Kunst und Schlamm

52. FILMFESTSPIELE IN CANNES Am Ende des Jahrhunderts gehen die Realisten auf die Straße und erzählen wieder einfache Geschichten vom Altern und von der Kindheit

Der Krieg der Sterne blieb aus. Und auch die Augen waren weit geschlossen. Da weder die Filme von George Lucas noch Stanley Kubrick nach Cannes gekommen waren, gab es lange Gesichter. Im letzten Jahr hatten apokalyptische Visionen und dänische Dogmatiker das Festival befeuert, aber diesmal ließ Festival-Chef Gilles Jacob die vermißten amerikanischen Großproduktionen unerwähnt und versprach statt dessen ein reines Kunstfilmfestival. Da wirkte es beinahe aberwitzig, daß der Eröffnungsfilm Der Barbier von Sibirien ausgerechnet aus Rußland von Nikita Michalkow kam, der alle Exportartikel vom tanzenden Bären und Kaviar bis zu den wodkaseligen Generälen zum folkloristischen Historien-Jahrmarkt stilisierte. Daß Michalkow selber darin den Zaren Alexander III. spielte und die russische Monarchie feierte, bot dagegen kaum politischen Zündstoff. Sein Film wurde belächelt, und dem angeblichen Präsidentschaftskandidaten schlug an der Croisette nur müde Gleichgültigkeit entgegen.

Vom Wunderkind Leos Carax, der nach Die Liebenden von Pont-Neuf acht Jahre keinen Film mehr gedreht hatte, wurde dann Pola X als der Kunstfilm par excellence mit Spannung erwartet. Aber das »Meisterwerk« nach einer Vorlage Herman Melvilles enttäuschte. Wenn anfangs die Bomben des Zweiten Weltkriegs auf Gräber fallen, sollte klar werden: es geht um den Abstieg ins Totenreich. Zwischen Licht und Schatten fühlt sich dann auch Pierre (Guillaume Depardieu) hergezogen - zwischen den grünen Wiesen, dem großbürgerlichen Leben im Schloß mit seiner Mutter (Catherine Deneuve) und blonden Freundin und der geheimnisvollen Halbschwester Isabelle (Katarina Golubeva), für die er den Komfort aufgibt und in besetzten Fabriketagen landet. In seinen düsteren Passagen entwickelt der Film oft einen phantomhaften Sog, aber das Spiel mit starken Kontrasten reicht bei Carax nicht für große Gefühle - auch wenn seine Kamera den Sex so erregend wie kaum ein anderer einfangen kann. Denn mehr noch als die Liebe will Carax den Status des Künstlers ins Bild bringen: einsam am Schreibtisch ringt er um Reife, fühlt sich unverstanden, ausgestoßen. Begleitet wird er dabei von den blonden und schwarzen Musen. Frauen bleiben bloße Traumwesen von einem anderen Stern. In seinen Selbstzweifeln kasteit sich Pierre als »Aufschneider« und läuft schließlich Amok gegen die Gesellschaft. Eine romantische Sicht des 19. Jahrhunderts, die Carax ohne jede Ironie in die Gegenwart überträgt. Wenn im letzten Bild Pierre von seinen flatternden Manuskriptblättern weg verhaftet wird und mit einem goldenem Umhang wie Jesus im Polizeiwagen sitzt, hat Carax die Stilisierung des Schriftstellers als Außenseiter und »poète maudit« auf den peinlich-pathetischen Gipfel getrieben.

Im Wettbewerb von Cannes hatten sich auch andere an die Literatur gehalten - als verspreche sie dem Kino einen höheren Kunstwert. Raoul Ruiz verfilmte Proust als elegante Melancholie-Maschine, Manoel de Oliveira nahm sich in »La Lettre« bei dem Roman von Madame de Sevignys Die Prinzessin von Kleve viele Freiheiten, und Arturo Ripstein machte aus der Garcia Marquez-Novelle Kein Brief für den Colonel eine tragikomische Studie über das Altern.

