Dem schwarzgekleideten Gast aus dem Vatikan platzte am Lido der steife Kragen: Die Auswahl an der Mostra sei zu pornografisch, wetterte der Kardinal Poupard. Aber rund um die weiße Weste des Festivalpalasts blieb der erregte Kirchenmann im lasziven Treiben der Passanten bloß ein Rufer in der Wüste. Denn der neue Festivaldirektor Alberto Barbera hatte im gestutzten und umstrukturierten Programm mit viel Sex eine heiße Spur gelegt. So sicherte er sich die Neugier der schaulustigen Besucher mit nackten Tatsachen. Über den Streit um die »Mostra del sesso« orakelte ausgerechnet die begehrte Schauspielerin Monica Bellucci: »Es gibt so viel Sex im Kino, weil es so viel Einsamkeit im Leben gibt.«
Schon die Eröffnung des Festivals mit Eyes wide shut
yes wide shut enttäuschte die fiebrigen Erwartungen. Die atemberaubende Obsession blieb aus, aber der Film riss an ganz anderer Stelle Alptraum-Abgründe auf.Der New Yorker Arzt Bill (Tom Cruise) wird durch eine erotische Phantasie seiner Frau aus der Bahn des ehelichen Vertrauens in die Spiralen der eigenen Begierden geschleudert. In seiner Reise zwischen Traum und Wirklichkeit filmt Kubrick die Verführungen und Exzesse aus einer beinahe altväterlichen Distanz, um tiefer in das mentale Labyrinth der sexuellen Wünsche vorzudringen. In seinem moralischen Märchen, das auf Schnitzlers Traumnovelle beruht, wandert der maskenhafte Tom Cruise wie eine ferngesteuerte Kafka-Figur durch das Räderwerk der Versuchungen und kommt dabei immer (sexuell) zu kurz: Ein Film als endloses Vorspiel. Denn das Begehren schlägt nur in seinem Kopf Kapriolen. Mit Spiegeln, Masken, und den vieldeutigen Blicken der Nicole Kidman kreist Kubrick um das Geheimnis und die Bruchstelle einer Beziehung. Aber wenn der Zuschauer in die Intimität des Glamourpaares Cruise/Kidman blicken will, wirft der beinahe freud-lose Doktor Kubrick die voyeuristischen Erwartungen wie in einem Spiegel zurück - bis die Angst vor Nacktheit und Entblößung den Zuschauer selber beschleicht und beunruhigt.Ganz anders als im italienischen Film Guardami über die Lebensgeschichte einer krebskranken lesbischen italienischen Porno-Darstellerin, der zwischen halbherziger Charakterstudie und spießiger Porno-Reportage steckenblieb. Oder dem südkoreanische Film Lügen von Jang Sun Woo, der die sadomasochistische Affäre der 18jährigen Schülerin mit einem älteren Künstler so lieblos zeigte, dass sich die Figuren unter dem lieblosen Blick des Regisseurs von Loch zu Loch vorarbeiten und mit Gerten, Stöcken und Peitschen traktieren müssen - bis die Machtverhältnisse umschlagen. Und bis das rohe Ritual einer körperlichen »amour fou« die Zuschauer mit eigenen Begierden schon längst aus dem Kino getrieben hat.Im subtilen Kammerspiel Une liaison pornographique zeigt dagegen der belgische Regisseur Frédéric Fonteyne, wie eine reife Frau über eine Kontaktanzeige einen Mann findet, mit dem sie bestimmte Sex-Phantasien ausleben kann. Wenn Sie (Nathalie Baye) und Er (Sergi Lopez) sich auf neutralem Terrain in Cafés und Hotels einmal pro Woche treffen, soll keine Psychologie ihre Beziehung beeinflussen. Aber sie tanzen nicht Den letzten Tango in Paris. Da auch der Zuschauer vor der roten Hotelzimmertür warten muss, bleibt die Affäre spannend. Was sie bei ihren Rendezvous treiben, ist ein Geheimnis. So muss der Zuschauer über die Leerstellen weiterphantasieren. Dann entsteht aus der nüchternen Versuchsanordnung eine umgekehrte Liebesgeschichte, die vom sexuellen Experiment, vom Tauschgeschäft ohne Verführung bis ins Unterholz der Gefühle vordringt. Da Nathalie Baye dabei ihre erotischen Wünsche souverän und witzig an den Mann bringt - wurde sie in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet.Auch