbeiten kann, dass Le Pen auch Frankreich ist (und schon seine Tochter Marine in die Umlaufbahn schickt), betreiben andere die Lieblingsdisziplin: den nostalgischen Rückblick.
Interessanter und facettenreicher als Lindenbergs laues Pamphlet ist die Abrechnung mit der Idee vom radikalen und heroischen Intellektuellen im besten und erfolgreichsten Roman der Saison, der aber ohne Literaturpreis blieb, Tigre en papier (Der Papiertiger) von Olivier Rolin. Die französische linksradikale Szene der Zeit nach 1968 wird ausgeleuchtet zwischen Lügen und Mythen und Verbrechen, eine Donquichotterie, in der echtes Blut floss, und deren Aufgabe doch eine Art schlechtes Gewissen hinterließ sowie groteske und traurige Geschichten, gebrochene Lebensläufe und nachklingende Namen, die der präzis-beiläufig daherredende Ich-Erzähler immer wieder umkreist (wie er Paris in seinem alten Citroën auf der Ringautobahn umkreist). Und doch muss man hoffen, dass dies der letzte Roman zur Nachgeschichte von Mai 68 ist.
In einer Zeit, in der die Befreiungsideen durch blutige Nachfolgeregime diskreditiert sind, die Drittweltideologie nur noch von Le Monde diplomatique vertreten, einem seltsamen Dinosaurier unter den Pariser Medien, ist es kein Wunder, dass Albert Camus wieder aktuell wird, dessen Parcours von (verbaler) Radikalität zu (nicht nur verbaler) Mäßigung führte. Camus sei radikal in seinen Nuancen gewesen, hieß es in Le Monde aus Anlass des Erscheinens seiner gesammelten Zeitungsartikel aus Le Combat.
Camus hat jeden Schritt von Widerstand oder Befreiungskampf zum Terrorismus abgelehnt (was ihm in der Zeit des Algerienkriegs zum Vorwurf gemacht wurde). Im Lichte der neuesten Erfahrungen in Algerien und anderswo bekommt seine Position, die ja kein lauer Pazifismus war, mehr Gewicht als die enragierte Gewaltphantasie eines Sartre nach 1950. Und so können die nach der verlorenen Radikalität Suchenden von heute über Camus´ Satz nachdenken: "Unsere Welt braucht keine lauen Seelen. Sie braucht brennende Herzen, die der Mäßigung den angemessenen Platz einzuräumen verstehen."
Daniel Lindenberg: Le rappel à l´ordre. Enquête sur les nouveaux réactionnaires. Paris, Le Seuil, 2002
Olivier Rolin: Tigre en papier. Roman. Paris, Le Seuil, 2002
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