Es war die vorletzte Ausgabe der Volkszeitung in Düsseldorf, in der diese Reportage erschien, was allerdings weder die Redaktion noch die Autorin ahnten. Hinter Maria Meister verbarg sich Marina Achenbach, die im Herbst 1989 aus der DDR berichtete, allerdings ohne Akkreditierung, für solche bürokratischen Prozeduren wäre keine Zeit mehr geblieben. Mit den Tagespassierscheinen, die jeweils bis 24 Uhr galten, und Einladungen von Freunden nach Leipzig ging es auch. Aus Sorge, dass die Berichterstatterin nicht mehr über die Grenze gelassen werden könnte, wurde das Pseudonym gewählt. Auch diese kleine Vorsicht zeigt vielleicht etwas von den Ungewissheiten im Herbst 1989.
Der Titelsatz ist mehrsinnig. Dieser Samstag in Berlin/DDR ist eine Übung in Hellh
bung in Hellhörigkeit, eine Schule der Sensibilität für echte und für falsche Töne. "Was so schwer auszusprechen war, geht uns jetzt glatt über die Lippen", sagt Christa Wolf, "und wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben." Ein allgemeines Staunen über sich selbst ist hier mitzuerleben und Mißtrauen: Wer hat wirklich schon früher gedacht, was er jetzt sagt? In diesen Wochen - "sie werden uns nur einmal gegeben, durch uns selbst" -, fügt Christa Wolf an, "ist es unsere Angst, verwendet zu werden oder ein ehrlich gemeintes Angebot auszuschlagen. Das ist unser Zwiespalt."Die Frage ätzt, wie es solange auszuhalten war, kein Gehör zu finden mit den Vorschlägen zur Behebung der Mißstände, die allen offensichtlich waren. Wer sind die Verantwortlichen für den Zustand? Alle? "Nein, nicht alle sitzen im Glashaus!" wehrt der Dokumentarfilmer Tschirner das laue Gerede ab, das lähmt. "In diesen Nächten ist eine Krankheit unseres Landes aufgebrochen", sagte Christa Wolf auf der Veranstaltung "Wider den Schlaf der Vernunft" eine Woche zuvor. Heute beinahe ein Triumphruf: "Die Welt erkennt unsere verschlafene Republik nicht wieder" (Jens Reich). Zeitungen vom Anfang Oktober sind uralt, stammen aus einer anderen Epoche. "Welche Wandlung", sagt Stefan Heym, "noch vor vier Wochen der Vorbeimarsch, der bestellte, vor den Erhabenen. Heute - ihr - aus eigenem freien Willen - für einen Sozialismus, der diesen Namen wert ist."Doch noch gibt es keine Sicherheit gegen einen Rückfall. Wie ein roter Faden durchzieht diese Mahnung alle Reden, und die Beschwörungsformel heißt: neue Strukturen."Ich möchte an einen alten Mann erinnern", sagt Christoph Hein, "der jetzt wahrscheinlich sehr einsam ist. An Erich Honecker. Er hatte einmal einen Traum von einer gerechten Gesellschaft. Er war bereit, dafür Illegalität und Zuchthaus auf sich zu nehmen. Und er bekam die Chance, den Traum zu verwirklichen. Es war keine gute Chance, ihre Geburtshelfer waren das Ende des Faschismus und der Stalinismus. Unter dem Stalinismus bildeten sich Strukturen, denen man sich unterordnen mußte, wenn man das Land nicht verlassen wollte. - Auch für den alten Mann war das sicher nicht die Verwirklichung seines Traums. Auch er war gegenüber diesen Strukturen ohnmächtig. Passen wir auf, dass wir jetzt nicht Strukturen schaffen, denen wir später hilflos ausgeliefert sind!"Die Sätze hallen in den Lautsprechern nach. Der Applaus wandert über die Menschenmenge, die den Alex füllt und die umliegenden Straßen bis zum Marx-Engels-Platz. Als