Zwei Seiten einer Medaille

Job-Export Betriebliche Innovationen als Ausweg aus der gewerkschaftlichen Defensive

Wolfgang Müller hatte sich im Freitag bei seinen Betrachtungen zu einem expandierenden Job-Export (Ausgabe 47/05 und 49/05) in Niedriglohnländer mit Folgen des "Offshorings" nicht nur für den hiesigen Arbeitsmarkt, sondern auch für das Innovationsvermögen ganzer Branchen beschäftigt. Er verwies darauf, dass dieser Exodus inzwischen Kern-Kompetenzen großer Firmen erfasse. Albrecht Müller und Kai Ruhsert warfen ihm daraufhin vor, die Produktionsverlagerungen unnötig zu dramatisieren (Freitag 50/05). Sie machten nicht zuletzt Wiederansiedelungen und Investitionen in Deutschland geltend und argumentierten, erforderlich sei eine wachstumsfördernde Politik, um Folgen des "Offshorings" auszugleichen. Wolfgang Müller entgegnete seinen Kritikern (Freitag 51/52/05): die gewiss erstrebenswerte Stärkung der Binnennachfrage sei vom Unternehmerlager gar nicht gewünscht. Der Stellenwert von Auslagerungen im gewerkschaftlichen Alltag sei enorm. Wir setzen die Debatte fort mit einem Text von Marcus Schwarzbach, Betriebsrat bei einem Versicherungsunternehmen.


Wolfgang Müller, IT-Experte bei der IG Metall, und Albrecht Müller, Autor des Buches Die Reformlüge, haben in dieser Zeitung miteinander diskutiert und dabei vorzugsweise aneinander vorbei geredet. Verweist Albrecht Müller auf volkswirtschaftliche Konsequenzen des Offshorings, so schildert Wolfgang Müller die Lage aus betrieblicher Sicht - nach meinem Eindruck die maßgebende Perspektive, wenn zu entscheiden ist, wie auf Unternehmenspläne nach Verlagerung von Arbeitsplätzen zu reagieren ist.

Aus Gewerkschaftssicht besteht dabei vor allem ein Problem: Sehen sich örtliche Metall-Sekretäre und Betriebsräte mit einem drohenden Job-Export konfrontiert, können sie nicht mit abstrakten wirtschaftlichen Argumenten reagieren, sondern müssen den verängstigten Beschäftigten aufzeigen, was dagegen getan werden kann - so weit hat Wolfgang Müller Recht. Meist mündet die Verhandlungsbereitschaft in den Verzicht auf betriebliche oder tarifliche Leistungen. Ob das nun Standortpakt, betriebliches Bündnis oder Ergänzungstarifvertrag heißt - volkswirtschaftlich gesehen, sinkt die Kaufkraft der Betroffenen, darin ist Albrecht Müller zuzustimmen.

Von Betriebsräten und Gewerkschaften wird in der Regel verlangt, Personalkosten zu senken, indem vom Tarifvertrag abgewichen wird. An einigen Vorgängen in der Automobilindustrie lässt sich beobachten, welche Eigendynamik diese Ansprüche zwischenzeitlich entfalten, erinnert sei nur an DaimlerChrysler, VW oder Opel. Inzwischen haben immer mehr Autokonzerne Regelungen getroffen oder erzwungen, um Personalkosten zu senken, und die Gewerkschaft auf diese Weise in die Defensive gedrängt.

Dabei zeigt gerade die Automobilindustrie, wie problematisch auch aus Unternehmenssicht der starre Blick auf Personalkostensenkung ist. Denn nicht jeder Autohersteller befindet sich derzeit in einer schwierigen Lage. Während etwa VW Milliardeninvestitionen für Bentley, Bugatti oder den Bau der Wolfsburger Autostadt tätigt, fehlt es dem Konzern an Cabrios und einem Geländewagen in der Golfklasse. Die Kosten für die Entwicklung der kommenden Passat- und Golf-Modelle steigen, da die Ingenieure angehalten sind, hierfür grundlegende Neuerungen zu entwickeln. Es handelt sich um Änderungen, die für Kunden schwer nachvollziehbar und teilweise kaum zu bemerken sind. Toyota dagegen entwirft - für potenzielle Käufer sofort wahrnehmbar - ein frisches Design, wenn ein neues Modell auf den Markt kommt. Ansonsten wird die bewährte Technik des Vorgängermodells übernommen, so dass ungleich geringere Mehrkosten anfallen als beim Wolfsburger Verfahren.

Nicht die Personalkosten entscheiden also, ob ein Unternehmen vor ökonomischen Problemen steht oder nicht, vielmehr ist dafür die Produkt- und Marktpolitik des Managements ausschlaggebend. Von erheblichem Gewicht sind dabei Innovationen. Betriebsräte können die letzten Endes immer nur defensiv zu führende Personalkostendebatte verlassen, indem sie dieses Thema aufgreifen und zukunftsweisende Vorschläge vorlegen, die ein Unternehmen weiter bringen und so Arbeitsplätze sichern. Auf ihrer tarifpolitischen Tagung im Oktober 2005 hat die IG Metall beschlossen, sich künftig mehr auf Innovationen zu konzentrieren - erneuerte Produkte oder Dienstleistungen waren und sind für viele Betriebe eine Existenzfrage. Innovationen bieten im Übrigen auch die Chance, desaströse Preiskämpfe auf dem Markt zu vermeiden.

Werden Veränderungen in Unternehmen oft nur vorgenommen, um Kosten zu senken, kann der Betriebsrat ein Innovationsmanagement vorschlagen, bei dem die Interessen der Beschäftigten berücksichtigt werden. Denn innovativ sind nicht nur technische Neuerungen, sondern auch methodische Änderungen durch veränderte Arbeitsabläufe. Welche Bedeutung Betriebsräte bereits heute beim Thema Innovationen haben, zeigte jüngst eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung. Die Arbeit der Betriebsräte bringe Unternehmen deutlichen wirtschaftlichen Nutzen, so das Resümee. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, "dass auch Arbeitgeber davon profitieren", betont Christine Zumbeck, Mitbestimmungs-Expertin der Stiftung. Dies zeige eine aktuelle Studie des Info-Instituts an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes (HTW). Das Wissenschaftlerteam befragte Betriebsräte in 79 Firmen und erstellte Fallstudien für sieben Betriebe. Betriebsräte setzen sich für ein Betriebsklima ein - so die Forscher -, das Qualifizierung und Innovationen fördere und somit auch den Unternehmern wirtschaftlich nütze. Die Motivation der Belegschaft werde durch Betriebsräte positiv beeinflusst. Betriebsräte leisteten "einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung und zum Ausbau der Innovations- und Zukunftsfähigkeit der Betriebe", erläutert Professor Heinz Bierbaum vom HTW-Team.

Für die IG Metall ist die tarifliche Forderung nach Innovationen eine Antwort auf den betrieblichen Druck, der auf die Betriebsräte ausgeübt wird. Darüber hinaus müssen jedoch - und da schließt sich der Kreis in der Kontroverse zwischen Müller und Müller - auch überbetriebliche Aktionen organisiert, eine europaweite Abstimmung der Tarifverhandlungen mit anderen Gewerkschaften vorangetrieben und die Möglichkeiten von Europa- und Weltbetriebsräten zu solidarischem Handeln über Ländergrenzen hinweg genutzt werden. Die Debatte kreist somit um zwei Seiten einer Medaille; die Positionen der Autoren schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander.


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