Vor 300 Jahren wurde Friedrich I. zum preußischen König gekrönt. In diesen Jubiläumstagen fällt auf, dass die öffentliche Diskussion über Preußen verhältnismäßig entspannt verläuft. Selbstredend gibt es ein Interesse der Politik, regionale und nationale Geschichte in der einen oder anderen Hinsicht zu funktionalisieren. Doch das Interesse der Öffentlichkeit an Preußen bleibt eher kühl. Ein Grund für dieses geringe Interesse ist sicherlich im gegenwärtigen Bedeutungsverlust des Staates zu suchen - eine Entwicklung, die aber um so mehr dazu herausfordert, sich in diesem Moment der Entstehungsgeschichte des modernen Staates zuzuwenden. Preußen liefert hierfür ein gutes Beispiel.
Bekanntlich liegt eine Ursache für die Formierung des modernen Staates im gesamteuropäischen Desaster der Religions- und Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Da der Zerfall der religiösen Einheit, der christlichen Kirche und deren Aufspaltung in einander bekämpfende Konfessionen, einer der eskalierenden Faktoren für die Exzesse der Gewalt gewesen waren, musste die Unterordnung der Religion unter den Staat ein Schwerpunkt fürstenstaatlicher Politik werden. In der Praxis bedeutete dies die Dominanz der vom Herrscher bestimmten Konfession oder die religiöse Gleichschaltung. Die preußische Toleranzpolitik war hier eine der europäischen Ausnahmen und hat über die Einwanderung verfolgter religiöser Gruppen wesentlich zur Modernisierung und dem Aufstieg des preußischen Staates beigetragen.
Eine dieser verfolgten Strömungen war der Pietismus, und die Stadt Halle an der Saale wurde sein preußisches Zentrum. In Halle gründete auch der pietistische Theologe und Unternehmer August Hermann Francke sein modellbildendes Waisenhaus. Eine Anstalt, die neben dem Asyl auch eine Ausbildungsstätte und ein vergleichsweise großes Wirtschaftsunternehmen war. Das hallesche Waisenhaus wurde zum Vorbild für die Sozialfürsorge und -disziplinierung in ganz Preußen. Was das Waisenhaus den Waisen war, war das Armenhaus den Armen: Asyl und Disziplinaranstalt zugleich.
Anlass genug für die Franckeschen Stiftungen, sich dem Verhältnis zwischen Pietismus und Preußen in ihrer diesjährigen Jahresausstellung anzunehmen. Dieser kommt nun das Verdienst zu, auf die besonderen Zusammenhänge zwischen der Herausbildung des preußischen Staates und der mentalitäts- und gesellschaftsformenden Kraft der pietistischen Religiosität hinzuweisen. Wie die Ausstellung zeigt, einte pietistische Lebensreformbewegung und preußischer Staat ein ähnliches Menschenbild und ein bis ins Detail übereinstimmender Wertekatalog. Die berühmt-berüchtigten preußischen Tugenden wurzelten nicht zuletzt im Pietismus.
Vorrangiges Ziel des Pietismus war die christliche Besserung der Gesellschaft. Dem dienten soziale, pädagogische und wirtschaftliche Einrichtungen und eine Erziehung des Einzelnen zu Frömmigkeit, Tatkraft, Eigenverantwortung und Gemeinsinn. Tugenden wie Pflichtgefühl, Gehorsam, Bescheidenheit und Ordnungsliebe, Arbeitsamkeit, Fleiß und Sparsamkeit spielten eine tragende Rolle. Diese moralischen Werte trafen sich bestens mit den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bemühungen des Staates, anspruchslose, schulisch gebildete und hart arbeitende Untertanen für den Staatsaufbau zu engagieren.
Das rigorose pietistische Zeitregime hatte beispielsweise nicht nur den Effekt, die Effizienz zu steigern, sondern ermöglichte auch die Verlängerung des Arbeitstags. Muße und Müßiggang wurden als asozial gebrandmarkt. Auch die pietistische Idee, wirtschaftliche Tätigkeit ohne Eigeninteresse und persönliches Gewinnstreben prinzipiell gemeinnützigen Zwecken unterzuordnen, ließ sich hervorragend mit der staatlichen Wirtschaftslenkung vereinbaren.
