Werthers Echte

Lotte I Zum 250. Geburtstag von Charlotte Buff

Ihre Silhouette zierte Regenschirme, Fächer, Kaffeetassen und Riechfläschchen. Es gab den Lotte-Look, das weiße Kleid mit rosa Schleifen, und junge Frauen wollten plötzlich Lotte genannt werden. Jahrzehnte nachdem 1774 der Briefroman Die Leiden des jungen Werthers erschienen war, kamen Menschen extra nach Hannover, um sie zu sehen - Werthers echte Lotte. Charlotte Buff heißt sie, verheiratete Kestner. Wer sie heute besuchen will, muss auf Hannovers Gartenfriedhof gehen. Hier liegt sie begraben. Am 11. Januar vor 250 Jahren ist sie geboren. Mit 19 wird sie zum literarischen Vorbild für Goethe, der aus ihr die Figur Lotte macht - Werthers große Liebe.

In einem unbenutzten Nebeneingang der Gartenkirche setzen sich Junkies ihren Schuss. Hunde erleichtern sich zwischen den Gräbern. Ein seltsames Memento Mori. Charlotte bleibt davon unberührt, seit 1828 ist sie tot. "Unsterblich" hatte sich der junge Goethe 1772 in die 19-Jährige verliebt. Die beiden trafen sich anlässlich eines Balls in Charlottes Heimatstadt Wetzlar, wo der 23-jährige Goethe ein Praktikum am Reichskammergericht absolvierte. "Noch kein Frauenzimmer hier hatte ihm [Goethe] ein Genügen geleistet. Lottchen zog gleich seine ganze Aufmerksamkeit an sich. Sie ist noch jung, sie hat, wenn sie gleich keine ganz regelmäßige Schönheit ist, eine sehr vortheilhafte, einnehmende Gesichtsbildung ... Er wusste nicht, dass sie nicht mehr frey war; Lottchen eroberte ihn ganz, um destomehr, da sie sich keine Mühe darum gab". Stolz erzählt Johann Christian Kestner, Archivsekretär aus Hannover, einem Freund, dass ausgerechnet seine Verlobte Lotte dem späterhin so großen Goethe den Kopf verdreht.

Auf dem Friedhof hinter Charlottes Grab schaukeln, rutschen und buddeln im Sommer Kinder auf einem kleinen Spielplatz. Dass auch die Tote von Kindern umgeben ist, scheint konsequent, Kinder bestimmten ihr ganzes Leben: Sie hatte 15 Geschwister, vier davon starben früh. Ein ausgedehnter Familienverband war Sozial- und Rentenversicherung. Vielleicht ist dies der Grund, warum auch Charlotte selbst zwölf Kinder bekam. Mit 21 gebar sie das erste, mit 42 das letzte Kind: acht Söhne, vier Töchter. Als sie 75-jährig starb, lebten noch neun.

Charlotte betörte weniger mit Sex-Appeal als mit Brotschneiden: "Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen ringsherum jedem sein Stück nach Proportionen ihres Alters und Appetits ab, gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rufte so ungekünstelt: Danke!". Die Szene, wie sie ihren kleinen Geschwistern das Abendessen reicht, ist klassisch geworden. Lotte als Manna-Mamma. 38 Jahre später sagt Goethe in seinen Lebenserinnerungen Dichtung und Wahrheit, er habe in Lotte den Prototyp einer jungen Frau gesehen, wie er sie sich als die Mutter eigener Kinder an seiner Seite hätte vorstellen können. Die Aussichtslosigkeit seiner Beziehung mit ihr habe ihn so sehr belastet, dass er Wetzlar fluchtartig verließ, gibt er an. Ob das alles war, lässt sich nicht mehr feststellen. Anders als seine Figur Werther scheint sich Goethe nicht allzu lange über seine unerfüllte Liebe gegrämt zu haben: Als die Kestners heiraten, kauft er die Brautringe. Nach der Trauung erhält er Lottes Brautstrauß zugesandt und steckt ihn sich fröhlich an den Hut. Für Georg, das erste Kind der Kestners, wird Goethe Patenonkel. Und Lotte? Mochte sie Kestner lieber als Goethe? Oder konnte sie nicht anders? Der Roman lässt uns darüber ebenso im Unklaren wie die Briefe. Charlotte für sich allein, als Individuum, scheint es gar nicht gegeben zu haben. So vermittelt es auch die Inschrift auf ihrem Grabstein: "Hofräthin Witwe Charlotte Kestner, geb. Buff". Ihr Mann war Hofrat, sie wurde Witwe.

