Alles begann wie ein Witz: Mit Woody Allens Komödie Hollywood Ending wurde das 55. Festival von Cannes eröffnet. Ein abgehalfterter Regisseur (Woody Allen) bekommt von seiner Ex-Frau (Tea Leoni) die Chance zu einem Comeback im großen Hollywood-Stil. Als er unter dem Erfolgsdruck im Laufe der Dreharbeiten erblindet, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Allen stolpert mit der üblichen Bravour blindlings über den Set, aber überdehnt seinen running gag. Dass sich der Film im Film dann als Kassen-Gift und verkorkstes B-Movie entpuppt, scheint seine Figur kaum zu stören. Denn auch Allen weiß, wie wenig Propheten im eigenen amerikanischen Land gelten. Schließlich haben ja französische Kritiker so manchen verkannten Autorenfilmer unter ihre Fittiche ge
Wie Balsam
55. Filmfestspiele in Cannes Die Probleme der Welt waren in diesem Jahr die Stars an der Croisette
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ittiche genommen. Erstmals war der neurotische Meister nicht am Lido von Venedig aufgetaucht, sondern in Cannes den roten Teppich an den Fotografenhorden vorbei zum Palais hinaufgeschritten, um sein Werk vorzustellen. Dahinter steckte nicht nur eine Hommage an seine französischen Bewunderer, sondern auch eine Absage an das von Berlusconi "gleichgeschaltete" Festival von Venedig. Im extrem(istisch) erhitzten Klima nach dem 11. September und den französischen Präsidentschaftswahlen hatten in Cannes Festivalchef Gilles Jacob und sein künstlerischer Berater Thierry Frémaux stark auf die politische Karte gesetzt und den glamourösen Prominentenauflauf gebremst: Diesmal wehte ein Hauch von Militanz um die Palmen. Die Filme und Themen selbst sollten die Stars sein. Also gab es eine seriöse Jury unter dem Vorsitz des sibyllinischen David Lynch mit Regisseuren wie Walter Salles, Raoul Ruiz, Bille August und Claude Miller. Die cinephile Schauspielerin Sharon Stone sorgte für den täglichen Glanz. Unter ihren Augen konzentrierte sich der Wettbewerb, aber auch die Sektion Un Certain Regard oder die Quinzaine des Réalisateurs auf die brisanten und schwerverdaulichen Themen der Zeit. Den Völkermord an den Armeniern zeigte Atom Egoyan in Ararat, in dem er das sein Werk durchziehende Thema der dysfunktionalen Familie mit dem historischen Drama (und damit seiner eigenen Familiengeschichte) verknüpfte. Roman Polanski verarbeitete auf vermittelte Art und Weise seine Kindheit im Krakauer Getto in Der Pianist. Elia Suleiman und Amos Gitai beleuchteten von unterschiedlichen Seiten den palästinensisch-israelischen Konflikt, Pablo Trapero zeigte die Korruption in Argentinien am Schicksal eines Polizisten wider Willen in El bonarense. Und Abbas Kiarostami setzte sich in Ten auf den Rücksitz eines Autos, um sich in den Rededuellen einer geschiedenen Mutter und ihres rebellischen Sohns mit einer frappierenden Einfachheit der komplexen Realität der iranischen Frauen zu nähern. Nach dem politischen Erdbeben der französischen Präsidentschaftswahlen schien sich das Festival - verankert in einer Region, in der Jean-Marie Le Pen seine größten Erfolge feiert - ganz auf die moralischen und humanistischen Fragen zu besinnen. So wurde erstmals ein Dokumentarfilm in den Wettbewerb aufgenommen. Der Amerikaner Michael Moore, ausgezeichnet mit einem Ehrenpreis der Jury, sezierte mit seiner unverfrorenen militanten Fragerei in Bowling for Columbine den Waffenwahn seiner Landsleute und die Auswirkungen der Gewalt auf die amerikanische Gesellschaft. Seine gewitzte und polemische Montage sucht Parallelen zwischen den Amokläufern in der Highschool seiner Heimatstadt Littleton und der aggressiven Außenpolitik der US-amerikanischen Weltpolizisten. Er bescheibt nicht nur die Paranoia der National Rifle Association sondern