I will die" - ich werde sterben, waren die letzen Worte von Achidi J. Dann sackte der 19jährige Kameruner in der rechtsmedizinischen Abteilung der Hamburger Universitätsklinik in sich zusammen, Puls und Atmung setzten aus. Als der Afrikaner nach drei Minuten immer noch leblos auf dem Boden lag, erwachten die umstehenden Mediziner aus ihrer Tatenlosigkeit. Die Wiederbelebungsversuche aber kamen zu spät. Drei Tage nachdem das Herz des 19jährigen Kameruners während eines Brechmitteleinsatzes aufgehört hatte zu schlagen und anschließend der Hirntod eingetreten war, schalteten die Ärzte der Uniklinik am Nachmittag des 12. Dezember die lebensverlängernden Apparaturen ab. Der 19jährige war an einem Hirnschaden infolge von Sauerstoffmangel gestorben - so das offizielle Obduktionsergebnis des Berliner Institutes für Rechtsmedizin.
Achidi J. ist das erste Todesopfer der umstrittenen Praxis, mutmaßliche Dealer mittels eines per Sonde eingeführten Brechmittels zum Ausspucken möglicherweise verschluckter Drogenkügelchen zu zwingen. Dabei war dem sich heftig wehrenden Kameruner von einer Ärztin 30 Milliliter hochkonzentriertes Brechmittel mit einer durch die Nase geführten Magensonde in den Körper gepumpt worden. 41 Crack-Kügelchen förderten die Mediziner aus dem Verdauungstrakt des Halbtoten zutage. "Operation Drogenfund" gelungen - Patient tot.
Es war der 26. Einsatz von Brechmitteln bei einem mutmaßlichen Straßendealer in Hamburg in diesem Jahr. Für die Hamburger Koalition aus CDU, Schill-Partei und FDP ist der gewaltsam herbeigeführte Tod des jungen Mannes allenfalls ein bedauerlicher Betriebsunfall. "Auch wir sind betroffen, aber das hält sich in Grenzen", bemühte sich der Bürgerschaftsabgeordnete der Schill-Partei, Frank-Michael Bauer, nicht einmal Anteilnahme zu heucheln.
Unbeirrt kündigte die Hamburger Landesregierung unmittelbar nach dem tödlichen "Zwischenfall" an, die Brechmitteleinsätze konsequent fortzusetzen. Alles andere "wäre ein Signal, dass die Strafverfolgung in Hamburg nicht mit der gebotenen Härte durchgeführt wird", so Innensenator Ronald Schill. Drei Tage vor dem Tod des 19jährigen hatte die Hamburger Landesregierung die rechtliche Schwelle für die Anwendung eines Brechmittels drastisch gesenkt: Ein Tatverdächtiger muss nicht mehr einschlägig polizeibekannt sein, damit ein Staatsanwalt die Vergabe anordnen kann. So wurden allein an dem Wochenende, an dem das Herz von Achidi J. aussetzte, in der Hansestadt neun Schwarzafrikanern Brechmittel eingeflößt.
Inzwischen hat eine Gruppe von 39 Juristen, Wissenschaftlern und Medizinern Strafanzeige gestellt. Sie werfen den direkt am Einsatz beteiligten Ärzte und Polizisten, aber auch den politisch Verantwortlichen in der Innenbehörde "vorsätzliche schwere Körperverletzung" mit "Todesfolge" vor. Schroffe Kritik an der Brechmittel-Praxis kommt vor allem aus der Hamburger Ärzteschaft. Der Präsident der Hamburger Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, rät allen Ärzten "dringend davon ab", sich an solchen Zwangsmaßnahmen zu beteiligen. Mit deutlichen Worten fordert der Kammerchef ein sofortiges Ende der Brechmittel-Einsätze: "Der Senat muss aufhören, Menschen mit Gewalt umzubringen",
Der Aufschrei der vereinten Hamburger Parlaments-Opposition aus SPD und Grünen blieb hingegen aus. Schließlich war sie es gewesenen, die - noch als Regierungskoalition - die Brechmittel in die Hansestadt geholt hatte. Im vergangenen Juli, als sich die Wahlniederlage der rot-grünen Koalition schon abzeichnete, wollte der gerade frisch gekürte Hamburger Innensenator Olaf Scholz (SPD) das Ruder noch einmal herumreißen. Um sich an die Spitze der von CDU und Schill-Partei initiierten law-and-order-Kampagne zu setzen, verfügte der sozialdemokratische Vorzeige-Karrierist, fortan mutmaßliche Dealer zum Erbrechen zu bringen, um verschluckte Drogenkügelchen als Beweismittel sicherzustellen.
