Behutsam schiebt er den Ärmel seines Kapuzenpullovers von seinem Unterarm. Der ist mit dunklen blauen Flecken übersät. Routiniert greift Klaus, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, zur Spritze und sticht die Nadel in eine Vene. Er hält inne, sein Gesicht entspannt sich. 280 Milligramm Heroin durchfluten seinen Körper.
Zweimal am Tag setzt sich Klaus in der Drogenambulanz der Asklepios-Klinik Nord in Hamburg-Altona unter ärztlicher Kontrolle einen Schuss. Bundesweit gibt es sieben Heroinambulanzen dieser Art, neben Hamburg auch in München, Köln, Hannover, Bonn, Frankfurt und Karlsruhe. Seit Herbst zahlen die Krankenkassen die Behandlungen dort, trotzdem wünschen sich die Ambulanzen mehr Zulauf.
Alle sind aus dem vierjährigen „Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger“ entstanden, das 2002 startete. An der Studie nahmen rund 1.000 langjährige Drogenabhängige teil, die auf Methadon nicht ansprachen. Das Ergebnis der Studie, erstellt vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung der Uni Hamburg, war eindeutig: Es gibt „eine signifikante Überlegenheit der Heroin- gegenüber der Methadonbehandlung“. Patienten, die mit künstlichen Heroin – auch Diamorphin genannt – behandelt wurden, griffen deutlich weniger zu illegalen Drogen. Sie lösten sich aus der Szene, ihr Gesundheitszustand verbesserte sich.
Den positiven Ergebnissen zum Trotz stand die Existenz der Heroinambulanzen lange Zeit auf der Kippe: CDU und CSU blockierten zunächst die Zulassung von Diamorphin als Arzneimittel. Erst im Sommer 2009 wurden die notwendigen Gesetzesänderungen beschlossen. Heroin ist nun ein verschreibungspflichtiges Betäubungsmittel, das unter staatlicher Aufsicht in ausgewählten Einrichtungen an Schwerstabhängige abgegeben werden kann. Seit Oktober 2010 übernimmt die Gesetzliche Krankenversicherung die Kosten der Behandlung.
Vor dem Drücken pusten
Klaus weiß wenig über die politischen Verwicklungen, und doch kennt er die Heroinvergabe wie kaum ein anderer. Von Anfang an ist er mit dabei. 2003 kam Klaus das erste Mal in die Hamburger Heroinambulanz, damals noch als Teilnehmer des Modellprojekts. Er wog nur noch 55 Kilogramm, hatte eine geschädigte Lunge. Dreißig Jahre Drogenkonsum hinterlassen Spuren.
Heute würde man Klaus mit seiner schwarzen Nadelstreifenhose, dem karierten Tuchschal und der randlosen Brille eher in einem Büro vermuten. Bei der Anmeldung in der Ambulanz muss er pusten – nur wer nüchtern ist, darf eine Behandlungsnummer ziehen. Danach heißt es warten. Im Behandlungsraum sieht es aus wie in jedem anderen Arztzimmer: weiße Wände, roter Linoleumboden, Geruch von Desinfektionsmittel. Der Unterschied offenbart sich erst mit einem Blick nach oben. An der Decke hängt ein großer Spiegel, damit der Raum auch bis in den letzten Winkel einsehbar ist. Hinter einer Durchreiche sitzt ein Arzt und schiebt Klaus eine kleine Plastikschale zu, in der Spritze, Pflaster und ein Gurt zum Abbinden liegen. Die Patienten müssen sich das Heroin unter ärztlicher Beobachtung spritzen. Kein Tropfen darf den Raum verlassen.
Heroin wirkt im Körper innerhalb weniger Sekunden. Klaus macht es müde. Sein Blick ist leer, sein Körper leblos. Beim Sprechen muss er immer wieder Pausen machen. Es fällt ihm schwer, die Lippen zu öffnen. Doch obwohl er benommen scheint, sind seine Gedanken klar. Klaus will seine Geschichte erzählen.
"Nur noch Dreck drin"
Als er das erste Mal ein bisschen Heroin raucht, wird ihm furchtbar übel. Trotzdem greift Klaus immer häufiger zu dem Stoff, und weil er Geld braucht, klaut er. „Es ist schleichend. Du hast das Gefühl, du hast alles im Griff.“ Das Heroin ruiniert sein Leben – und es wird über die Jahre immer schlechter. „Da ist nur noch Dreck drin“, sagt Klaus. Die Strecksubstanzen der Dealer verursachen oft lebensgefährliche Vergiftungen. Beim Teilen von Besteck und Spritzen werden schwere Krankheiten wie Hepatitis C übertragen. Und dann ist da immer die Gefahr einer Überdosis. Jeder Schuss kann der letzte sein.