Doch was war sie selbst? Als der "Werther" erscheint, sind die Kestners nach Hannover umgezogen. Sie wohnen im Beamtenviertel am Ägidientorplatz. Mit einem Schlag wird Lotte zum wandelnden literarischen Denkmal. Alle Blicke richten sich auf sie, wenn im geselligen Kreis von Goethe die Rede ist. Für ihren Mann kommt es noch schlimmer: Er wird mit "Albert" gleichgesetzt, dem leidenschaftslosen Amtmann aus dem Roman. Kein Wunder, dass er sich nicht mit diesem "elend Geschöpf", diesem "Klotz", identifizieren kann. Die Kestners arrangieren sich aber schließlich mit ihrem literarischen Abbild, weil sie das Maß an Berühmtheit begreifen, das sie durch den Werther gewinnen. Unverdrossen senden sie dem Dichter, der inzwischen adelig ist und Minister, Schattenrisse ihrer immer größer werdenden Familie.

Lotte ist zwar ein Star der Poesie, ihr Leben verläuft aber prosaisch: Ihr Haus in der Nähe des Aegidientores bleibt gesellig, doch ihre Heiterkeit schwindet, wenn man den Briefen ihrer Freundin Luise Mejer trauen darf. "Glaub mir, das gute Weib verbittert sich ihr Leben durch den verwünschten Neid, es ist arg mit ihr", schreibt Mejer 1780 über Charlotte an einen Freund. Vielleicht hat Lotte doch einem Leben mit mehr Glamour nachgetrauert? Hannover ist nicht Weimar. 35 Jahre bewohnt die Familie ein Haus in der Stadt und ein Gartengrundstück mit Sommerhaus außerhalb. Hier gibt es Schweine, ein Dutzend Kühe und Obstbäume. Sogar Seife und Kerzen werden selbst hergestellt. Oft verbringt Charlotte den ganzen Sommer im Gartenhaus. "Das dumme Alleinsein, ich enüiere mich doch fast aller orden", seufzt sie. Ihr Mann ist oft auf Dienstreise.

Noch einmal gibt es in Lottes Leben eine unglückliche Liebe: Sie schwärmt für den eleganten und weltläufigen Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, preußischer Legationsrat in Dresden und kunsthistorisch bewanderter Schriftsteller. Hatte sie Goethe abgewiesen, so macht sie diesmal die umgekehrte Erfahrung: Sie wird enttäuscht. In einem Eklat geht die Beziehung 1781 zu Ende. "Solche Freundschafen verheirateter Frauen mit jüngeren Männern gehören zu dem widerspruchvollen Bilde der Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts", heißt es bei Oskar Ulrich in seinem Buch Charlotte Kestner, ein Lebensbild. Kinder siezen ihre Eltern, gleichzeitig halten sich ältere Damen jüngere Unterhalter. Die Beziehung zwischen Kestner und Lotte bleibt nach der Ramdohr-Episode gespannt. Unterdessen grassiert noch immer das Wertherfieber: Unzählige Nachdichtungen, darunter viele Ulkversionen des Romans kursieren. Der Berliner Verleger Friedrich Nicolai etwa schreibt die Parodie Die Freuden des jungen Werthers: Hier gibt Albert seine Verlobte frei und Lotte kommt mit Werther zusammen. Wenige Monate später aber ist die große Liebe schon am Ende. Geschossen wird auch, es fließt aber nur Hühnerblut.

Im echten Leben will Lotte schließlich gar nicht mehr heraus aus dem Goethe-Wagen. Zu groß sind die Vorteile, eine so einflussreiche Person zu kennen. Besonders Charlottes älteste Söhne genießen die Beziehung zum großen Weimaraner: Der Dichter ist ansprechbar, rät bei mancher Lebensentscheidung und hilft beim beruflichen Fortkommen. Dass Charlotte mit 63 Jahren als verwitwete Hofrätin den Jugendfreund in Weimar aufsucht, weist darauf hin, wie selbstbewusst sie mit sich als literarischem Denkmal umgeht. "Konnt´ sie sich´s nicht verkneifen, die Alte, und mir´s nicht ersparen?", fragt Goethe seinen Sohn August in Thomas Manns Roman Lotte in Weimar. Auch im echten Leben müssen die Begegnungen förmlich und steif verlaufen sein. Charlotte vom Stein empfängt sie zweimal, betont ihre Liebenswürdigkeit, kann sich aber nicht verkneifen, hernach darauf hinzuweisen, dass sich für diese alte Dame niemand mehr in den Kopf schießen würde.

In ihren letzten Lebensjahrzehnten widmet sich Charlotte ihrer depressiven Tochter Clara sowie der Korrespondenz mit ihren weithin verstreuten Kindern und Enkeln. Um ihre "Rolle" als Lotte wird es stiller. Ganz verschwindet der Nimbus des Goethischen allerdings nie. Im 19. Jahrhundert noch tauft man in Wetzlar ihr Geburtshaus in Lottehaus um. Heute befindet sich dort ein Museum. In Hannover hingegen hängt an dem Haus, in dem Charlotte 35 Jahre lang lebte, nur eine unscheinbare Gedenktafel.

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