Es ist eine, auch von der breiten Mehrheit der Wissenschaftler geteilte, kollektive Lebenslüge, dass die Geschichte der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen eine rechtsstaatliche und demokratische Erfolgsgeschichte gewesen sei. Dieser Lebenslüge kommt gleichsam eine staatstragende Funktion zu. Denn die "normalisierte Nation", als welche sich die deutsche offiziell seit der Wiedervereinigung vorstellt, stützt ihre Rechtfertigung auf diese vermeintliche Erfolgsgeschichte, um sich im selben Atemzuge von vielen wichtigen strukturpolitischen Konsequenzen der Nachkriegszeit zu verabschieden, die für die Bundesrepublik aufgrund der von Deutschen zu verantwortenden Katastrophe des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges zwingend gewesen waren - etwa dem Gebot militärpolitischer Zurückhaltung oder dem Sozialstaatsgedanken.
Die Lebenslüge ist als solche bisher kaum systematisch in Zweifel gezogen worden. Für den Umgang mit der NS-Vergangenheit hat dies der Hannoveraner Politikwissenschaftler Joachim Perels unternommen und jenen jahrzehntelang wirksamen Widerspruch zwischen der auf den Grundrechten basierenden Ordnung und den vorherrschenden Bewusstseinsformen, welcher die Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien blockierte und zum Teil außer Kraft setzte, umfassend kritisiert. Perels konzentriert sich dabei auf die bundesdeutsche Justiz, die der Tendenz nach "den politischen Widerstand gegen Hitler illegalisierte, Straffreiheit für Schreibtischtäter gewährte, Kriegsverbrechen juristisch nicht in Frage stellte und die Diskriminierungsgesetze gegen die Juden als Grundlage ihrer Auslegung akzeptierte".
Lange Zeit war die Thematisierung der Verstrickung der akademischen Jurisprudenz in die NS-Diktatur und ihre Mitwirkung in dieser tabuisiert, da die "Interpretationshoheit" bei den reetablierten, wieder zu Amt und Würden gelangten Nazi-Eliten lag. Die Diskursivierung der Funktion, die die Rechtslehre im Nationalsozialismus innegehabt hatte, erfolgte in Deutschland erst, nachdem die alten Eliten altersbedingt aus ihren Ämtern geschieden waren. Dennoch fehle für die Charakterisierung des rechtsförmigen Umgangs mit dem NS-System in der frühen Bundesrepublik bis heute ein adäquater Begriff. Vor allem gehe das begriffliche Defizit darauf zurück, dass die Reetablierung ehemaliger Repräsentanten des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, die sich schwerste Verbrechen hatten zuschulden kommen lassen, zwar im öffentlichen Bewusstsein moralisch skandalisiert, aber nicht grundsätzlich mit der rechtlichen Struktur der Bundesrepublik und ihrem Umgang mit der NS-Vergangenheit in Verbindung gebracht wurde. Dadurch habe sich eine rechtliche Sonderzone mit einer eklatanten Affinität zum nationalsozialistischen Rechtsverständnis mitten im demokratischen Rechtsstaat herausgebildet und diesen in bestimmtem Maße außer Kraft gesetzt.
Perels bringt die innere Logik der unzureichenden rechtlichen Bewertung der Gewalthandlungen des Hitler-Regimes auf den Begriff und orientiert sich dabei nicht allein an moralischen, sondern vornehmlich an verfassungsrechtlichen Kategorien. Erst dadurch wird die Aushöhlung von Rechtspositionen in ihrer ganzen Radikalität erkennbar. "Das große Paradoxon der frühen Bundesrepublik ist, daß jenes Strukturelement maßnahmenstaatlichen Denkens, das sich auf den Ausschluß der Ahndung von Staatsverbrechen bezieht, unter den Bedingungen der rechtstaatlich demokratischen Verfassung in bestimmtem Maße in die Rechtsordnung eindringt: in die Gesetzgebung, die Justiz und die Exekutive."
