Gewalt, das sind die anderen

Medientagebuch Amok als Sehnsucht und Junkfood: Erfahrungen eines Zappers

Wenn uns schon ein permanenter Selbsterfahrungsworkshop frei Haus geliefert wird, sollten wir ihn auch nutzen. Das Fernsehen. In den zwei Wochen nach Erfurt bot es eine Grenzerfahrung, die so in Deutschland noch nicht zu sehen war; freilich erschloss sie sich nur dem energischen Zapper. Was der aber zu Gesicht bekam, war das Verschwimmen von Realität und Fiktion in Form eines Interferenzmuster des Absurden: Während einige Sender wieder und wieder das Entsetzen nach dem Massaker beschworen und sich, erst widerstrebend, dann beflissen der Debatte über Gewaltdarstellungen stellten, brachten andere das normale Programm. Dieses aber bestand im Wesentlichen aus Kehleaufschlitzen und Flächenbombardements, Vergewaltigungen, Serien- und Gelegenheitsmorden, Blutrache, street fighting men, Zeitlupenexitus und ratatattatat - alles notdürftig verkittet mit irgendeiner zweitrangigen Geschichte, auslaufend in abgeschmackte Familienidyllen oder, bei Kunst- und Genrefilmen, maskuline Melancholie. Gefühlte Statistik: In einem je gegebenen Augenblick wird in jedem dritten dieser Werke gerade jemand umgebracht, von Detonationen durch die Luft geschleudert oder hat zumindest eine Pumpgun an der Schläfe. Die Häufigkeit von Filmen ohne Tötungsdelikte ab 22 Uhr tendiert gegen Null. Am Ende einer von 20.15 bis 6 Uhr durchzappten Nacht erwischt man sich bei Fragen wie: Wieso gibt es eigentlich so wenige Amokläufe - wenn Millionen von Mitbürgern sich jeden Abend dieses Abschlachtungsfestival reinziehen? Und noch etwas später dann, still zu sich selbst: Wenn also alle töten, warum eigentlich ich nicht? Habe ich es nicht schwer? Zu Bett dann mit einer Mischung aus Ekel und eigenen bescheidenen Mordphantasien; "dünne Firnis der Zivilisation" schießt (schießt!) durch den Kopf, und: "Wo der Stoiber recht hat, hat er recht: verbieten, anders geht es nicht."
Nach langem Schlaf wieder bei Sinnen, sollte man allerdings merken, dass den Kulturkonservativen hier bei aller begrüßenswerten Opposition zum Irrsinn der Normalität eine entscheidende Verwechslung unterläuft: zwischen Symptom und Ursache. Sicher ist das ganztägige Niedermähen und In-den-Kopf-Ballern ein Faktor im Verursachungsfeld der echten Gewalt mit echten Toten. Sicher bietet es abstumpfende und zum Amoklauf durchaus ermunternde role models. Aber, um im Krimijargon zu sprechen: Das ist noch kein Motiv! Wir erleben zur Zeit eine heillose Überschätzung der Bilder und ihrer Wirkung gegenüber den realen Pathologien der ersten Wirklichkeit. Das dient nicht zuletzt der Abspaltung eigener Gewaltverfallenheit: Gewalt, das sind die anderen. Die, die diese Filme gucken.
Motive: niemand mordet ohne einen mächtigen innerpsychischen Impuls. Solche Impulse aber entspringen, wenn auch auf verschlungenen Wegen, einer gesellschaftlichen Gesamtlage. Gerade der Frage hiernach indes wird jetzt mit aller Entschlossenheit ausgewichen: Wie pathologisch müssen die Grund-Mechanismen und -Maßstäbe von Gemeinwesen sein, und zwar insbesondere die gewollten, in denen Gewalt zum Entertainmentprodukt schlechthin wird? Es scheint, dass wir in Umständen leben, in denen die Faszination des Tötens den Reiz des Lebendigseins weit übertrifft. Fast, als wäre die glorreiche westliche Zivilisation nicht in der Lage, überzeugende Bilder gelingenden Lebens hervorzubringen, so dass man sich an den Tod hält, der wenigstens, wie jedes Finale, ein Minimum an vegetativer Erregung garantiert. (Und die friedliche Fernsehunterhaltung ist ja in der Tat von unfassbarer Ödnis, nicht Gegenteil, sondern Spiegelbild, "Schatten der Gewalt" mit C.G. Jung gesprochen.)
Es gibt kein Entzücken an der Kunst ohne Identifikation. Zweifellos aber identifizieren sich die Fans des Schweigens der Lämmer nicht nur mit der Psychologin, die den Serienkiller heilen will, sondern auch mit dem zum-Ohnmächtig-Werden nonchalanten Psychopathen. Und zweifelsohne hofft man zeitweise, dass die Heilung misslingt. Man wünscht sich (ich zumindest habe das getan), dass das befreiend Gewissenlose am Leben bleibt, weil man wähnt, dass im Monster immerhin mehr Feuer brennt als in der eigenen, beschämend langweiligen Arbeitnehmer-Existenz. Die ernsthafteren Individualpsychologien nach Erfurt und Nanterre betonen zwei Eigenarten der Amokläufer: empfundenes oder/und tatsächliches Ausgeschlossensein und ein extremes Gefühl der Demütigung. Nun kenne ich so gut wie keine Menschen, die von solchen Empfindungen frei sind. Schon von der bloßen Ausdehnung her ist das ein hoch politisches Phänomen. Demütigung und Exklusion sind keine Halluzinationen verstörter, womöglich genetisch vorgeschädigter Halbwüchsiger. Sie gehören, zumindest als Drohung, zum Normalbetrieb, ja zum Erfolgsgeheimnis marktwirtschaftlicher Demokratien. Wer seine Verwendbarkeit nicht beweisen kann oder aus dem Schema der Begabungen und Verhaltensordnungen fällt (in der Schule etwa), muss mit seiner Aussortierung rechnen. Letztlich kann es jeden treffen. Jeder weiß in seinen Eingeweiden, dass sein Leben im Prinzip, wie das der menschlichen Kollateralschäden in den immer gerechteren Kriegen, disponibel ist; und dass "alle, noch die Mächtigsten, Objekte sind", die über die Grundbedingungen ihrer Existenz keine Macht haben, wie Adorno das vor beinahe 60 Jahren ausdrückte. Diese strukturelle Demütigung aber - nur in autoritären Systemen religiöser oder militaristischer Provenienz ist sie schlimmer - erzeugt eine immense unterschwellige Wut. Die meisten sind von ihr befallen, die wenigsten gestehen sie sich ein. Jene gar nicht klammheimliche Verehrung, die TV-action-heros für ihre Amokläufe ernten, ist ein krummer Ausdruck dieses verknoteten Furors in Gesellschaften, die weder das existenzielle Bedürfnis nach Abenteuer noch das nach Sicherheit befriedigen; die das große, von Christentum und französischer Revolution herkommende Versprechen auf un-bedingten Respekt vor jeder Einzelseele nicht eingelöst haben und es im Zuge der neoliberalen Weltrevolution auch nicht mehr einlösen wollen. Es käme darauf an, sich klar zu machen, wie berechtigt diese Wut ist.

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