Ist "Big Pharma" innovativ? Kaum. Sind neue Medikamente gut? Selten. Sind die Medikamentenpreise gerechtfertigt? Nein. Belügen die Pharmafirmen die Konsumenten? Ja. Korrumpiert die Pharma-Industrie am Ende gar Politik, Wissenschaft, Ärzte? Und wie.
Wenn eine Buchautorin solche Verdikte über eine ganze Branche fällt, muss sie entweder eine durchgeknallte Wirtschaftshasserin sein. Oder es muss mit dieser Branche sehr viel im Argen liegen. Marcia Angell, von deren Buch Der Pharma-Bluff hier die Rede ist, ist gewiss nicht Ersteres, sondern eine der renommiertesten Stimmen im medizinischen Wissenschaftsbetrieb. Wenn ihr Wörter wie "räuberisch" oder "Erpressung" aus der Feder fließen, so basiert ihr Urteil auf jahrelanger Erfahrung.
Zwischen 1998 bis 2002 wurden in den USA 415 rezeptpflichtige Medikamente neu zugelassen. 133 davon enthielten neue Wirkstoffe - die anderen variierten bereits bekannte. Von diesen 133 wiederum brachten nur 58 Verbesserungen gegenüber bereits bekannten Wirkstoffen. Nur diese Medikamente - also nur 14 Prozent aller neu zugelassenen Arzneimittel - sind wirklich innovativ. Das Leukämiemiepräparat Glivec, vom Basler Pharma-Konzern Novartis entwickelt, gehört zu diesen von Angell eingeräumten Ausnahmen. Doch das Medikament, das Novartis heute rund 700 Millionen Euro pro Jahr in die Kassen spült und dem Konzern als Vorzeigeprodukt dient, wurde im Wesentlichen mit öffentlichen Forschungsgeldern entwickelt.
Anders bei Nexium, einem so genannten Protonenpumpenhemmer gegen Sodbrennen. 2001 lief ein Patent auf den Protonenpumpehemmer Prilosec von AstraZeneca aus. Prilosec war mit fünf Milliarden Euro Jahresumsatz eines der umsatzstärksten Medikamente überhaupt. Just im selben Jahr patentierte AstraZeneca Nexium, das einen Teil der Inhaltsstoffe von Prilosec enthält - Angell nennt es ein "Halb-Prilosec". Obwohl in Nexium keine anderen Inhaltsstoffe als in Prilosec enthalten sind, erhielt AstraZeneca ein neues Patent. Die Strategie ging auf: Statt der mittlerweile verfügbaren billigeren Nachahmer-Produkte verlangen Patienten und verschreiben Ärzte vorwiegend das teure, patentgeschützte Nexium.
Man könnte das als legitimes Verhalten gewinnorientierter Unternehmen auf dem freien Markt verteidigen. Und wenn Patienten das teurere Medikament nachfragen, sollten sie es haben. Ein solches Argument gerät aber von zwei Seiten unter Druck: Erstens wollen die Firmen selbst gar nicht als reine Gewinnmaschinen wahrgenommen werden, sondern sie inszenieren sich als Wohltäter, die mit ihren Arzneien Leben retten können. Zweitens kann von freier Marktwirtschaft keine Rede sein. Big Pharma ist eine risikofreie, steuerbegünstigte Branche, die ihre Profite im Wesentlichen unter Patentschutz erwirtschaftet. Sowohl das Patentrecht als auch die Praxis der Patentgewährung wurden seit 1980 immer wieder den Interessen der Pharmaindustrie angepasst. Diese unterhält beispielsweise in Washington 675 Lobbyisten - mehr als der Kongress Mitglieder hat. Innovative (und risikoreiche) Forschung betreiben in erster Linie öffentliche Institutionen mit Geldern der öffentlichen Hand; die Industrie erwirbt Rechte an den Forschungsresultaten zu Spottpreisen. So zahlen die Konsumenten zweimal: Zuerst finanzieren sie über die Steuern die zugrunde liegende Forschung, danach zahlen sie die überhöhten Preise. Dabei bringen sie deutlich mehr für Unternehmensgewinne und Marketing auf als für Forschung und Entwicklung.
Zuständig ist die Industrie immerhin für die klinischen Tests, die an eigens dafür gegründeten Forschungsfirmen oder an Universitäten in Auftrag gegeben werden; von Unabhängigkeit kann nicht die Rede sein. Bei den Mitteln, die die Pharmaindustrie laut Marcia Angell für Weiterbildung zur Verfügung stellt, handelt es sich um eine Mischung von Marketing und Bestechung - man müsste einigermaßen naiv sein zu glauben, ein Seminar an einem schönen Wintersportort, das den Ärzten gratis offeriert wird und nebst einigen Vorträgen viel Freizeit und Skiliftkarten bietet, verfolge einen anderen Zweck. Der Einfluss der Pharmaunternehmen auf die öffentliche Meinung und Wissenschaft ist so stark, dass es ihr gelingt, Definitionen von Krankheit zu verändern, so dass mehr Leute als krank gelten, und sogar neue Krankheiten zu erfinden (etwa die "erektile Dysfunktion", eine Erfindung des Viagra-Herstellers Pfizer). Das British Medical Journal hat deshalb 2002 eine Liste der "Nichtkrankheiten" erstellt.
Angells bezieht sich in ihrem Buch vor allem auf die spezifische Situation in den USA, wo die Medikamentenpreise - anders als in den restlichen Industriestaaten außer Neuseeland - von den Firmen beliebig festgesetzt werden können. Vieles lässt sich aber auf Europa übertragen, wo die Regierungen, wie der Bremer Gesundheitsmediziner Norbert Schmacke in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt, zunehmend "anfällig sind für die Rezepte, mit denen die Regierungen der USA der pharmazeutischen Industrie zu Mega-Profiten verholfen hat." In Großbritannien hat eine parlamentarische Untersuchungskommission übrigens einen Bericht über den Einfluss der Pharmaindustrie verfasst, der zu ähnlich düsteren Resultaten kommt wie Angell in ihrem Buch.
Marcia Angell: Der Pharma-Bluff. Wie innovativ ist die Pillenindustrie wirklich, KomPart Verlagsgesellschaft, Bonn/Bad Homburg 2005. 24,80 EUR
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