Um dieses Eindringen in die demokratische Rechtsordnung geht es. Das Vorgehen der Justiz nennt Perels "antipositivistisch", weil die Richter in ihrer antisemitischen Rechtsprechung in der Regel sogar "über den Wortlaut der Gesetze hinausging[en]" Von dem Politologen Ernst Fraenkel übernimmt Perels das Theoriegebäude des "Doppelstaats", um die Handlungsvarianten der Justiz in der NS-Diktatur und damit auch die (individuelle) Verantwortung von Richtern und Anwälten für die Staatsverbrechen deutlich werden zu lassen. Der rechtstechnische Kern des Maßnahmenstaates habe darin bestanden, dass sämtliche Rechtsgarantien für den Einzelnen wie für politische und soziale Kräfte zur Disposition der Staatsführung gestellt worden seien, die beliebig über die Existenz, das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Menschen, die nicht zu den so genannten aufbauenden Kräften des Nationalsozialismus gezählt wurden, verfügen konnte. Vor allem wurde die rechtliche Gleichheit der Juden beseitigt. Der Normenstaat hingegen, der für gewisse Rechtssicherheit hauptsächlich im Kapital- und Warenverkehr sorgte, wurde von der Diktatur nicht vollständig ausgeschaltet.
In gleicher Logik wie bei der weitgehenden Sanktionsfreiheit und der Übernahme der Beamtenschaft aus dem Nationalsozialismus ("131er"-Gesetze) wurden in den Jahren 1949-1954 vom deutschen Gesetzgeber Amnestien für NS-Täter beschlossen, die Strafdelikte wie Körperverletzung mit Todesfolge und bestimmte Tötungsdelikte begangen hatten. Der Strafverzicht bedeutete, so Perels, ganz konkret eine Fortschreibung der Durchbrechung von Rechtsgarantien, wie sie bereits im Nationalsozialismus praktiziert wurde. 1954 wurde ein weiteres Amnestiegesetz erlassen, das auf dem Begriffsinstrumentarium des ehemaligen Justitiars der SS, Werner Best, in der frühen Bundesrepublik juristischer Mitarbeiter des FDP-Abgeordneten Achenbach und Kontaktperson zur Regierung Adenauers, beruhte. Perels weist darauf hin, dass Best die NS-Straftaten und Staatsverbrechen als "politische Straftaten" definierte, die mit einfacher Kriminalität nichts zu tun hätten, da sie sich nicht durch egoistische Motive auszeichneten. Durch diese taktische Argumentationsfigur wurden Tötungsdelikte als politische Straftaten verharmlost, die dann auch noch straffrei ausgehen sollten, da für sie in Anspruch genommen wurde, dass die Befehlsempfänger sich der Order nicht hätten widersetzen können (Befehlsnotstand). "Die Machtlage in der Diktatur wurde als positiver Bezugspunkt herangezogen. Es sei unmöglich, jene NS-Täter, die das Recht auf Leben zerstört hatten, an heutigen, rechtsstaatlichen Maßstäben zu messen." Die Argumentation wurde sehr lange und hartnäckig beibehalten. Erst 1998 wurden durch den Bundestag die nationalsozialistischen Unrechtsurteile aufgehoben.
