Ein Trupp Amokläufer stürmte den S-Bahnsteig und feuerte in die Menge. Ich bekam Blutspritzer ab, blieb aber unverletzt. Dann stürmte Polizei den Bahnsteig, erschoss oder verhaftete die Amokläufer. Ich wischte das Blut aus meinem Gesicht. Ich hatte zwar nie Mut bei mir, aber immer Taschentücher. Ich tupfte meine Schuhe ab. Als ich mich wieder aufrichtete, waren die Leichen weggeräumt, ein Reinigungsauto mit einem orangefarbenen, trübsinnigen Pakistani obendrauf surrte umher. Wütend starrte ich auf meine blutigen Hände, wo sollte ich die waschen? Während die S-Bahn noch rollte, packte ich den Türgriff und presste mich ins Abteil. Eine Hochschwangere wie ich muss mangelnde Beweglichkeit durch Brutalität ausgleichen. Kaum saß ic
Warum sind Ihre Hände blutig?
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ich, fiel mir was ein: Ich hatte keine Fahrkarte!So musste ich meinen Sitzplatz einem fremden Arsch überlassen, zur Tür drängeln und erschnüffeln, ob auf dem nächsten Bahnsteig Kontrolleure lauerten. Im Gedrängel trat ich auf einen Obdachlosen, der nackt auf dem Fußboden lag, nur mit einem Topflappen zugedeckt. Ich sah in sich nähernder Ferne die blutroten Kontrolleurskrawatten leuchten. Wie ein schwarzer Spiegel hing der Himmel draußen, ich erschrak darin vor meinen furchtsamen Augen, vor meinen furchtsamen Augen.Die Kontrolleure fluteten ins Abteil, rechts, links, vorn, hinten Kontrolleursärsche. Zwischen zwei Ärschen sah ich die Hand des Obdachlosen im Abfallbehälter wühlen. Hatte wohl Hunger, aber kein Geld, genau falschrum."Wo haben Sie den Topflappen her?" fragte der Kontrolleur den Obdachlosen. Ich versuchte, meinen Bauch zwischen zwei Kontrolleursärschen durchzuquetschen. Diese verfluchten Absätze, auch mein Verstand geht auf Absätzen. Der Fußboden wimmelte von Obdachlosen, so dass ich auf Hände, Kehlen, Brustkörbe trat. Das Treten gab mir das Gefühl, nun doch schon besser in die Gesellschaft integriert zu sein. Ich stolperte wegen der Scheißabsätze über die Scheißobdachlosen. Ich hatte hinten keine Augen, aber doch, doch, spürt man, spürt man: Die Kontrolleurshand packte mich am Kragen."Wo haben Sie den Kassenbon für den Topflappen?" fragte der Kontrolleur den Obdachlosen, während er mir Handschellen anlegte. Ich schüttelte kommentarlos den Kopf, manchmal muss man einfach kommentarlos den Kopf schütteln: Wo sollte der nackte Mann den Kassenbon haben? In der Arschritze? "Warum sind Ihre Hände blutig?" fragte mich der Kontrolleur. Tatsächlich, meine Hände waren blutig. Der Kontrolleur angelte mit dem Fuß unter der Sitzbank einen Schuhkarton hervor, aus dem Blut floss. "Ist das Ihr Karton?" fragte er.Die Dämmerung galoppierte mit wehenden Schleiern neben uns her. Ich musste meinen Personalausweis vorzeigen. Ich ging immer ohne Mut aus dem Haus, aber niemals ohne meinen Personalausweis und meine Barmer-Versicherungskarte. Der Kontrolleur drückte den blutverschmierten Karton in meine Arme und führte mich ab. So konnte ich nicht zur Schlacht äh Schicht, ich war so erleichtert und bat den Kontrolleur, dienstlich telefonieren zu dürfen. Er ließ mich auf seinem Handy, das war so menschlich. Ich durfte aber auf Arbeit nicht sagen, dass ich verhaftet war. Zahnschmerzen? Einer vor die S-Bahn? Drogenrazzia? Bombendrohung? Egal, dir glaubt sowieso keiner."Ich kann heute nicht kommen, ich habe Durchfall!"Bei Durchfall ruft man doch nicht zehn Minuten vor Arbeitsbeginn an, sondern mindestens eine Stunde vorher. Wohl