Wieder einmal ist der Westen schuld an allem. Genauer gesagt waren es die Römer. Die hatten eine Leidenschaft: sich in Seide zu kleiden. Seide war en vogue im zweiten Mutterreiche der europäischen Kultur, das als aufstrebende Republik sich nun etwas leisten konnte und wollte. Spätestens seit Kaiser Augustus verstärkte sich diese Lust auf edle Hüllen noch weiter. Gehandelt wurde mit und über die Völker Zentralasiens. Sie verkauften weiter an die Römer, behielten aber auch einiges von dem kostbaren Stoff für sich. Jedenfalls wusste das „Land der Seide“ – China – nun, dass eines seiner wichtigsten Handelsgüter im Westen begehrt war.
Die Eroberung des wilden Westens Chinas begann – und damit auch die Geschichte zwischen Han-Chinesen und Uiguren, die sich in diesen Tagen mit blutigem Hass begegnen und die Weltöffentlichkeit einmal mehr den Blick nach China richten lassen. Han-Kaiser Wudi (156-87 v.Chr.) jedenfalls trieb die Expansion und Erschließung der Steppen- und Wüstenregionen um die Taklamakan-Wüste voran. China verhielt sich dabei eher diplomatisch und freigiebig – wichtig waren die reichen Geschenke, um Partner und Verbündete unter den damaligen Bewohnern der Region zu finden, vor allem Seidenprodukte. Geschenke an „Fremdvölker“ machten mehr als ein Drittel des gesamten Staatsetats des Han-Reiches aus. Die heutige Region Xinjiang war vor mehr als 2.000 Jahren durchaus recht privilegiert und immerhin gelegen an der berühmte Seidenstraße.
Herrschaft und Chaos
Die Geschichte des äußersten Nordwestens des heutigen Staates China blieb nach der Han-Dynastie (206 v.Chr.-220 n.Chr.) abwechslungsreich. Dank der Seidenstraße siedelten sich ethnische Han-Chinesen dauerhaft in der trockenen Nordwestregion, gründeten dort sogar Königreiche wie das Gaochang-Königkreich nahe Turfan – nicht weit von der heutigen Hauptstadt der Unruhen Urumtschi entfernt. Letztere war nie eine uigurische Hauptstadt, sondern immer ein han-chinesisches Gebilde, das schlicht und einfach Steuerabgaben der Handelskarawanen an den chinesischen Staat sicherstellen sollte. Insofern kann von einer systematischen „Ansiedlung“ von Han-Chinesen nach 1954 in Urumtschi kaum die Rede sein. Anders dagegen die Großregion des heutigen Xinjiang: Sie war im 9. Jahrhundert Gebiet eines uigurischen Großreiches, das bald wieder zerfiel, zeitweilig aber so stark war, dass es, ebenso wie das damals mächtige Tibet, das China der Tang-Dynastie (618-906) ernsthaft bedrohte.
Muslimisch waren die Uiguren damals noch nicht – viel eher begeisterte Verehrer des Buddhismus, wovon noch heute viele Fresko-Malereien künden. Nach dem Zerfall des großen Reiches, gründete man zwei kleine: ein Nord- und ein Südreich. Der Süden wurde 934 muslimisch, was einem zeitweiligen Zusammenschluss beider Teile offenbar nicht hinderlich war. Auch Han-Chinesen lebten weiter in der Region und damit schon länger mit Uiguren zusammen als europäische Völker in ihren modernen Staatsgebilden. Seinerzeit mischten die Dschungaren kräftig mit, ein mongolisches Nomadenvolk, das im 17. und frühen 18. Jahrhundert ein Großreich besaß und weite Teile der Region einfach besetzten. Vor den Chinesen waren also die Mongolen da. Nach anfänglich friedlicher Koexistenz wurden die Dschungaren von den Han-Chinesen unter Kaiser Qianlong (1711-1799) ausgelöscht.
Erst seit 1759 gehört Xinjiang – wörtlich "Neuland" – zum chinesischen Reich. Mit der Provinzwerdung war es nicht so einfach. Da gab es nämlich einen gewissen Yakub Begh (1820-1877), der 1863 das sichergeglaubte neue Territorium den Chinesen wieder abnahm und ein Königreich Kashgarien ausrief, benannt nach Kashgar, der alten Handelsstadt im äußersten Nordwesten. Begh, der selbst Tadschike, also kein Uigure war, hatte sich antichinesische Unruhen zunutze gemacht, um sich durch einen militärischen Schachzug die brachliegende Region anzueignen.
