Dr. Ulrich Cremers Arbeitsplatz liegt an einem geschichtsträchtigen Ort: Das Institut für Rechtsmedizin der Universität zu Köln ist dem Melaten-Friedhof benachbart. Im Laufe der Jahrhunderte fanden dort viele Prominente ihre letzte Ruhestätte, darunter der kölsche Volksschauspieler Willy Millowitsch und Hans Böckler, der Vater des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Aber: Wie viele Opfer unentdeckter Morde liegen dort? Rechtsmediziner Cremer zitiert einen Kollegen: „Wenn auf jedem Grab eines unentdeckt Ermordeten eine Kerze stünde, wären Deutschlands Friedhöfe hell erleuchtet“ Über die genauen Zahlen könne man nur spekulieren, aber rund ein Fünftel der Morde würden schlicht nicht als solche erkannt.
Andere Vertreter des Fachs benennen sogar eine höhere Hausnummer: Von 50 Prozent ist da die Rede. Jedes zweite Tötungsdelikt bliebe demnach unentdeckt und allein schon deshalb ungesühnt. Dem Fernsehzuschauer wird etwas anderes suggeriert. Die Dr. Quincys, Prof. Boernes und Dr. Kolmaars, kurz: all die Rechtsmediziner im Fernsehen, sind stets erfolgreich. Keine Tat bleibt unerkannt, kein Täter geht ihnen durch die Lappen. Und die Herren Doktoren übernehmen mitunter sogar das Zepter der Ermittlungen oder recherchieren gar auf eigene Faust und Initiative...
Dienstleister für den Staat
Das würde Ulrich Cremer niemals einfallen: „Wir Gerichtsmediziner sind Dienstleister für den Staat und werden meist im Auftrag der Staatsanwaltschaft tätig.“ Und sie sind erst das fünfte Glied in der Kette. Bevor eine Leiche in die Gerichtsmedizin geliefert wird, muss der Notarzt eine ungeklärte Todesursache diagnostizieren. Die Polizei muss die Leiche beschlagnahmen. Der Staatsanwalt eine Untersuchung anordnen. Und ein Richter diesem Ansinnen zustimmen. 1.500 Leichen aus Köln und Umland begutachten Cremer und seine Kollegen pro Jahr. Die spektakulären Fälle sind eher die Ausnahme. Meist geht es darum, Verdachtsfälle auszuräumen: Liegt tatsächlich kein Fremdverschulden vor?
Mögen sie auch ein ganz klein wenig unrealistisch sein – der 59-jährige Ulrich Cremer ist ein Freund und Kenner von TV-Krimis, in denen Gerichtsmediziner eine tragende Rolle spielen. Dr. Quincy, den Urvater des Genres, hat Cremer sogar persönlich begutachtet. Allerdings in höchst lebendigem Zustand: „Der Schauspieler Jack Klugmann war vor vielen Jahren Star-Gast einer internationalen Gerichtsmediziner-Tagung in Düsseldorf“, erinnert sich Cremer. „Da stand er als Quincy auf der Bühne und überführte einen Täter.“ Zum Gaudium des Publikums. „Das war schon ein absolutes Highlight“, freut Cremer sich noch heute. Quincys Verdienst sei es, den Beruf des Gerichtsmediziners in der Öffentlichkeit bekannt gemacht zu haben. Eine Folge der Quincy-Serie hat Cremer besonders gefallen – wegen des ausgefallenen Plots. „Ein Taucher wurde tot aus dem Meer geborgen, die Frage war, ob er unter Fremdeinwirkung starb. Quincy ermittelte: Das Opfer war von einem anderen Taucher mit dem Stachel eines Giftfisches vergiftet worden.“ Natürlich entdeckte Quincy den winzigen Einstich in einer Hautfalte am Fuß. „Respekt“, befindet Cremer, „das schafft nicht jeder!“
Je mehr Obduktionen, desto mehr Morde kommen ans Licht
Der Giftfisch als Mordwaffe – aber wie würde Ulrich Cremer morden? „Ich als Profi?“, schmunzelt der Gelehrte und denkt einen Moment lang nach. „Natürlich würde ich keinen Mord begehen“, sagt er schließlich, „aber wenn, dann würde auch ich an der psychischen Belastung scheitern und irgendetwas falsch machen.“ Nein, den perfekten Mord gebe es nicht. Und wenn doch, so würde er doch aufgelöst. Im Fernsehen ganz sicher. Und in der Realität, immerhin, mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit als noch zu Zeiten des Mauerfalls. In den letzten 20 Jahren hat die Rechtsmedizin nämlich enorme Fortschritte gemacht, vor allem im Bereich DNA-Analyse. Heute reichten auch kleinste Mengen der Erbgutmoleküle aus, um ein Opfer oder einen Täter zu identifizieren, referiert Ulrich Cremer. Der Abgleich mit den einschlägigen Datenbanken erleichtert die Arbeit. Doch die Rechtsmediziner könnten noch erfolgreicher sein. So beklagt das Forschungsprojekt „Tod und toter Körper“: In Deutschland herrsche „Obduktionsmüdigkeit“, die Sektionsrate hierzulande sei „erschreckend niedrig“. Auch Ulrich Cremer macht eine simple Rechnung auf: „Je mehr Obduktionen, desto mehr Tötungsdelikte werden entdeckt“.
