In dieser Woche beginnen die Paralympics. Viele machen sich von den Olympischen Spielen für Menschen mit Behinderung falsche Vorstellungen. Sie denken, dass dort nur Querschnittsgelähmte zugelassen sind, kein Leistungsdruck herrscht und die Athleten kaum trainieren. Um diese Missverständnisse aus der Welt zu räumen, werde ich hier einige der Fragen beantworten, die mir seit meinen ersten paralympischen Spielen im Jahr 1988 immer wieder gestellt wurden.
1 Die Paralympics sind doch bloß ein zweitklassiger Wettbewerb?
Während anscheinend alle die Leistung eines Usain Bolt über 100 Meter problemlos anerkennen, schaut man bei den Paralympionikinnen eher auf die Behinderung als auf die Leistung. Woran das liegt? Ich denke, die meisten Zuschauer sind nach wie vor Leute ohne Behinderung, die sich nur schwer vorstellen können, wie es ist, als Behinderter zu leben oder zu so einem großen Wettbewerb anzutreten. Ich möchte es deshalb einfach mal klar sagen: Die Leistungen der Paralympioniken sind sehr hoch, ganz egal, welche Maßstäbe man anlegt. Wenn Sie mir selbst nicht glauben, dann vielleicht Keri-Anne Payne. Die zweifache Schwimmweltmeisterin und Gewinnerin einer olympischen Silbermedaille hat einmal gesagt: „Ich hab gesehen, wie diese Leute trainieren – tagein, tagaus –, und ich kann Ihnen sagen, die sind Weltklasse, auch wenn sie Behinderungen haben.“
2 Wie behindert muss man sein, um bei den Paralympics antreten zu dürfen?
Das variiert von Sportart zu Sportart. Manche Disziplinen sind speziell auf bestimmte Behinderungen ausgerichtet wie Goalball für Sehbehinderte und Blinde. Oder Boccia für Athleten mit cerebralen Bewegungsstörungen. Andere Sportarten, wie etwa Schwimmen, eignen sich für Menschen mit sehr vielen verschiedenen Einschränkungen, und man gruppiert die Athleten dann je nach ihren funktionalen Fähigkeiten.
3 Wie stark ist der Wettbewerb unter den Paralympioniken?
Wer den Siegeswillen bei den Paralympics infrage stellt, sollte sich einmal eine Runde Rollstuhl-Rugby ansehen oder „Mörderball“, wie es manchmal auch genannt wird. Man braucht nur ein paar Minuten zuzusehen, und dann weiß man, dass es den Athleten nicht am nötigen Einsatzwillen mangelt. Bei diesem äußerst aggressiven Spiel brechen sich manche Teilnehmer oft gleich mehrere Knochen. Aber ganz allgemein ist das Training in allen Sportarten genauso brutal wie bei den Olympia-Teinehmern. Und auch die Trainingsbedingungen professionalisieren sich immer mehr: So werden die britischen Paralympioniken von den besten Sportwissenschaftlern des Landes und dem English Institute of Sport betreut.
http://img9.imageshack.us/img9/1825/82732749.jpgFoto: STR/AFP/Getty Images
4 Dürfen Paralympioniken auch bei den Olympischen Spielen mitmachen?
Alle Athleten dürfen an beiden Spielen teilnehmen, solange ihnen die Ausrüstung, die sie aufgrund ihrer Behinderung verwenden, keinen unfairen Vorteil verschafft. Es gibt mehrere Athleten, die schon an beiden Spielen teilgenommen haben, zum Beispiel Neroli Fairhall und Paola Fanato im Bogenschießen, Marla Runyan in der Leichtathletik, Natalia Partyka im Tischtennis und Natalie du Toit im Schwimmen. In diesem Jahr trat Oscar Pistorius erst bei der Olympiade und nun auch bei den Paralympics an.
5 Hat ein Paralympionike schon einmal eine olympische Medaille gewonnen?
Streng genommen: nein. Bevor die Paralympics eingeführt wurden, haben es aber schon einmal zwei Menschen mit Amputationen auf das olympische Treppchen geschafft. 1904 gewann der Turner George Eyser sechs Medaillen, davon drei goldene – obwohl er nur wenige Jahre zuvor bei einem Zugunglück das linke Bein verloren hatte. Und der ungarische Wasserpolo-Spieler Olivér Halassy gewann trotz einer Unterschenkelamputation bei den Spielen in den Jahren 1928, 1932 und 1936 zweimal Gold und einmal Silber.