ein Lied über Krenz, den neuen Mann am Ruder, gesunden wird (von Wenzel und Mensching), brandet zu jeder Zeile Lachen auf:Was er will, weiß man noch nicht genau. Leider ist er wieder keine Frau. Aber er studierte in Moskau. Lange waren er/sein Hemd sehr blau. Ob er anders oder anders anders denkt, Oder nur ein andres Fähnchen schwenkt, Ob er kränkelt oder kränkt, Ob er sich den Hals verrenkt - wer weiß ... Um neun Uhr morgens, eine Stunde bevor die Demo beginnen sollte, hat sich der Zug schon in Bewegung gesetzt, lavaartig, vom ständigen Zustrom gedrängt. Die Schauspieler - die Initiatoren der Demo - in breiter Reihe voran. Sie halten sich am Transparent, das schlicht die Einhaltung der Verfassungsparagraphen 27 und 28 verlangt, die die Meinungs- und Versammlungsfreiheit betreffen. Vor ihnen die noch leere Straße, hinter ihnen quillt wie aus einem Füllhorn die Menschenmenge und nimmt die breite Straße ein. Das sind nicht die nächtlichen, dunklen, eiligen Menschenzüge wie am 7. und 8. Oktober, sondern das strömt mit Tausenden Schildern, Tafeln, Transparenten dahin. Alle Leute sind beschäftigt, die Sprüche zu lesen und zu kommentieren, von denen viele einfache Sätze sind, ohne Reim, ohne Ausrufungszeichen, wie ein leise hingesagter Gedanke. "Sozialismus - wer hat den Sinn so zerstört?" - "Wer immer schluckt, stirbt von innen". Zitate: "Ich weiß, sie tranken heimlich Wein." - Die Gesichter sonntäglich. Neben mir stoßen alte Bekannte unerwartet aufeinander: "Ach, dass man sich hier trifft. Ach! Was für ein Tag." Und die Frau sagt: "Mir rieselt es immerzug den Rücken runter." Lange gehe ich hinter einem Blatt her, das vom Rücken einer schmalen Frau weht: "Bei lahmen Leuten lernt man hinken." Ob er lieber gern chinesisch speist ob er auch in seinem Amt vergreist, bis er schließlich nichts mehr weiß als die Losung: Ohne Fleiß kein Preis? Träumt er von der zweiten Pubertät oder von Ardennes Sauerstoffgerät, tanzt er diplomatisch auf Parkett, wird er dabei Hager oder fett - wer weiß ... Warum wird Markus Wolf ausgepfiffen? Er hat schließlich vor zweieinhalb Jahren seinen Posten als Chef des Geheimdienstes niedergelegt, hat ein Buch der Bereinigung geschrieben, das in der DDR sofort vergriffen war. War Wolf nicht ein Unterpfand für die Existenz einer Perestrojka-Strömung in der SED? Markus Wolf versucht, die Pfiffe zu übertönen. Während die Umstehenden reden: Er ist zu schlau, - das Buch ist gar nicht ehrlich - ihm traue ich nicht - und während der Ruf "Trittbrettfahrer" zu ihm hinaufschallt, gibt er seiner Stimme eine Festigkeit, eine Durchsetzungskraft, die etwas von Herrschaftsbewußtsein auszudrücken scheint. Doch heute steht er vor der Demo der solange verstummten Bevölkerung, vor einer abgerungenen, erkämpften Demo. Markus Wolf anerkennt es verbal, zieht den Hut vor der Besonnenheit der Straße, aber der Ton klingt nach Macht, und die lastende Frage nach den Ursachen der Deformationen berührt er nicht. Die Menge reagiert mit feinem Gespür auf Kreide in der Stimme. Auch der ausgebuhte Schabowski, Politbüromitglied, ist einer aus der "SED-Spitze, die nur auf Druck reagiert", so Schauspieler Liefers. "Den im Land Verbliebenen bleibt das Recht, zu entscheiden, wen sie mit der Führung beauftragen." Unter der Oberfläche werden die Kräfte