Erst Pedro Almodovar konnte das Publikum an der Croisette aus der Langeweile reißen. In seinem Melodram All about my mother macht sich eine Krankenschwester nach dem Unfalltod ihres Sohnes auf die Suche nach dem Vater. Sie trifft in Barcelona auf Theaterdiven, Transvestiten und schwangere Nonnen, die aber bei Almodovar keine hysterischen Chargen bleiben, sondern lebendig werden. Das enfant terrible der »movida« hat seinen Geschmack für grelle Farben und Einrichtungen sowie für elegante Kamerafahrten nicht verloren, aber jetzt sprengen die Gefühle das Dekor. Auf dem Sofa oder in der Loge schnattern, schwärmen und weinen seine Schauspielerinnen Cecilia Roth, Penelope Cruz oder Marisa Paredes - bis daraus eine glühende Hommage an die Intimität und die Verwandlungskunst der Frauen entsteht, die aber ganz ohne den Sarkasmus eines George Cukor (The Woman) auskommt und in Cannes mit dem Regiepreis gefeiert wurde.

Wie man sich seine eigene Familie durch Freundschaften wählen, sich erst mit Silikonbrüsten »authentisch« fühlen kann und trotz Schicksalsschlägen Kinder in die Welt setzen will - Almodovar zeigt in seiner Komödie der herben Untertöne eine ungewöhnliche Reife. Er wirbt unaufdringlich für Toleranz und Zivilcourage, pfeift auf die Logik der Kleinkrämer, jagt seine Geschichte durch die wildesten Zufälle und kehrt in den verschiedenen Mäandern und Symbolen immer wieder zum Schwerpunkt seiner Figuren zurück - das Herz.

Bei Atom Egoyan sind die Umwege zu den Muttergefühlen komplexer. In Felicias Journey sucht die 17jährige Felicia in einer kleinen irischen Stadt nach ihrem Freund, dessen Kind sie im Bauch trägt. Auf ihrer Odyssee in grünen Feldern, Industrielandschaften und verschlossenen Familien trifft sie auf den rundlichen Hilditch, der sich abends die Kochsendungen seiner Mutter zum Vorbild nimmt und mit Vorliebe junge verlorene Mädchen vom Straßenrand sammelt, um ihren Vertrauten zu spielen. Hinter der jovialen Fassade von Bob Hoskins spiegelt sich der Schmerz über die unverdaute Kindheit, und der fiebrige Blick von Elaine Cassidy zeigt, wie die Unschuld Felicias durch eine Reihe von Ernüchterungen zerfällt. Die Fronten zwischen der Schönen und dem Biest, dem Opfer und dem Monster sind nie überschaubar. So legt sich eine an Hitch cock erinnernde Bedrohung über das Geschehen. Da sie die Angst vor der Bemutterung oder dem Mutterwerden treibt - gehören Felicia und Hilditch beinahe zur selben Familie. Aber während Felicia noch an die Macht des geschriebenen Wortes glaubt, schwört der ansonsten so altmodische Hilditch auf die Bilder: er filmt die Gesichter seiner todgeweihten Opfer, aber läßt für seine abendlichen Eßritale die Videos seiner kochenden Mutter laufen. Festhalten, Aufzeichnen, Kontrollieren, Erinnern - für Egoyans männliche Manipulateure haben Videopassagen ganz verschiedene Funktionen. Oft suchen sie dabei nach einem »greifbaren« Kontakt zur Vergangenheit und eine Idealisierung der Gegenwart. Wie schon in seinem ersten Film Family Viewing zeigt Egoyan, daß aus dem Wunderland der Kindheit alle Schuldgefühle, Ängste und Abhängigkeiten des weiteren Lebens hervorgehen können. Nur über eine echte Trauer scheint Felicia erwachsen werden zu können. So bekommt das Märchen vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf eine ungemütliche, unversöhnliche Note.

Während Egoyan sein altes Thema vom Geheimnis der Kindheit und der unsicheren Identität in dem verführerischen Schema des Krimis verpackt und zugänglich erzählt, haben sich auch andere Regisseure in Cannes wieder für geradlinige Geschichten interessiert, die das Kino in seinem elementaren Drang nach Bewegung kennt: On the Road again