Die Ambulanz ist vom Fixen der Junkies auf der Straße weit entfernt. In der Klinik läuft alles nach festen Regeln ab. „Zweimal am Tag müssen die Patienten mindestens herkommen. Das ist eine große Einengung des persönlichen Lebens“, erklärt Dr. Karin Bonorden-Kleij. Sie begleitet die Ambulanz bereits vom ersten Tag an. Zusätzlich zur Heroinbehandlung müssen sich die Abhängigen in den ersten sechs Monaten psychosozial betreuen lassen. Sie bekommen aktive Lebenshilfe bei Arztbesuchen, der Suche nach einer Wohnung, vielleicht sogar einem Job. Hauptsache raus aus der Szene.
Fast alle machen Fortschritte
Seit acht Jahren geht Klaus schon in die Ambulanz. Er nimmt keine anderen Drogen mehr und ist nicht mehr kriminell. „Ich habe es immer gehasst, klauen zu müssen“, sagt Klaus und schließt die Augen. Für einen Moment ist es still. „Es ist so befreiend, dass der ganze Druck wegfällt.“ Als Droge hat ihn das Heroin aus der Bahn geworfen, als Medikament hilft es ihm nun, dem Leben wieder Stabilität zu geben. Eben hat er sich für einen Hausmeisterjob beworben.
Klaus ist kein Einzelfall. Fast alle Patienten der Hamburger Heroinambulanz machen Fortschritte, nur wenige brechen ab. Einige haben den Absprung von der Nadel ganz geschafft. Gerade deshalb ärgert sich Bonorden-Kleij über kritische Stimmen zu der Heroinvergabe: „Wer in das Programm kommt, der hat alles andere bereits versucht und ist gescheitert.“
Damit die Kassen die Kosten übernehmen, müssen die Patienten umfangreiche Kriterien erfüllen. Bis jemand für eine Behandlung mit Heroin in Frage kommt, vergehen so meist viele Jahre. „Ich würde mir da als Ärztin eine größere Freiheit wünschen, für jeden Patienten individuell zu entscheiden“, sagt Bonorden-Kleij. Sie glaubt, dass man auf diese Weise viel früher und viel mehr Abhängige aus dem Drogensumpf lösen könne. Die Kapazitäten sind vorhanden: In der Hamburger Ambulanz werden derzeit rund 50 Patienten behandelt, doppelt so viele könnten es sein.
Kriterien sollen überprüft werden
Eine Kostenanalyse aus Schweizer Heroinambulanzen ergab, dass sich die Heroinsubstitution nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Gesellschaft lohnt. Denn auch wenn die Behandlung mit Heroin teuer ist, können langfristig Kosten eingespart werden, wenn der Patient einen festen Wohnsitz hat, weniger straffällig wird und seltener im Krankenhaus behandelt werden muss. Einer größeren Verbreitung von Heroinambulanzen stehen jedoch die strengen Vorschriften für das Personal, die Sicherheitsausstattung und die Öffnungszeiten entgegen. Diese sind mit der gesetzlichen Verankerung noch strenger geworden als im Modellprojekt.
Die Aufnahmekriterien für Abhängige in die Heroinambulanzen sollen noch einmal überprüft werden – allerdings erst in knapp drei Jahren. Für manche könnte es dann schon zu spät sein.
Weniger und älter: Drogentote in Deutschland
Vergangenes Jahr wurden in Deutschland 1.237 Drogentote registriert, sieben Prozent weniger als 2009. Bei den Todesursachen stehen Heroin-Konsum (855) und gesundheitliche Langzeitschäden (214) an erster Stelle. Und: Die Drogentoten werden älter. Waren 2001 noch 56 Prozent unter 30 Jahre alt, lag ihr Anteil 2010 nur noch bei 29 Prozent.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans (FDP), will Rückgang und Alterstrend als ein Zeichen dafür verstanden wissen, dass es durch die Angebote zur Überlebenshilfe gelungen ist, immer mehr Abhängige gesundheitlich zu stabilisieren, ihr Überleben zu sichern, nicht zuletzt in Spritzräumen und Heroinambulanzen.
Dem Rückgang beim Heroin steht ein Anstieg bei anderen Substanzen gegenüber: 2010 wurden rund 18.600 erstauffällige Konsumenten harter Drogen registriert fast drei Prozent mehr als 2009. Und die greifen immer weniger zu Heroin, Kokain und Ecstasy, stattdessen nahm im sechsten Jahr in Folge der Erstkonsum von Amphetamin zu.
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