Vor dreizehn Jahren endete der Kalte Krieg zwischen West und Ost, der seine Schneisen und Markierungen auf allen Kontinenten hinterlassen hat. Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem afrikanischen Kontinent wurden durch das Ende der West-Ost-Konfrontation zunächst weitergebracht. Fast zeitgleich wurde offiziell auch die Apartheid in Südafrika aufgehoben. Aber man kann heute von einer zweiten Form der Kolonialisierung durch die ökonomische Abhängigkeit der Staaten der Dritten Welt sprechen. Die militärische und ökonomische Überlegenheit der Industriestaaten wird weder im Norden noch im Süden der Welt zugunsten der Demokratie eingesetzt und das Armutsgefälle steigt an. Dieser politische Bruch tritt heute am deutlichsten im sogenannten "Krieg gegen den Terror" hervor. Bei dem stehen auf der einen Seite die bereits bekannten Truppen der europäischen und nordamerikanischen Nationalstaaten. Auf der anderen Seite formieren sich erst Widerstandsgruppen und Länder, die vor allem verhindern wollen, dass ihre Gesellschaften ins westliche System integriert werden.
Auf diese Zusammenhänge in der postkolonialen Welt am Anfang des neuen Jahrhunderts bezieht sich das Konzept der diesjährigen Documenta11 mit all seinen Anspielungen. 1989 gab es auch die ersten Ausstellungen in Europa, in denen zeitgenössische afrikanische Kunst gezeigt wurde. In London war The Other Story zu sehen, eine Ausstellung über afroamerikanische Künstler in Großbritannien nach dem Krieg. Die Pariser Ausstellung Magiciens de la Terre, im Centre Pompidou feierte dagegen vor allem den Gegensatz zwischen westlicher und afrikanischer Kunst. Es dauerte weitere neun Jahre bis 1998 der erste Nicht-Europäer als Leiter der Documenta11 berufen wurde. Dem nigerianischen Kurator Okwui Enwezor, der auch einen US-amerikanischen Pass besitzt, wurde unter anderem bald schon vorgeworfen, dass er als US-Amerikaner die KünstlerInnen aus Afrika gar nicht mehr vertreten könne. Dieses unsinnige und rassistische Argument hieße, dass der Pass den Menschen definiert, seinen Beruf, seine ethnokulturelle Identität. Wer so argumentiert, ignoriert auch die fragilen multikulturellen Biographien, die den globalen Migrationsbewegungen entstammen, die durch Kolonialismus und wirtschaftliche Ausbeutung wesentlich erst hervorgebracht werden.
Die internationale KuratorInnengruppe der Documenta11 sieht im Jahr 47 der Existenz dieser Ausstellung ihr Hauptanliegen darin, die radikale Infragestellung des engen westlichen Fokus auf die Welt mit den Mitteln der Kunst zu spiegeln. Seit Harald Szeemann 1972 auf der Documenta 5 die Rolle des Kurators neu gewichtete und mit dem Begriff der "Individuellen Mythologien" die Kunstgeschichte entschlackte, ist die Documenta ein Forum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Reagierte die Documenta 5 auf eine explosive Gesellschaftssituation, so geht es dieses Jahr um Ausdrucksformen in einer globalisierten Welt und um die Artikulation einer gleichberechtigten Weltbürgerschaft, nicht aber um die simple Prämisse, dass Politik Kunst ist und umgekehrt. Die erste Documenta im neuen Jahrhundert zeigt sich als Internationale der bewegten und der digitalen Bilder, die in großzügigen Räumen präsentiert werden. Die KünstlerInnen buchstabieren Lebensgeschichten und befragen Identitäten nach ihren - möglicherweise erzwungenen - ethnokulturellen und nationalen Zugehörigkeiten. Viele der Werke nehmen die Zuschauer mit auf die Suche nach bedeutsamen Elementen einer verschütteten Geschichte, die am Ende des Kolonialismus und im Chaos einer vielstimmigen Welt auftaucht.
Ein wichtiges Beispiel ist die Arbeit des israelischen Künstlers Eyal Sivan, der in Paris lebt. Sivan dokumentiert den Völkermord an den Tutsi in Ruanda mit schwarz-weiß-Standfilmen, in denen Tutsi auf der Suche nach den Massengräbern ihrer Verwandten gezeigt werden. Die Filme sind mit originalen Radioaufnahmen unterlegt, in denen ein Moderator offen zum Mord an den Tutsi aufruft. Die transkontinentalen Geschichten verschränken sich im Blickfeld der KünstlerInnen, die häufig durch ihre Crossover-Biographien miteinander verbunden scheinen. Ihre Biographien erzählen von Menschen, die an einem Ort geboren sind, an einen zweiten Ort emigrierten und schließlich an oder über einen dritten Ort arbeiten. Wie beispielsweise die indonesische Künstlerin Fiona Tan, die in Amsterdam lebt und für die Documenta11 über West- und Ostdeutsche in Berlin gearbeitet hat. Im Fridericianum hängen vier mal zwei Leinwände, auf die ihre Filmporträts projiziert werden. Jedes Leinwandpaar präsentiert Bilder zu einem Thema, wobei immer zwei Porträts unmittelbar nebeneinander gezeigt werden, von denen unklar bleibt, ob sie zu West oder Ost gehören. Die Zuschauer sind in ihren eigenen Beobachtungen, Mutmaßungen und Vorurteilen gefangen. Wie der Kurator Sahrat Maharaj betont, ist die Produktion von Wissen untrennbar verknüpft mit der Produktion des ethischen Subjekts. Das gilt auch für die Wissensproduktion durch Kunst.