Bei Jim Jarmusch erledigt Ghost Dog, ein schweigsamer Auftragskiller, seine Arbeit nach den strengen Regeln der Samurais. Nachdem Jarmusch sich für Außenseiter aller Farben interessierte, ist er nach den Indianern in Dead Man jetzt in der Hip-Hop-Familie der Schwarzen gelandet. Aber Jarmusch liefert keine Illustration vom schwarzen terrorverbreitenden Macho. Während Forest Whit aker sich mit stoischer Miene und Schalldämpfer auf den Weg macht, umspielt er die Codes des Krimi-Genres: Der moderne Samurai läßt sich seine Aufträge per Brieftaube schicken, lungert lieber an der Eisbude seines Freundes herum, anstatt seine Waffen zu putzen, und diskutiert mit kleinen Mädchen im Park über japanische Literatur, anstatt sich in Nachtklubs mit Flittchen zu amüsieren. Wieder spielt Jarmusch mit dem Witz der Langsamkeit, aber sein Held wirkt diesmal noch vergrübelter und müder. Als wäre er nur zufällig in die tragischen und burlesken Situationen verwickelt worden und würde sich lieber von allen unbemerkt durch die Stadt treiben lassen. Als Ghost Dog einen Auftrag nicht ausführt und sich damit selber zur Zielscheibe der Mafia macht, wird der Film zur Meditation über einen aussterbenden Stamm, über den sanften Widerstand gegen die Beschleunigung des Lebens. Aber die Szenen sind nur lose miteinander verbunden. Ihr Sog bleibt aus. Dabei erinnern der Film eher an Comic-Streifen und an einen löchrigen Gedanken.

Jarmusch, der bescheidene Drifter aus New York, traf dieses Jahr in Cannes auf einen Geistesverwandten aus Japan. Auch Takeshi Kitano, dessen frühere Filme vor Gewaltausbrüchen strotzten, stellt ein lakonisches Paar zusammen: ein müder, einfältiger Yakuza und ein unglücklicher Junge machen sich auf die Suche nach der Mutter. Ihre Reise erinnert anfangs an Wenders Alice in den Städten: das Kind übernimmt die éducation sentimentale des Erwachsenen. Aber Kitano inszeniert nicht nur seine Komik in langen Szenen, die in witzigen Ellipsen enden, sondern spielt selber die Hauptrolle mit einer lakonischen Schüchternheit. Kindisch, linkisch, ruppig.

Ausgerechnet David Lynch, dessen Lost Highway mit seinen spiralförmigen Strukturen jede Menge Kopfzerbrechen bereitet hatte, kam dieses Jahr mit einem Wunder an Minimalismus an die Croisette: In The Straight Story klappert der alternde Dickkopf auf seinem Rasenmäher hunderte von Meilen über die Landstraßen Iowas, um sich mit seinem Bruder zu versöhnen, den er zehn Jahre lang nicht mehr gesprochen hat. Unterwegs trifft der verschrobene Alvin Straight auf die verschiedensten Menschen. Die Tramperin, mit der er eines Abends Frankfurter Würstchen am Lagerfeuer ißt oder die debilen Zwillinge, die ihm sein Gefährt flicken - sie könnten durch einen stilistischen Kniff leicht in zu den alptraumhaften Schemen in Lynchs früheren Filmen wie Twin Peaks werden. Aber der Surrealismus und die Abgründe des Unbewußten haben in diesem schneckengleichen Road movie keinen Platz. Lynch sieht und hört seinen Figuren zu. Wenn er anfangs die Kamera von den Sternen über die Kornfelder fliegen und im Vorgarten des Helden landen läßt, zeigt er bescheiden, daß seine gefühlvolle Miniatur-Geschichte über die Langsamkeit und das Altern universale Bedeutung haben und im Zeitalter des Jugendkults wieder zum Zeichen echter Avantgarde werden kann.