Jane Campion rief in Holy Smoke zur erotischen Nachhilfe auf. Da die rebellische Ruth (Kate Winslet) auf der Suche nach gu ten Taten und kosmischer Liebe in die Fänge eines indischen Gurus gerät, versucht ihre Familie, sie von einem angeheuerten Sekten-Austreiber wieder von der seligen Wolke zurück auf den kargen Boden der Tatsachen zu zwingen. Die Umerziehung in der abgelegenen Wüsten-Hütte soll drei Tage dauern. Aber schnell erliegt der alternde Macho PJ (Harvey Keitel) Ruths jugendlicher Energie und Erotik. Aus spiritueller Sehnsucht wird sexuelle Sucht, bei dem der entwaffnete Mann die Klaviatur der Sinnlichkeit - wie einst im Piano - neu lernen muss. Wenn dann Harvey Keitel im roten Kleid durch die australische Steppe rennt und wimmernd in die üppigen Arme der leuchtenden Putte Kate Winslet sinkt, träumt Campion vom Rollentausch der Geschlechter und der alles verändernden Macht der Liebe.Zwischen Ruths erleuchteten Visionen, tragischer Liebe und kleinbürgerlichem Familienchaos lässt Campion mutig Pathos auf Parodie und Kitsch treffen. Bis sie dabei aus der Spur gerät. Ihr Film wirkte aber lebendig, weil sich Campion darin so entspannend lächerlich macht, wie es nur Verliebte können.Daher musste ihr augenzwinkerndes feministisches Passionsspiel leer ausgehen.Sexbesessen war Woody Allen schon immer. Aber am lüsternen Lido fiel seine Diskretion diesmal besonders auf: Sean Penn spielt den grosspurigen Musiker Emmet Ray, der nichts so fürchtet wie sein Vorbild Django Reinhardt und so in seine Kunst vernarrt ist, dass er lieber mit der Gitarre als mit einer Frau ins Bett zu gehen scheint. Wenn der Dandy auf der Strandpromenade dann ein stummes Mädchen (Samantha Morton) verführt, zeigt Allen als Meister der erotischen Ellipsen nur eins: Vorher und Nachher. Denn zwischen dem eitlen Anspruch und der nachträglichen Verklärung liegt der wahre (Männer-)Witz. Und nur im Wortspiel können sich Allens Eroberer richtig entfalten. Allens fiktive Biographie des Jazz-Musikers aus den dreissiger Jahren erinnert an das Leben seine Chamäleons Zelig. Aber ohne den charmanten und arroganten Verwandlungskünstler Sean Penn wäre daraus bloss eine neue Fassung vom Allen'schen Spagat zwischen Kunst und Leben geworden. So aber macht Penn seinen kindlichen Helden zum männlich-gewitzten Feigling, der sich mit Macho-Allüren vor den eigenen Gefühlen drückt.Während auch dieses Jahr amerikanische Regisseure wie Spike Jonze in Being John Malkovich oder David Finchers in Fight Club mit doppelten Identitäten spielten, suchten viele Filme in Venedig Einblicke ins Private: Als wollten sie dem Körper seine letzten Geheimnisse entreißen und alles zeigen.Die nagende Frage, ob die dänischen Dogmatiker um Lars von Trier den Trend zum schnörkellosem Realismus (schon seine Idioten erfreuten sich echter Erektionen) nur frühzeitig gewittert oder beschleunigt hatten, entschärfte eine Bootsfahrt zur Kunstbiennale am anderen Ufer der Lagune. Dort zeigte sich, dass die zeitgenossische Avantgarde schon seit Jahren nach den Formen des Intimen und des Körpers forscht. (Kein Zufall also, dass Cindy Sherman in der Jury der Filmfestspiele saß.)In Venedig wagten sich (nach dem Ende der ideologischen Gewissheiten) Regisseure wie Campion, Kubrick oder Fonteyne mit unterschiedlicher Finesse an die Grenzen des Sichtbaren - tasteten sich vor ins Reich der Sinne, Träume und Fantasmen.Ausgezeichnet hat die Jury unter Emir Kusturica dann aber nicht die Filme aus der Grauzone der Begierden und schwankenden (erotischen) Identitäten, sondern die einfachen Geschichten mit gutem Willen und klaren Absichten von Zhang Yimou (Gold für Not one less), Zhang Yuan (besonderer Regiepreis für 17 Years) und dem epischen Minimalisten Abbas