Arbeitsvertrag nicht gelesen! Meine Stimme zitterte vor Angst. Alle kleinen Leute haben Angst, das ist sehr wichtig für unsere Demokratie."Ich habe in der S-Bahn Durchfall bekommen, auf dem Weg zur Arbeit." Clever. Trotzdem: Ich war gekündigt. Außerdem fehlten meiner Chefin fünfzig Mark in der Kasse. Sie verdächtigte mich des Diebstahls und wollte den Kontrolleur sprechen.Ich musste mich ausziehen. Die Kontrolleure überprüften meine Körperöffnungen und tasteten meine Brüste ab, ob ich das Geld da eingenäht hätte. Ein Kontrolleur zog aus meinem Arschloch den Fünfzigmarkschein. Ich hätte heulen können. Ich weiß nicht, wie der Fünfziger da reinkam. Ich hatte doch keine Kontrolle über meinen Arsch, wird doch alles per Kamera überwacht. Ich war so wütend!!!!!!!!!!"War das ein Orts- oder ein Ferngespräch?" fragte der Kontrolleur, er hatte keinen Bock, mir ein Ferngespräch zu bezahlen. Um mich als Arbeitslose zu kennzeichnen, klebte er mir das goldene A an die Brust, ich besaß nun das Recht auf verbilligte Monatskarten. Das goldene A hatte ein berühmter Modeschöpfer aus Paris für alle arbeitslosen Europäer entworfen, um den europäischen Gedanken zu fördern.Die Sonne rollte auf einem roten Streifen neben der S-Bahn her, gelb und fröhlich lachte sie mir zu. Der Kontrolleur öffnete den Karton, darin lag ein totes Baby."Ist das ihr Kind?" Ich nickte."Haben Sie es getötet? "Ja", flüsterte ich, meine Tränen fielen in den Karton. Dass ich das tote Kind in den Armen hielt, nervte mich, dass da kein Fernseher zwischen war. Schneller als die Wolken wehte der Zug. Bettlerhände schlugen von draußen gegen die Scheiben. Milliarden Hände schluckte die Nacht, der Nacht war es egal.Der Kontrolleur verlangte meine Haarwuchsmonatskarte. Seit sieben Stunden war Dezember, und ich hatte noch keine Haarwuchsmonatscard für Dezember! Sofort wurden automatisch dreihundert Mark von meinem Herzen abgebucht, mein Blutdruck sackte, ich musste mich setzen. Natürlich machte mir niemand einen Platz frei, so blieb ich stehen und legte nur meine schweißnasse Stirn an eine Kontrolleursschulter. Obwohl ich mir täglich den Kopf kahlrasierte, brauchte ich eine Haarwuchsmonatscard - rein juristisch war der Haarwuchs auch bei Glatzköpfen in Gang. Durch das tägliche Rasieren sparte ich zwar etwas, denn Kahlrasierte brauchten nur die Minihaarwuchscard, aber die 7,80 DM waren schon nach einmal Scheißchinanudeln wieder futsch. Der Kontrolleur stieß mich von seiner Schulter fort, er verlangte meine Baumrauschmonatskarte. Ich griff in die Jackentasche, schüttelte schwach den Kopf. Die Baumrauschcard steckte in der Manteltasche, ich hatte mich aber spontan für die blaue Jacke entschieden, selbst Schuld! Zwar gibt es hier überhaupt keine Bäume, aber wissenschaftliche Studien haben nachgewiesen, dass das menschliche Ohr Baumrauschen noch aus tausenden Kilometern Entfernung wahrnimmt. Auf den Kontrolleursschuhen klebten zwei Nackte, die für Kalbsleberwurst warben. Information absorbieren, in körpereigene Stoffe umwandeln! Auf meinen Schuhen warb ich für Eier von freilaufenden Hühnern, damit verdiente ich mir fünf Mark. Ich hörte den Kontrolleur nach meiner Stoffwechselmonatskarte fragen. Ich wies sie vor, aber heute war Dienstag, das hatte ich nicht bedacht.Trotzdem erschoss der Kontrolleur mich nicht, vielleicht war die Rechtslage wegen meiner Schwangerschaft zu kompliziert. Er erhob Anzeige wegen Mordes, wegen Diebstahl und stellte mir vier Strafzettel aus. Weitere 