Auch andere Regisseure haben sich den rohen Formen genähert - als hätte die Idee des Dogmas (Festen und Idioten liefen damals im Wettbewerb) vom letzten Jahr Schule gemacht. Als seien sie alle am Ende des Kino-Jahrhunderts auf der Suche nach der verlorenen Unschuld des Filmemachens. Der Brite Michael Winterbottom hatte bisher stilisierte Filmen wie Jude oder I want you gedreht. Jetzt hat er sich in Wonderland der Tradition des britischen Realismus à la Ken Loach genähert und mehrere Figuren hautnah mit einer fast dokumentarischen Kamera in ihrem Londoner Alltag verfolgt: Eine junge Kellnerin antwortet auf Kontaktanzeigen, ein älteres Ehepaar vegetiert schweigend aneinander vorbei, ein junges Paar fürchtet die Geburt ihres ersten Kindes, eine alleinerziehende Friseuse sammelt Affären. Anders als in anderen Filmen über die Sehnsüchte und Einsamkeiten von Großstädtern findet Winterbottom eine besondere Authentizität: Er wirft einen so genauen Blick auf den Überlebenskampf des Einzelnen, daß in seinen Short Cuts auch die dokumentarisch eingefangenen Gesichter von verhärmten Bingo-Spielern oder von staunenden Kindern beim Feuerwerk zum Ensemble seiner Schauspieler zu gehören scheinen. Ob der Einzelne in der Masse verschwindet oder dann wieder in einer alltäglichen Geschichte auftaucht - immer wirkt das Zusammenleben bei Winterbottom als die schwierigste aller Utopien. Wenn aber das junge Paar sein neugeborenes Kind dann Alice nennt, scheint das Wonderland nicht weit zu sein.

Als Antwort auf die Londoner Loner zeigte Jacques Maillot in seinem Erstlingsfilm Nos vies heureuses, wie sechs Freunde in Paris nach einem Zentrum für ihr Leben suchen, und verstrickte ihre Erfolge und Niederlagen in ein feines Fresko ohne den typisch französischen Zynismus.

Den radikalsten Film lieferte Bruno Dumont. In langen Einstellungen von L'Humanité macht sich ein Dorfpolizist auf die Suche nach dem Mörder einer jungen Frau. Was mit dem unerträglichen Blick auf die blutige Vagina des Opfers beginnt, entwickelt zwischen den Schwenks über Landschaften, animalischen, ungeschönten Sexszenen und den lähmenden Ritualen des Dorflebens einen unangenehmen Sog. Eine protestantische Strenge liegt in den Bildern, als sollten sie philosophische Ideen von Leiden in und an der Welt transportieren. Die Schauspieler ähneln dabei eher viel Projektionsflächen und bieten nur wenig Psychologie. Sie scheinen nicht zu spielen, sondern zu »sein«. Da in dem Normandie-Kaff ohnehin wenig geredet wird, bleiben ihre Motive zwar rätselhaft, aber es entsteht oft burleske Komik. Schon bevor er im Laufe seiner Untersuchung mit der monströsen Banalität des Bösen begegnet, leidet der Dorfpolizist Pharaon de Winter seit dem Tod seiner Frau und Kinder an der Leere. Und scheint dann wie ein moderner Jesus die Schuld der anderen auf sich zu nehmen wollen. Daß die Jury unter Vorsitz von David Cronenberg die Parabel Dumonts mit dem Großen Preis der Jury und seinen beiden Schauspielern Emmanuel Schotté und Séverine Caneele mit dem Darstellerpreis auszeichnete, stieß auf Unmut. Aber noch mutiger war es, abseits vom Mainstream und Pailletten, die Goldene Palme den Brüdern Dardenne zu geben, die über alle subtilen Literaturverfilmungen und »Hochkunstwerke« mit dem schockierenden Realismus von Rosetta triumphierten. Sie zeichnen in rohen, bewegten Bildern das Porträt einer jungen Frau, die sich mit Haut und Haaren an die Arbeit klammert. Die sich ein Leben jenseits des schlammigen Campingplatzes aufbauen will, auf dem sie mit ihrer alkoholabhängigen Mutter wohnt. Während Dumont immer wieder mit Landschafts-Totalen seine Figuren als Symbole in die Welt einschreibt, graben sich die am Dokumentarfilm geschulten Brüder Dardenne geradezu in den Schlamm, um den Alltagskampf ihrer Heldin im Einzelfall sichtbar zu machen. Ihr Wunsch nach einem anderen Leben wirkt animalisch, verzweifelt. Beinahe unerträglich verbissen. Für Rosetta wird die Arbeit in einer schäbigen Waffelbude zum Zentrum der Welt. Ihr Wille zum sozialen Aufstieg ist so brutal, daß er selbst eine zarte Liebesgeschichte erstickt. Wenn sie am Ende die Gasflasche über den Campingplatz rollt, um ihrem Dasein ein Ende zu machen, taucht der von ihr verratene Verehrer auf. In ihrem Blick liegt das Ausweglose und Befreiende zugleich. Ein echtes Geheimnis.

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