Der fleißige Stubenhocker

TELEARBEIT Nicht jeder, der zuhause bleibt, bleibt auch der Arbeit fern. Die vielzitierte Beschäftigungsform wirft Fragen auf

Neuer Alltag zuhause: Beim Windelnwechseln kurz ans Kundentelefon gerannt, nach den Tagesthemen noch schnell eine dringende Arbeit erledigt und am Sonntag nur rasch ein paar E-Mails beantwortet. Telearbeit bedeutet zuhause arbeiten - und auch, dass die Grenze zwischen Job und Freizeit verschwimmt. Doch ihrer Popularität tut das kaum Abbruch.

In keinem anderen europäischen Land ist in der vergangenen Zeit die Zahl der Heimarbeiter so gestiegen wie in der Bundesrepublik. Laut einer Studie des Bonner Instituts empirica wurde im Jahr 2000 die Zwei-Millionen-Grenze überschritten. Erstmals ist nun auch im Entwurf zum neuen Betriebsverfassungsgesetz die Rede von Telearbeitnehmern. Wer in Heimarbeit beschäftigt ist, soll künftig ebenfalls unter gesetzlichen Schutz gestellt werden. Offensichtlich also eine fortschrittliche Regelung.

Medial wurde das Thema Telearbeit in den vergangenen Monaten überwiegend bejubelt: Aus Umweltschutzgründen - durch Wegfall der Fahrten zur Arbeit - und zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie scheint es eine ideale Lösung zu geben. Und Unternehmen suchen nach Möglichkeiten zur Telearbeit, um die Motivation der Mitarbeiter zu erhöhen. So der gängige Tenor.

Eine Studie der LVM-Versicherung bestätigt den erhofften ökonomischen Nutzen der Telearbeit: Die Produktivität ließ sich um fünf Prozent erhöhen. Wohl auch, weil der Krankenstand um 15 Prozent zurückging. Betrachtet man jedoch mögliche langfristige Entwicklungen, fallen einige Schatten auf die "schöne neue Welt" der Telearbeit. Das Geschrei der Arbeitgeberverbände über die Änderungen bei 630-Mark-Jobs und Scheinselbstständigkeit hat gezeigt: Eine Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis ist keine zwangsläufige Entwicklung, sondern Folge von Unternehmensstrategien.

Die jetzigen Tests zur Telearbeit finden in der Regel mit sozialer Absicherung statt. Meist werden in diesen Fällen Vereinbarungen mit dem Betriebsrat getroffen oder sogar - wie bei der Post AG - mit den Gewerkschaften ein Tarifvertrag abgeschlossen.

In der IT-Branche oder im Medienbereich dagegen wird mehr und mehr auf "freie Mitarbeiter" gesetzt. Sie werden wie Selbstständige behandelt, sind jedoch zumeist auf einen einzigen Auftraggeber angewiesen. Die ökonomische Abhängigkeit führt aufgrund fehlender sozialer Absicherung - keine Arbeitslosen- oder Rentenversicherung - in vielen Fällen zu modernen Ausbeutungsverhältnissen. Was soll Unternehmer dann daran hindern, den Telearbeitern nach dem Prinzip des Outsourcings nicht auch den Arbeitnehmerstatus zu entziehen - Begründung: "Sie sind doch sowieso nicht im Betrieb tätig?"

Im Gegensatz zum Arbeitsort ist die Arbeitszeit alles andere als klar definiert. Und wie soll die Arbeitszeit gemessen werden? Eigentlich ist es eine marginale Frage, aber schon hier werden die Probleme deutlich: Wenn die Leitung des PCs zum Firmennetz unterbrochen ist, zählt die Wartezeit noch als Arbeitszeit? Es wäre im Sinne des Arbeitgebers, die Vergütungsfrage enger zu fassen und derartige Zeiten nicht der Arbeit zuzurechnen. Hinzu kommt das mögliche "schlechte Gewissen" der Beschäftigten: Ist eine Denkpause beim Ausarbeiten von Konzepten Freizeit? Gilt die Toilettenpause als Arbeitszeit?

Auf die Bezahlung von Mehrarbeit verzichten viele Arbeitgeber ohnehin. Oftmals sollen Überstunden auf Konten angesammelt werden. In der Praxis wird ein Guthaben auf diesem Konto jedoch selten in Form von Freizeit "abgebummelt". Vielmehr streichen immer mehr Betriebe das Zeitplus, wenn bestimmte Höchstgrenzen überschritten sind - oder rechnen es auf Weiterbildungsmaßnahmen an, die früher während der Arbeitzeit stattfanden.

All diese Klippen lassen sich leicht umschiffen, denn zunehmend werden die Arbeitszeiten bei der Telearbeit gar nicht mehr erfasst. Somit fallen auch keine Überstunden an, die zu bezahlen sind. "Vertrauensarbeitszeit" heißt das Konzept. Dabei legen Vorgesetzte lediglich die Arbeitsaufgaben fest - nach dem Grundsatz: lieber zu viel als zu wenig. Nur das Ergebnis zählt. Für die Mitarbeiter bedeutet dies oft erhöhten Stress und unbezahlte Mehrarbeit. Dank dieser "inneren Steuerung" muss kein Vorgesetzter Anweisungen geben, weil sich die Beschäftigten selbst oder gegenseitig unter Druck setzen. Ohne an den tatsächlichen Macht- und Eigentumsverhältnissen rütteln zu müssen, wird so selbstständiges, unternehmerisches Handeln in abhängige Beschäftigungsverhältnisse eingeführt. Der Ansatz des Profitcenters erfüllt dieselbe Zielsetzung. Tarifliche und faktische Arbeitszeit liegen weit auseinander.

Ein weiteres Problem stellt die Vereinzelung der Telearbeiter dar, die zu Verunsicherungen führen werden. Der ausschließliche Kontakt über Telefon oder E-Mail beschränkt die soziale Kommunikation: Ist ein Vergleich mit der Arbeitsleistung der Kollegen überhaupt noch möglich? Ist es für Vorgesetzte nicht ein leichtes, Mitarbeiter gegeneinander auszuspielen? Die Vereinbarung von alternierender Telearbeit, die nur ein anteiliges Arbeiten "zuhause" zulässt, kann den völligen Ausschluss der Betroffenen von innerbetrieblichen Entwicklungen vermeiden.

Dafür müssen Gewerkschaften und Betriebsräte nach ganz neuen Konzepten suchen, um kollektive Regelungen herbeiführen zu können. Eine pure Verteufelung der Telearbeit kann nicht weiterhelfen. Dafür ist die Nachfrage der Beschäftigten zu hoch.

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