900 DM wurden von meinem Herzen abgebucht. Das war weniger, als ein Pup von unserem Außenminister auf einer Auktion zugunsten der Welthungerhilfe ersteigert, aber ich bekam Stiche und sackte zusammen. Ich war so pflichtbewusst mit meinen Monatskarten, aber die Arbeitslosen-Baumrauschmonatskarte war zum Beispiel im Berufsverkehr vor neun Uhr morgens und zwischen sechzehn und achtzehn Uhr ungültig. Zu diesen Zeiten mussten Inhaber der verbilligten Monatskarten Ohrenschützer tragen. Die verbilligte Haarwuchsmonatskarte galt nicht Montag, Mittwoch und Freitag Abend - zu diesen Zeiten musste man ununterbrochen rasieren. Es gab natürlich Rasiermützen, die automatisch rasierten, doch für mich kam nur eine im Sonderangebot in Frage, die furchtbar kratzte und Entzündungen hervorrief, und die Hautsalbe war natürlich auch nicht umsonst.Am Hauptbahnhof war alles abgesperrt, weil auf der Bahnhofstoilette der zehntausendste Junkie krepiert war. Der Bundeskanzler legte einen Kranz in der betreffenden Klosettkabine nieder, er gab seiner Erschütterung und Empörung Ausdruck. Er bedauerte, dass immer mehr Junkies krepierten, betonte aber auch, dass dies nötig sei, da sie immer zahlreicher wurden. Die echten Junkies saßen für heute alle in Haft, damit sie die Zeremonie nicht störten. Die Trauergäste, die dem Kanzler applaudierten, waren natürlich Bodyguards, ja, so verrückt kann das Leben sein. Unser Bundeskanzler verteilte Gutscheine für McDonald´s-Milchshakes unter den Junkies, obwohl ja gerade die Milchshakes das Junkieleben verlängern, aber der Bundeskanzler konnte nun mal nicht anders als gut sein. Außerdem waren die Junkies in Wahrheit verkleidete Bodyguards, und am Ende der Trauerfeier sammelte der Kanzler die Gutscheine sicher wieder ein, natürlich nicht persönlich. Zum Schluss rief der Bundeskanzler so laut, dass es auch die Junkies in den Gefängnissen hören konnten: "Und nun noch eine kleine persönliche Bitte - bitte wählt mich!" Na, da konnte er doch sicher sein, er wurde sicher gewählt, einen Bundeskanzli gab es doch immer. Auf dem Nachhauseweg wurde ich vergewaltigt. Der Vollmond hing am Himmel wie eine riesige Krankenhauslampe. Na, das Leben geht weiter! Bettler hüpften vorbei, traurige Bälle. Ich warf einem eine Mark hin, danach fühlte ich mich noch schlechter.An meiner Wohnungstür hing ein Zettel: "Nächstes Mal brechen wir die Tür auf, und wenn wir einen Fernseher finden, zahlen Sie zehntausend Mark Strafe plus sechsfache Rundfunk- und Fernsehgebühren für die letzten dreißig Jahre. Küsschen, Ihre Gebührenzentrale". Daneben klebte ein Zettel von meinem Nachbarn, dass er gerichtlich gegen mich vorgehen will, weil auf der dritten Stufe seit Wochen ein Fussel liegt, den er persönlich dort hingelegt hat als Beweis, dass ich nicht die Treppe wische.Die Vergewaltigung beschäftigte mich den halben Abend, weinend epilierte ich mir die Beine, denn keine Frau darf Haare an den Beinen haben. Im Fernseher lag ein Haufen nackter, toter Afrikaner, die glänzten wie Maden. Das Müsli krachte zwischen meinen Zähnen. Beim Zähneputzen hatte ich die Vergewaltigung endlich vergessen. Das muss schneller gehen! Schließlich überwand ich mich und schlich runter zum Briefkasten: Leer. Nichts! Wie schön, wenn der Schmerz nachlässt.Im Fernseher lag ein Baby mit lachenden Augen. Es lachte mich an und strampelte mit seinen blutigen Beinstümpfen. Aber so lang war kein Arm wie die Entfernung.
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