Dass die Hamburger Innenbehörde noch wenige Wochen zuvor betont hatte, Brechmitteleinsätze seien zur Beweissicherung überflüssig, unterschlugen die rot-grünen Wahlkämpfer. In aller Regel reicht vor den Gerichten schon die Aussage eines Polizeibeamten, intensive Schluckbewegungen des Verdächtigen bemerkt zu haben, als Beweismittel aus. Eine solche Beobachtung ist aber auch die rechtliche Voraussetzung für jeden Brechmitteleinsatz. So verwundert es nicht, dass es in Hamburg nach Auskunft der Justizbehörde bis heute kein einzige rechtskräftige Verurteilung eines Dealers gibt, die sich auf die bei einem Brechmittel-Einsatz sichergestellten Drogenkügelchen stützt.
Juristisch sind Brechmitteleinsätze ohnehin höchst umstritten. So befand das Frankfurter Oberlandesgericht 1996, dass das "zwangsweise Verabreichen von Brechmitteln gegen die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde und gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angeklagten" verstoße. Die Oberlandesgerichte in Bremen und Düsseldorf schlossen sich den Bedenken ihrer Kollegen aus der Main-Metropole allerdings nicht an und erklärten die Zwangsverabreichung von brechreizauslösenden Mitteln für zulässig.
Während die Hamburger CDU und Schill den Brechmitteleinsatz seit langem vehement fordern, war er von SPD und Grün-Alternativer Liste (GAL) bis zum vergangenen Sommer ebenso vehement als "menschenverachtende und gesundheitsgefährdende Zwangsmaßnahme" abgelehnt worden. "Gesundheitlich unbedenklich", befand jedoch im Juli plötzlich Innensenator Scholz, der als Vorsitzender der Elb-SPD zugleich für den Wahlkampf seiner Partei verantwortlich war, und leitete damit die Kehrtwende ein.
Auf welchen Erkenntnissen diese Einschätzung beruht, blieb Scholzens Geheimnis. Denn aus Frankfurt, Bremen und Düsseldorf, wo seit Jahren Brechmitteleinsätze durchgeführt werden, sind eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, bei denen es nach der Zwangsverabreichung des Brechsaftes zu schweren Kreislaufzusammenbrüchen, inneren Verletzungen und einem oft wochenlang andauernder Brechreiz bei den Betroffenen gekommen ist. In Bremen erhalten gar die Opfer erzwungener Brechmittel-Einsätze nach der Behandlung den schriftlichen Ratschlag: "Bei starkem Erbrechen, starkem Durchfall oder Bluterbrechen bitte den Hausarzt aufsuchen." Als lebensgefährliches Risiko gilt zudem unter Medizinern die Zwangseinführung des Brechmittels durch eine Nasensonde - sie wurde auch bei Achidi J. durchgeführt -, da diese bei einem sich heftig wehrenden Betroffenen fälschlicherweise in die Lunge geraten kann.
Auch die medizinische Fachliteratur warnt eindringlich vor schweren Nebenwirkungen der Einnahme des Saftes der in Südamerika wachsenden Ipecacuanha-Wurzel, der in Hamburg als Brechmittel verabreicht wird. In dem 1993 erschienen medizinischen Standardwerk Martindale - The Extra Pharmacopeia, werden zahlreiche häufig auftretende Komplikationen genannt. Sie reichen von Rissen im Magen und in der Speiseröhre durch ein oft zu beobachtendes unstillbares Erbrechen nach der Einnahme des mexikanischen Sirups bis hin zum Herztod. Eine Aufnahme des Brechmittels in größeren Dosen kann danach, so heißt es in dem Fachbuch, "die Herzfunktion beeinträchtigen, dabei können Leitungsstörungen oder Herzinfarkte auftreten. Diese Nebenwirkungen können in Verbindung mit einer erbrechensbedingten Entwässerung einen ... Kollaps mit nachfolgendem Tod bewirken".
Weil Ärzte Leben retten und nicht zerstören sollen, forderte Dr. Bernd Kalvelage von der Hamburger Ärzteopposition inzwischen die Ärztekammer auf, gegen jeden Arzt, der sich an einem Brechmittel-Zwangseinsatz beteiligt, wegen Verstoßes gegen die ärztliche Berufsordnung zu ermitteln. Die Brechmittel-Praxis, so der Mediziner, sei eine "Todesstrafe durch die Hintertür."
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