aller, die von der Angst vor dem Andern getrieben werden. Die Belgierin Chantal Akerman fuhr mit ihrer Kamera in De l´autre Coté an der mexikanisch-amerikanischen Grenze entlang. Sie zeigt die Angst der Amerikaner vor der Invasion ihrer armen mexikanischen Nachbarn. Um illegal in die USA zu kommen, wandern sie durch die Wüste, riskieren ihr Leben für den "american dream". Auf der anderen Seite verteidigen die amerikanischen Behörden mit modernster, im Golfkrieg erprobter Überwachungstechnik ihr Territorium. Unter dem sanften Blick der Chantal Akerman wird deutlich, dass nach dem Fall der Berliner Mauer auch in Zeiten der Globalisierung neue Eiserne Vorhänge zugezogen werden: Sie trennen den reichen Norden vom armen Süden. Mit besonderer Spannung wurde das israelisch-palästinensische Duell im Wettbewerb erwartet. Der israelische Filmemacher Amos Gitai forschte in seinem neuen Film Kedma nach dem Gründungsmythos den Staates Israel. Mit dem Traum vom "gelobten Land" legen die Juden aus der Diaspora 1948 an der palästinensichen Küste an. Aber von gemeinsamer Kultur und Identität sind sie weit entfernt. Sie bleiben vereinzelt, sprechen verschiedene Sprachen. Auch die Erfahrung des Holocausts, so Gitai, kann ihrer Mission keinen gemeinsamen Schwung geben. Er zeigt, wie die Juden nach jahrhundertelanger Verfolgung mit Selbstzweifeln zur Waffe greifen, um sich gegen die einheimischen Palästinenser den Weg nach Jerusalem freizukämpfen und so selbst zu Eroberern werden. Im letzten Bild ist die schlammige Straße frei; Gitai setzt mit seinem Film ein melancholisches Fragezeichen hinter die Gründung Israels. Der Palästinenser Elia Suleiman zielte dagegen mit der absurden Komik eines Jacques Tati (dem das Festival eine Hommage widmete) auf das aktuelle israelisch-palästinensische Pulverfass. Im schläfrigen Nazareth zündet er in scharfen Alltags-Szenen die Lunte des seit Jahrzehnten brennenden Konflikts in den von Israel besetzten Gebieten: Etwa wenn die arabischen Nachbarn sich einen aufreibenden Kleinkrieg um Parkplätze und Müllbeutel liefern. So gelingt Suleiman eine phantasievolle politische Analyse der verfahrenen Situation. Denn wie so oft steckt der Teufel im Detail. Da kann sich eine aus dem Autofenster geworfene Aprikose in eine Bombe verwandeln, ein Luftballon mit einem grinsenden Arafat-Konterfei kann über alle Grenzkontrollen hinweg zum Tempelberg fliegen und eine Frau kann allein mit ihrem erotischen Selbstbewusstein die israelischen Checkpoints aus den Angeln heben. Suleiman wird trotz aufgestauter Wut über die israelischen Besatzer nicht zum Dogmatiker, sondern bleibt Humanist, der mit einer klaren Kinosprache den Finger immer wieder auf die wunden Punkte der jüdisch-arabischen Zwangsehe legt. Und er erlaubt sich als ohnmächtiger Zuschauer sogar Allmachtsphantasien, in denen eine palästinensische Ninja-Kämpferin einen israelischen Elite-Schützen alt aussehen lässt. Am schärfsten zugespitzt ist eine Szene, in der Suleiman einem jüdischen Siedler an der Ampel in die Augen schaut und ihm mit der Musik eine ganz unkriegerische Lektion verpasst: "I put a spell on you -´cause you are mine." Für seine hellsichtige Farce bekam Suleiman - aus diplomatischen Gründen? - nur den Jury-Preis. Die Goldene Palme gewann dagegen Roman Polanski mit seinem persönlichen Film vom Überleben des Konzertpianisten Wladyslaw Szpilman im Warschauer Getto. Polanski vermeidet das Pathos von Schindlers Liste, wenn er seinen brillanten Hauptdarsteller Adrien Brody in langen stummen Szenen durch die Ruinen der Stadt laufen lässt. Von Versteck zu Versteck - verwahrlost, ausgehungert und völlig einsam. In diesen Momenten konzentriert sich der Film ganz auf die zerbrechliche Würde seiner Figur. Auch wenn er die bedrohliche