gemessen, die um den Führungsanspruch der Partei ringen. Unzählige Male wird gefordert, die führende Rolle der SED aus der Verfassung zu streichen, sie zu verdienen in freien Wahlen. Das Neue Forum, die anderen neuen Bürgerinitiativen, die Evangelische Kirche streiten der SED keineswegs ihre Bedeutung im Prozeß der Erneuerung der Gesellschaft ab, aber das verbriefte Recht auf die Führung. Noch sind nicht die Parteien oder Persönlichkeiten hervorgetreten, die ihren Anspruch gegen die SED anmelden. Doch aus diesem Demonstrationszug werden sie hervorgehen. Die SED war nicht Initiator der Umgestaltung. Das Volk hat begonnen, sich zu artikulieren, ohne dass es die von der SED immer gefürchteten oppositionellen Organisationsstrukturen gegeben hätte. Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur war auf einer Diskussion in Leipzig zu hören, mit Spott: Das hätte alles nicht stattfinden können, wenn es nicht soviel von dem verhaßten Gewi-Unterricht (Gesellschaftswissenschaft) gegeben hätte. Der Vorsitzende der Anwaltskollegien, Gregor Gysi, der auf seine Mitgliedschaft in der SED hinweist, baut mit einem Seitensatz in seine Rede den Gedanken ein, dass der Führungsanspruch der SED sich aus dem vergesellschafteten Eigentum an Produktionsmitteln herleite, um aber zu betonen, dass das nicht Alleinherrschaft bedeute. Gysi spricht für die Zulassung des Neuen Forums, ein neues Wahlrecht, ein Verfassungsgericht, für Telefone in jedem Haushalt (Anschlüsse sind Mangelware, und der verbreitete Verdacht ist, dahinter verberge sich System) und für das Vergessen des Satzes: "Am Telefon sag ich dir das lieber nicht." Die SED glaubt, dass die Existenz der DDR an ihre eigene Existenz und Führungsrolle gebunden sei. Nun ist sie mit einem nicht vermuteten und geahnten Bekenntnis aller, die sich zur Zeit politisch artikulieren, zur eigenständigen DDR, zum Sozialismus konfrontiert. Stefan Heyms Appell: "Bauen wir einen Sozialismus - zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands!" wandert durch die Lautsprecher. Wie viele denken so? Oder leitet alle, die sich in diesen Wochen politisch äußern, eine Übereinstimmung ohne Absprache: das Tabuthema Wiedervereinigung zu umgehen? Am Grenzübergang, einem der Nadelöhre zwischen den Systemen, glaubt ein Renter aus der DDR mich zu erfreuen mit der Beteuerung, dass es nur noch einige Jahre bis zur Wiedervereinigung dauere. "Wenn's freie Wahlen gibt, sind die weg." Dann könne die BRD die DDR sanieren. Was da alles zu tun sei: Bis weit ins Jahr 2000 hätten wir dann alle Arbeitslosen von der Straße ... Abends Mitterand im Fernsehen mit der Erklärung, Frankreich habe keine Einwände gegen die Vereinigung Deutschlands. In der BRD kommt indessen Erschrecken auf angesichts der Flüchtlingszahlen aus der DDR. Die jungen Leute erklären an der Grenze stur in die Kameras, dass sie "denen" nichts glauben. Sie rennen weg, als treibe sie die Furcht, in Versuchung gebracht zu werden, sich doch noch beim mühsamen Umbau der DDR zu engagieren. Ob sich die DDR der Sogkraft entgegenstemmen kann, die von einem der reichsten Länder der Welt auf die Umgebung ausgeübt wird, ist ungewiß. Zyniker sagen, die BRD werde schon selbst dafür sorgen, dass die DDR als ihr Billigproduktionsland erhalten bleibe. Westberlin rüstet sich jedenfalls