Besonders deutlich wird die »Wertegemeinschaft« von Pietismus und Preußen an der Frage der Ordnung, zu der die äußere Ordnung der Lebensführung gehörte, also Pünktlichkeit, Sauberkeit und ein rigoroses Zeitregime, sowie die innere Ordnung, die das Setzen langfristiger Ziele und beharrliche Arbeit meinte. Diese Ordnung erstreckte sich bis in kleinste Details, wie die Anordnung des Geschirrs, der Leuchter und der Salzbehälter auf den Tischen der Speiseanstalt des Halleschen Waisenhauses verdeutlichen, für die sogar Planzeichnungen existierten.
Der Pietismus propagierte seine Wertvorstellungen in der gesamten gesellschaftlichen Breite. Die Universität Halle war darin ein wichtiger Ausgangspunkt. Hier wurden Beamte, Lehrer und Geistliche ausgebildet, auf die der Staat mit seinem Interesse an der Vereinheitlichung seines Territoriums und dem Aufbau einheitlicher Verwaltungsstrukturen angewiesen war und die in allen Bereichen und Teilen des Staates eingesetzt wurden. In Halle unterrichteten neben Pietisten auch so einflussreiche Gelehrte wie der Frühaufklärer Christian Thomasius, der Begründer der deutschen Aufklärungsphilosophie Christian Wolff, der Theologe und Hermeneutiker Friedrich Schleiermacher und Johann Peter Süßmilch, einer der Erfinder der Demographie.
Die Hallenser Ausstellung dokumentiert die beschriebenen Zusammenhänge vor allem anhand von Illustrationen und Druckerzeugnissen. Zu sehen sind Hunderte zeitgenössische Buchpublikationen, zumeist Predigten, Erziehungs- und Sittenlehren. Die Idee, historische Dokumente in der Simulation eines Archivs zu zeigen, ist so einfach wie überzeugend. Überdies gemahnt sie an die Praxis staatlicher Veröffentlichungs-, Geheimhaltungs- und Archivierungspolitik ebenso wie an die Arbeitsstätte des Historikers.
So finden sich neben zahlreichen Flugschriften, Verordnungen und Kupferstichen, die beispielsweise die Ankunft der Hugenotten in Preußen darstellen, einige Exemplare der Cansteinschen Bibeldruckerei, von denen bis 1938 immerhin 8 Millionen in den Druck gelangten. Illustre Stammbäume des Herrschergeschlechts demonstrieren die Herrschaftslegitimation und weniger illustre von Studenten und Soldaten den soldatischen Machismo. Neben Allegorien, die die Kriegsschrecken versinnbildlichen, entdeckt man Christianopolis, eine zeitgenössische christliche Staatsutopie. Stundenpläne, Tagesabläufe und Speiseordnungen verdeutlichen die praktische Seite der Predigten, Talar und Uniform die gleichzeitige Nähe und Distanz von Geist und Macht.
Als Skurrilität wird neben dem ganzkörpergroßen Gemälde eines Riesengardisten das Skelett des Porträtierten gezeigt, dem die Disziplin eine Rückradverkrümmung nicht erspart hat. In diesem Zusammenhang zählen die koloniale Darstellung afrikanischer Elefanten bei Gehorsamsübungen zu den bemerkenswerten Seltsamkeiten. Natürlich sind die unverzichtbaren Zinnfiguren zu sehen, auch ein Beichtstuhl aus dem 17. Jahrhundert und die Totenmaske Johann Caspar Schades.
Die Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen inszeniert die Allianz von Preußentum und Pietismus als archivarische, als geschichtliche Vergangenheit, deren Gegenwärtigkeit aus disparaten Quellen erschlossen werden muss. Die bei allem Abstand bis in die Gegenwart reichenden Prägungen werden nicht betont, aber dennoch deutlich. Wenn man der Ausstellung etwas vorwerfen kann, dann ist es eine zu freundliche Sichtweise auf die umfassende soziale Disziplinierung, die sich nicht einfach als fortschrittliche Sozialreform auffassen lässt. Nicht nur die Frage nach dem Gewinn, sondern auch die nach dem Preis der Reformen und denen, die ihn zu entrichten hatten, gehört zu den Aspekten der Allianz von Pietismus und Preußen.
Ausstellung in den Frankeschen Stiftungen Halle vom 26. Juni bis 28. Oktober 2001. Ein lesenswerter Katalog ist im Verlag der Franckeschen Stiftungen erschienen, vor Ort 48,- DM, im Handel 98,- DM.
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