Der kulturelle Graben zwischen den sesshaften und halbnomadischen Muslimen Zentralasiens und den religiös sehr pragmatisch eingestellten Chinesen war schon während der Qing-Dynastie (1644-1911) zu spüren. Yakub Begh jedenfalls konnte seinen Erfolg bis zum Jahr 1877 feiern. Auf besondere Gegenliebe bei der uigurischen und han-chinesischen Bevölkerung stieß der Tadschike allerdings nicht. Die Menschen hatten ihm hohe steuerliche Abgaben zu leisten, die Begh zur Finanzierung seines Königreichs benötigte. Die reichen Seidengeschenke der alten Han-Dynastie, geschuldet den ersten Wirtschaftsbeziehungen mit Westasien und Europa, gehörten unter Yakub Begh jedenfalls längst der Vergangenheit an. 1884 wurde Xinjiang chinesische Provinz. Im Chaos der Modernisierung Chinas im frühen 20. Jahrhundert wurde es zeitweise kurz unabhängig, ein richtiger Staat etablierte sich nicht. 1954 wurde die „Neuen Territorien“ erneut eingegliedert. Das ist der Status Quo bis heute.
Heute ist es weniger die Seide, als vielmehr der „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“, der China über Xinjiang mit Europa und den USA verbindet. China sah sich lange Jahre durchaus als Bundesgenossen der anti-islamischen Koalition des Westens, ohne sich dort besonders exponiert hervorzutun, nicht zuletzt aus diplomatischer Rücksichtnahme. Anders war es im eigenen Land. Wurde doch in Xinjiang die ein oder andere Bombe im Kampf gegen das ungläubige Establishment gebaut. Wenn Deutschland am Hindukusch verteidigt werden kann, dann muss das für China auch in Urumtschi gelten. So sieht es jedenfalls die chinesische Regierung – und die Logik ist dabei eine ähnliche: Es geht um den Erhalt von Systemen, die Stabilität garantieren sollen, in Deutschland wie in China.
Die Sache mit einem unabhängigen uigurischen Xinjiang ist nicht so einfach – mit der „Unschuld der Uiguren“ wäre es dann bald vorbei. Was, wenn nun wieder ein Tadschike nach der Macht im neuen Staate greift, wie einst Yakub Begh oder gar ein Kasache, ein Kirgise? Wenn Kasachstan oder Kirgisistan Lust auf eine plötzliche Gebietsvergrößerung um Territorien des alten Xinjiang bekommen? Ist der Fortschritt einer Balkanisierung Zentralasiens die Lösung? Brauchen wir noch mehr neue Nationalstaaten?
Die Kunden kommen aus dem Westen
Die Unruhen des Juli 2009 sind keine Unabhängigkeitskämpfe – noch nicht. Sie sind Ausdruck eines starken ethnischen und kulturellen Grabens zwischen meist religionslosen Han-Chinesen und islamischen Uiguren. Sie sind aber auch Ausdruck empfundener Ungerechtigkeiten. Der Anlass der Konflikte in Urumtschi waren ungeklärte Todesfälle uigurischer Wanderarbeiter in Kanton.
Hier liegt ein absolut chinesisches Problem: Wenn Xinjiang stabil bleiben soll, dann darf es keine Wanderarbeiter aus Xinjiang in Kanton geben – sondern es muss gut bezahlte Arbeit in der eigenen Provinz zur Verfügung stehen. Acht Millionen Uiguren sollten als Bruchteil der Bevölkerung des Wachstumslandes China Arbeitsplätze in Xinjiang haben – und dabei notfalls mit staatlichen Mitteln Anreize erhalten. Ganz so wie vor 2.000 Jahren zu Zeiten der Han-Dynastie. Die Kunden für ihre Produkte kamen jedenfalls damals wie heute nicht selten aus derselben Himmelsrichtung: dem Westen. Ohne sie gäbe es den heutigen Konflikt vielleicht gar nicht.
Marcus Hernig studierte Sinologie, Germanistik und Geschichte in Bochum und Nanjing und lebt seit 1992 in China, seit 1998 in Shanghai. Er war lange Jahre in der chinesisch-deutschen Bildungs- und Kulturarbeit tätig. Seit 2007 arbeitet er als Trainer und Berater für Unternehmen und Bildungseinrichtungen und als außerplanmäßiger Professor an der Zhejiang-Universität Hangzhou. Von ihm ist das Buch China mittendrin. Geschichte, Kultur, Alltag im Christoph Links-Verlag erschienen
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