Kiarostami (Silber für Le vent nous emportera).In Yimous Not one less muss sich eine junge Hilfslehrerin in der chinesischen Provinz gegen die Armut, ihre aufmüpfige Schulklasse und die Tücken der Rechtschreibung behaupten. Als einer ihrer Schüler zum Arbeiten in die Stadt geschickt wird, will sie ihn mit allen Mitteln zurückholen. Ihre Odyssee rührt durch die zurückhaltende Regie und die frischen Laiendarsteller. Yimous Lehr-Stück über die hartnäckige Ehrlichkeit gipfelt in einer unerwarteten Solidarität der Stadt- und Medienmenschen für das arme Landvolk, die wie eine sentimentale Eloge auf das chinesische Schulsystem wirkt. Der in China zensurierte Regisseur Zhang Yuan zeigt dagegen in 17 Years das Schicksal einer jungen Frau, die ihre Schwester im Affekt tötet und nach 17 Jahren Gefängnis wieder am Neujahrstag ihre Eltern besuchen darf. Dabei ähneln sich die Blicke in chinesische Gefängnisse und in die schweigende Festung der Familie: Wie die Tochter einen Platz in der Gesellschaft finden und vom Vaters wieder akzeptiert werden muss, endet bei Yuang zwar versöhnlich, aber ohne die Risse in der Familie zu übermalen.Ein anderes Familiendrama spielt in Luna Papa des jungen tadschikischen Regisseurs Bakhtiar Khudojnazarov (Barat). Nachdem die 17jährige Mamlakat in einer Vollmondnacht von einem Fremden verführt wird, machen sich ihr debiler Bruder (Moritz Bleibtreu) und ihr Vater auf die turbulente Suche nach dem Verantwortlichen, um die Familienschande abzuwenden. Dabei segeln Kühe durch die Luft, Schafe werden vom Flugzeug aus geklaut, und verirrte Kugeln schalten den einzigen Frauenarzt des Dorfes aus: Bis die bedrohte Mamlakat auf einem fliegenden Dach schließlich vor den aufgebrachten Moralaposteln ihres Dorfes direkt in den Himmel fliehen kann. So entfaltet sich in der zentralasiatischen Weite ein chaotisches Märchen, das vor lauter Phantasie aus allen Nähten platzt.Anders als bei den vielen Reisen in die Obsessionen und den Flirts mit dem pornographischen Blick fragte Harmony Korine, der junge Drehbuchautor von Larry Clarks Kids, in Julien Donkey-Boy radikal nach den echten Tabus. Im sechsten Film der Dogma-Reihe wirft Korine wie in seinem Filmdebüt Gummo einen Anker ins Herz der zersplitterten Familie. Die impressionistischen Brocken, die dabei auf die Leinwand treiben, lassen die Grenze zwischen Dokument und Fiktion verschwimmen: In seiner Collage aus Polaroidfotos, körnigen Videopassagen, Farbspielen und Standbildern hat er ohne Drehbuch einen impressionistischen Experimentalfilm gedreht, der auch als manieristische Installation in einer Galerie bestehen könnte. Aber Korine erzählt vom schizophrene Julien, der in in einer Blindenschule arbeitet. Er begehrt seine schwangere Schwester Pearl (Chloé Sevigny) und sucht die Anerkennung seines autoritären Vaters (Werner Herzog), der seine Kinder zum Erfolg trimmen will. Daher will Julien unbedingt ein »echter Mann« und »Sieger« werden und treibt zuhause Sport mit der Gasmaske. Seine Umgebung ist lieblos. So richtet sich seine Wut auf wehrlose Objekte, Kinder, Tiere. Aber die Brutalität bleibt unerklärt. Korines Schockszenen sind keine bloße Provokation, sondern werden zu einem Strom mit Sogwirkung, in dem immer wieder zärtliche Blicke auf seine eigenwilligen Helden aufblitzen. Nachdem seine Schwester Pearl beim Eislaufen stürzt und eine Fehlgeburt hat, klaut sich Julien den Fötus und verkriecht sich damit im Bett. So wie sich Korines Bilder vom Hunger nach menschlicher Nähe im Kopf des Zuschauers einnisten, stehlen sie den hautnahen und sexwütigen Filmen der diesjährigen Mostra die Schau: Denn sie berühren die schmerzhafte Grenze - das schutzlos Intime.
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