Mitunter werden Filmteams bei den Kölner Rechtsmedizinern vorstellig. „Meist bearbeite ich die Anfragen“, erzählt Ulrich Cremer. Auch die Macher des Tatorts Münster habe er beraten. Wenn auch nur zu Detailfragen: Welche Geräte benötigt man für eine bestimmte toxikologische Untersuchung?, lautete die Frage, nicht: Wie verhalte ich mich als Gerichtsmediziner am Tatort? Cremer schmunzelt: „Professor Boerne ist ein Spurenvernichter, unglaublich, wie der am Tatort rumtapst!“ Und doch sei der fiktive Kollege „sehr amüsant. Auch sein Zusammenspiel mit Kommissar Thiel und dessen Vater finde ich höchst komisch.“ Man dürfe den Tatort Münster halt nicht allzu sehr an der Realität messen. Er sei, sagt Ulrich Cremer lapidar, Unterhaltung. Gute Unterhaltung.
"Ich würde aufhören, wenn ich jeden Abend einen Whiskey kippen müsste"
Ulrich Cremer wird nachdenklich. „Wir Gerichtsmediziner sehen permanent in menschliche Abgründe. Ich bewahre eine empathische Haltung für menschliche Schicksale, habe aber eine professionelle Distanz entwickelt.“ Jenseits des „Leichenwesens“ müssen Cremer und Kollegen auch lebende Opfer und Beschuldigte von Gewaltverbrechen begutachten. Darunter auch (mögliche) Opfer von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch. Hinzu kommen Forschung und Lehre. Ob er bei all dem Stress und all dem Leid schon mal an einen Jobwechsel gedacht habe? „Nein, aber aufhören würde ich, wenn ich abends erstmal einen Whiskey kippen müsste.“
Kein Whiskey also. Cremer schaltet lieber den Fernseher ein, um abzuschalten. Sein Idealbild des Gerichtsmediziners im TV? „Er muss abgeklärt ermitteln und darf sich nicht zu tolpatschig anstellen.“ Wenn die Story dann noch eine überraschende, aber gut konstruierte Wendung nimmt, dann ist der Fernsehabend für Cremer perfekt. Der letzte Zeuge, ZDF, 1998 bis 2007?„Ja, bei dieser Serie kann man durchaus sagen: Ich bin ein Fan“, lacht Cremer. „Die habe ich immer wieder sehr gerne angesehen.“ Die Fälle, das Drehbuch, die Figuren – „das hat alles einen hohen Realitätsbezug und ist zugleich beste Unterhaltung, auch für Rechtsmediziner“. Sein besonderes Lob gilt dem Hauptdarsteller Ulrich Mühe alias Dr. Robert Kolmaar: „Mühe wurde der Deutsche Fernsehpreis völlig zu Recht verliehen“. Der vor zwei Jahren verstorbene Schauspieler „war einfach grandios“. Dann ergänzt Cremer: „Der letzte Zeuge triefte nicht so vor Blut, das wäre auch nicht mein Ding!“
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