Kriegskulisse und die Gräuel der deutschen Soldaten inszeniert, findet Polanski, der selber vor den Nazis fliehen musste, immer wieder zurück zu den eindringlichen Figuren seines Kammerspiels. So macht er die weitgehend in Babelsberg gedrehte Groß-Produktion zum bewegenden Porträt eines Schicksals, das universal wirkt. Die Gallier waren im Wettbewerb auf verlorenem Posten. Olivier Assayas und Gaspar Noé lieferten Edeltrash: Assayas verrannte sich mit Demonlover in die globalisierte, kalte Welt der Porno-Mangas und Folter-Websides. Und fand im Meer der Bilder keine eigene Stimme oder Haltung. Gaspar Noé sollte der Croisette in seinem rückwärts erzählten Rache-Drama dank einer zehnminütigen Vergewaltigungsszene mit Monica Bellucci den herbeigesehnten Skandal liefern. Seine weitgehend "improvisierte" Gewaltorgie verpuffte in unmotivierten Kamerafahrten und Dialogen von wasserlöslicher Philosophie wie "Die Zeit zerstört alles". Der Rest war Schweigen. Nach dem Absturz der Manieristen schlug die Stunde der Realisten und Humanisten. Mike Leigh folgte einem lethargischen Taxifahrer (Timothy Spall). Tiefschläge des Lebens und eine bewegende Ehe-Krise rütteln seine Figur wieder auf und machen Mut zum Überleben. Die belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne hefteten sich in Le Fils mit einer nervösen Handkamera und dokumentarischer Besessenheit an die Figur eines Schreiners (Olivier Gourmet bekam den Darstellerpreis) und verfolgen seine innere und äußere Unruhe. Noch radikaler als in Rosetta (für den sie vor zwei Jahren die Goldene Palme gewannen) entfaltet sich die fiktionale Spannung erst spät, als der Zuschauer entdeckt, dass der Schreiner den jungen Mörder seines Sohnes ausbildet. Der Film stellt moralische Fragen nach dem Verhältnis von Opfer und Täter, der Vergebung und dem Leben mit der Trauer - jenseits der primären Rachegelüste, die etwa ein Gaspar Noé so Irreversible findet. Viele Regisseure setzten in Cannes auf die "kleine Form", verfolgten die inneren Kämpfe ihrer männlichen Hauptfiguren. Jack Nicholson spielt in About Schmidt von Alexander Payne einen Rentner, der mit seiner neue Freiheit nicht zurecht kommt. In der romantischen Komödie Punch-Drunk Love zeigt P.T. Anderson (Magnolia), wie einem verschrobenen und weltfremden Angestellten durch die Liebe (Emily Watson) plötzlich Flügel wachsen und der linkische ewige Verlierer endlich den Kampf mit seiner Umwelt aufnimmt. Für die bilderreiche und phantasievoll erzählte Komödie über einfache Gefühle bekam er den Preis für die beste Regie, zusammen mit dem koreanischen Altmeister Im Kwon-taek (Ivre de femmes et de peinture). Aki Kaurismäki machte dagegen radikaleren Prozess. Sein Mann ohne Vergangenheit (Großer Preis der Jury) verliert das Gedächtnis. Kaurismäki vollbringt das kleine Wunder, Lust auf die einfachen Dinge des Lebens - Wohnen, Arbeiten, Lieben - zu schaffen. Wenn sein M (Markku Pettola) sich in Irma, eine Soldatin der Heilsarmee (Kati Outinen, dieses Jahr als beste Schauspielerin ausgezeichnet) verliebt, ihr ein armseliges Steak in die Pfanne haut oder mit einer Band die triste Umgebung verzaubert, dann wirken diese zärtlichen, melancholischen Momente so poetisch wie früher bei Chaplin. Im Vorbeigehen werden die Bürokratie und Profitgier unserer Gesellschaft auf die Schippe genommen und M kann dort nicht zuletzt auch durch die Macht des Kinos seinen Platz finden. Wie Kaurismäki es schafft, Solidarität und Nächstenliebe ohne Süßstoff, aber mit Witz, Großzügigkeit und (finnischer?) Lebenslust in eine poetische Utopie zu verwandeln, war das schönste Wunder in Cannes. Seine Bilder legten sich wie Balsam auf die vom Programm aufgerissenen Wunden der Welt.
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