für die Besucherströme zu Weihnachten. Zehn Millionen DM Kaufkraft werden erwartet, die aus den Begrüßungsgeldern stammen. Der Ku'damm wird für Autos gesperrt, zum ungestörten Flanieren durch den Glanz. Professor Jens Reich vom Neuen Forum: "Wir haben früher gelernt: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Ist nicht allzuviel Sklavengeist darin? Heute gehört der Satz hierher: Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden." Reich spricht gegen die Angst, was ich sage, könnte später gegen mich verwendet werden. Er fordert auf, dem anderen beizustehen, nicht zuzusehen, ob er sich den Hals bricht, wenn er seine Meinung vor dem Chef, den Kollegen, den Lehrern vertritt. Es wird still auf dem Alexanderplatz, für Momente steht jeder einzeln, für sich allein. Reich holt das Wir zurück: "Wir haben die Sprache wiedergefunden! Der Dialog ist noch nicht das Hauptgericht, sondern die Vorspeise. Sie wird nicht mit Zuckerwatte, sondern mit Pfeffer zubereitet. - Wir werden weiterhin Druck erzeugen. Das Neue Forum und die anderen neuen Bürgerinitiativen dürfen nicht miesepetrig akzeptiert werden. Tapeten haben wir zur Genüge beschrieben, jetzt brauchen wir eine richtige Zeitung und Zugang zu den elektronischen Medien. - Wir brennen darauf, das gähnende Loch aufzufüllen, das der Schwarze Kanal hinterlassen hat..." Die Schriftsteller Christa Wolf, Stefan Heym, Christoph Hein, Heiner Müller sind durch ihre Arbeit ohne Abstriche legitimiert. Gerade sie prüfen sich für die anderen mit. Sie sind eine moralische Instanz. Heiner Müller hat sich zum Sprecher einer Initiative für unabhängige Gewerkschaften gemacht. Er verliest ihren Aufruf, mit erregter Stimme, wohl in dem Wissen, dass auch dieses Thema, ähnlich der Wiedervereinigung, ein Tabu bedeutet: "Was hat der FDGB in 40 Jahren für uns getan? Die 40-Stunden-Woche erkämpft, die Löhne der schleichenden Inflation angeglichen? Mit dem Arbeitgeber Staat ständig Tarifverhandlungen geführt? Wo war er, wenn Normen verändert wurden? Hat er je einen Plan abgelehnt, etwas gegen den Staat für uns durchgesetzt? Jetzt sollen wir den Karren aus dem Dreck ziehen. Der Staat fordert Leistung. Subventionsabbau wird zu unseren Lasten gehen. Lassen wir uns nicht mehr organisieren, sondern gründen unabhängige Gewerkschaften." Prompt wurde Heiner Müller am Abend im Kommentar des Fernsehens der DDR (das die Demonstration live übertragen hatte) mit Schärfe getadelt: Er habe ein Spaltungssüppchen gekocht. Einem Namen wird langer Beifall gespendet, obwohl er den meisten sicher erst seit kurzem bekannt ist: Walter Janka. Er wurde im Dezember 1956 verhaftet, ein Kommunist, der auf eine konstruierte Anklage hin verurteilt wurde, mit dem Kalkül, der DDR-Intelligenz, die nach den Enthüllungen über Stalin aufgewühlt war, einen Schrecken zu versetzen, der ihnen in die Knochen fahren sollte. Jankas Biographie öffnet der DDR den Blick auf den eigenen, den geleugneten Stalinismus. Durch ihn wird das Übel erkennbar, "aus dem über Jahrzehnte hin fast alle anderen Übel des Staates DDR hervorgegangen sind" (Christa Wolf). Ob er aber auf die Basis baut oder aber auf den Über-Überbau oder aufs Know-how aus Oberammergau oder uns den Umbau ganz versaut - ist nicht gewiß.
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