Dass man sehr wohl die Taten von Nationalsozialisten an heutigen rechtsstaatlichen Maßstäben messen und sich dabei auch auf universelle rechtliche Maßstäbe stützen kann, zeigt Perels, in dem er sich auf den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und Franz L. Neumann bezieht. Neumann hatte für den amerikanischen Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) in Zusammenarbeit mit Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer die theoretische Grundlage für einen Straftatbestand erarbeitet, der zum Rechtsbegriff der Aufklärung, also der Grundrechtsformel der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurückging. Die Tätigkeit der Neumann-Gruppe zielte darauf, die NS-Funktionseliten nach der Niederschlagung des "Dritten Reiches" durch Strafverfahren dauerhaft aus dem Verkehr zu ziehen. Die Nazigesetze konnten dabei nicht immanent bewertet werden, da sonst die Morde und andere Verbrechen, die nach "gesundem Rechtsempfinden" eben eindeutig Verbrechen und Morde waren, weitgehend keinen Straftatbestand dargestellt hätten. Gerechtigkeit musste mithin an einem externen Maßstab eingeklagt werden, das heißt, an universellen Rechts- und Moralmaßstäben orientiert werden, die im Zuge der Machtergreifung der Nationalsozialisten sukzessive und beinahe vollständig aus dem deutschen Recht liquidiert worden waren. Die von der Neumann-Gruppe erstellte Grundlage diente schließlich der strafrechtlichen Verfolgung in den Nürnberger Prozessen, das heißt, dem Kontrollratsgesetz Ziffer 10 vom 20. Dezember 1945, zur Orientierung und fand Eingang in die Formulierung des Straftatbestandes "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Als in der Rechtspraxis deutscher Gerichte schließlich mit den Amnestien zwischen 1949 und 1954 von der Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen abgegangen wurde, protestierte Bauer - weitgehend vergeblich - gegen diesen Schwenk. Im Jahre 1968 wurde vom Bundestag der mittlerweile üblich gewordenen richterlichen Rechtsprechung auch noch eine gesetzliche Grundlage geschaffen, indem ins Strafgesetzbuch ein Passus (§ 50, Abs. 2 StGB) eingefügt wurde, wonach in der Bewertung von NS-Verbrechen zwischen Tat und täterbezogenen Merkmalen zu unterscheiden sei. Dieser Passus, so Perels, habe es möglich gemacht, zwischen "wirklichen" Tätern und Gehilfen zu trennen. Faktisch bedeute diese Unterscheidung die Auflösung des Täterbegriffs. Da Straftaten von Gehilfen bereits nach 15 Jahren als verjährt angesehen werden, blieb der gesamte Behördenstab des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), dem Planungszentrum des Massenmords an den Juden, von einer strafrechtlichen Verfolgung unbehelligt. Neun von zehn Einsatzgruppentätern im Dienst des RSHA, in der Regel überzeugte Nazis, wurden als bloße Gehilfen eingestuft; weil ihnen zugestanden wurde, aus nicht-egoistischen Motiven eine politische und "fremde Tat" begangen zu haben, gingen sie weitgehend straffrei aus. Von 6.497 rechtskräftig verurteilten NS-Gewaltverbrechern wurden lediglich 166 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das alles verweise auf das Gewicht "antirechtsstaatlichen Denkens unter den Bedingungen des Grundgesetzes".
Die Folgen für die Opfer des Nationalsozialismus sowie für die Glaubwürdigkeit und Qualität des Rechtsstaats dürfen nicht abgetan werden. Denn wenn im demokratischen Rechtsstaat die Rechtsgültigkeit der nationalsozialistischen Normen in bestimmten Bereichen grundsätzlich anerkannt wurde, stellte sich dieser mit dem Nationalsozialismus auf eine Stufe. Auch werden damit nach einem Wort des 1968 verstorbenen Bauer die Opfer verhöhnt.
So schließt das Buch von Perels mit einem deutlichen Hinweis darauf, was nach 1945 und bis heute - nicht nur von wenigen - zu leisten gewesen wäre, um ein staatliches und gesellschaftliches Fundament zu schaffen, auf dem sich eine wirkliche "Erfolgsgeschichte" hätte entwickeln können. Es wäre gleichsam auch die Chance einer wirklichen Einlösung des "Versprechens der Normalität", dort weiterzumachen, wo Fritz Bauer, Eugen Kogon oder Wolfgang Abendroth aufgehört haben, und ihr utopisches Vermächtnis gegen das Herrschende zu realisieren.
Joachim Perels: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime. Offizin Verlag, Hannover 2004, 384 S., 22,90 EUR
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