6 Es gibt bei den Paralympics fünf verschiedene 100-Meter-Läufe. Warum?
Weil die Behinderungen der Teilnehmer natürlich sehr unterschiedlich sind. Damit möglichst viele Athleten mit verschiedenen Einschränkungen antreten können und trotzdem die nötige Chancengleichheit gewährleistet ist, haben einige Disziplinen mehr als ein Finale. Beim 100-Meter-Lauf zum Beispiel werden also die Athleten nach ihren funktionalen Fähigkeiten in fünf Gruppen eingeteilt. Das ist im Prinzip nichts Besonderes. Denken Sie an die verschiedenen Gewichtsklassen beim Boxen, dann wird es verständlicher: Floyd Mayweather im Halbmittelgewicht und Wladimir Klitschko im Schwergewicht sind beides Weltmeister, die aber nie gegeneinander antreten werden, weil es ein unfairer Kampf wäre. Genauso wenig erwartet man von dem Prothesen tragenden Oscar Pistorius, dass er sich mit dem Rollstuhlfahrer David Weir misst.
7 Durfte ein Paralympionike schon einmal das olympische Feuer entzünden?
Einer der schönsten Momente der Olympischen Spiele in Barcelona 1992 war, als die olympische Flamme von einem brennenden Pfeil entfacht wurde, der von einem Bogenschützen in den Feuerkessel geschossen wurde. 200 Schützen waren für diese Ehre in Erwägung gezogen worden. Nur zwei Stunden bevor die Zeremonie begann, wurde dann der spanische Paralympionike Antonio Rebollo ausgewählt. Er gewann bei den Paralympics dann die Silbermedaille.
8 Ist das Wort paralympisch von paraplegisch – also querschnittsgelähmt – abgeleitet?
Viele der ersten Teilnehmer waren tatsächlich querschnittsgelähmt. Die Idee, die zu dem Namen Paralympics führte, bestand aber darin, dass die olympischen Spiele und die Spiele für Athleten mit Behinderungen parallel stattfinden sollten. Nach langen Auseinandersetzungen wurden die Spiele dann seit 1988 schließlich immer parallel in der gleichen Stadt ausgerichtet.
9 Wie sollte man sich gegenüber Paralympioniken verhalten?
Die Leute stellen mir diese Frage oft, und ich antworte ihnen, dass ich so erzogen wurde, andere Leute so zu behandeln, wie ich selbst behandelt werden möchte. Seien Sie nicht herablassend und haben Sie keine Vorurteile. Fragen Sie nicht: „Was stimmt nicht mit Ihnen?“ Wenn Sie Ihre Neugier nicht zügeln können, ist es vielleicht besser zu fragen: „Wie sind Sie Paralympionike geworden?“ Oder: „Worin besteht Ihre Behinderung?“ Behandeln Sie Paralympioniken so wie jeden anderen Menschen: Gratulieren Sie, wenn sie gewonnen haben und drücken Sie Ihre Anteilnahme aus, wenn sie verloren haben. Aber übertreiben Sie dabei nicht. Es ist auch für Behinderte normal, im Sport mal zu verlieren.
10 Lohnt es sich überhaupt, Paralympics im Fernsehen anzuschauen?
Natürlich! Die Paralympics sind keine weichgespülte Version der Olympiade. Ich bin stolz, ein Paralympionike zu sein. Genauso wie die Athleten bei der Olympiade vergießen auch wir Tränen der Freude und Enttäuschung. Als ich meine erste Medaille erhielt, hatte ich das unglaubliche Gefühl, wirklich etwas erreicht zu haben.
Marc Woods war schon als Kind ein großes Schwimmtalent. Mit 17 Jahren erkrankte er an Krebs, sein linkes Bein musste schließlich amputiert werden, seine Karriere schien beendet. Aber kaum waren die Fäden gezogen, begann er wieder mit dem Training. Und bereits ein Jahr nach dem Eingriff schwamm er schneller als vorher. Marc Woods gewann bei fünf Paralympics insgesamt 12 Medaillen. Heute ist er Botschafter der Paralympics in London. Übersetzung: Holger Hutt
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.