Diese Maxime hat der Documenta11 schon vor der Eröffnung den Ruf eingetragen, ein Spaßverderber zu sein. Anders als bei der Documenta 5 definieren die KünstlerInnen auf der Documenta11 aber nicht ihr Politikverständnis neu. Für sie schöpft Kunst ihre Mittel aus demselben Material- und Zeichenvorrat, den auch andere Diskurse in der Welt verwenden, und ist deshalb selbstverständlich mit der Sphäre der Politik und der Moral verbunden. Die KünstlerInnen artikulieren sich durch kleine Gesten und fokussieren die Verschiedenheit der Welterfahrung, von der Fragmente zwar übersetzt werden können, die aber nicht gleichgeschaltet werden soll. Diese Auffassung birgt radikale Konsequenzen auch für den konkreten gesellschaftlichen Alltag. Denn, wenn das Nichtpassende, wenn die Rückstände und Ablagerungen im Leben nicht einfach ausgesperrt und abgeschnitten werden, dann ändert sich mit dieser Erkenntnis auch der Umgang mit den Leuten, die für uns das Fremde verkörpern, seien es Migranten, Asylbewerber oder Arbeitslose. In der Arbeit des dänischen Künstlers Jens Haaning werden türkische Witze über Lautsprecher auf einer Straße in Oslo ausgestrahlt, die die Passanten befremdet zurücklassen. Warum verursacht uns eine unübersetzbare Situation ein solches Unbehagen? Diese Arbeit gibt, wie die ganze Ausstellung, keine Antworten auf die Fragen, die sie aufwirft. Sie steht vielmehr für all die Werke, mit denen sich heute KünstlerInnen aus der binären Logik der westlichen Moderne und ihren hierarchischen Begriffen zu verabschieden suchen, die auch die Kunstgeschichte dominierten. Durch die Fusion von überraschenden oder amorphen Geräuschen mit wiedererkennbaren oder hochaufgelösten Bildern wird die Idee autonomer Kunst in die chaotische Vision eines vielstimmigen Sehens, Wissens, Hörens überführt.
Babylon - mit seinen Konnotationen des konturenlosen Fließens genauso wie der kristallisierten Formen - ist sichtlich ein weiteres zentrales Motiv der Documenta11. Die Modelle des niederländischen Architekten Constant, der 1948 die Gruppe CoBrA mitbegründete und der zuvor auf keiner Documenta eingeladen war, wirken plötzlich wieder ganz zeitgemäß im Zusammenspiel mit den schlichten Glitzertürmen der deutschen Künstlerin Isa Genzken und den phantastischen postkolonialen Stadtwelten des kongolesischen Architekten Bodys Isek Kingelez. Die Vielzahl der Videoarbeiten verdeutlicht die formale Flüchtigkeit, die die Unsicherheit mit der eigenen Geschichte und Identität der KünstlerInnen und ihrer ProtagonistInnen widerspiegelt. Die Videofilme besitzen dabei in ihrem oft komplexen Aufbau einen skulpturalen Charakter, der gegen die lineare Struktur der projizierten Filmbilder und gegen ihren Konsum als ästhetisches "fast food" arbeitet. Die gleichförmige Oberfläche und Materialität der Videos bringt dennoch die Gefahr der Uniformität mit sich, verstärkt durch die Übersetzungen, die als "Voiceover" oder Untertitelung bei den meisten Arbeiten das babylonische Risiko für die Zuschauer von vornherein begrenzen. Aber die Videoarbeiten bergen zugleich eine hartnäckige Vorstellung von Gleichberechtigung, weil das eingesetzte Material keinen Rückschluss auf Werkgenese und Identität der Künstler zulässt.
In Wien findet man in der Galerie Christine König dieser Tage eine "leise Documenta", die die Grenzen dieser Kunstauffassung zeigt. Der US-amerikanische Künstler David Hammons hat drei KünstlerInnen aus New York kuratiert. Hammons, selbst Teilnehmer der bunten Documenta IX unter Jan Hoet, hat 1995 die Teilnahme auf der Biennale in Venedig, wo er die USA vertreten sollte, und 2002 auch die Teilnahme an der Documenta11 verweigert. In Wien zeigt er die Arbeiten von Ed Clark, Stanley Whitney und Denyse Thomasos, drei afroamerikanischen KünstlerInnen aus drei verschiedenen Generationen, die ihre Arbeiten nicht selbstverständlich unter dem Vorzeichen ihrer "schwarzen Identität" zeigen und aufgenommen wissen wollen. Alle drei arbeiten mit abstrakter Kunst, in die Spuren ihrer Beschäftigung mit Kolonialisierung, Ausbeutung und sozialem Status eingelassen sind. Erfahrbar sind diese Spuren erst nach einer intellektuellen Beschäftigung mit den Strukturen der Gemälde. So bemalt Stanley Whitney die Leinwände mit unruhigen Farbblöcken, die sich wie Solisten in der afroamerikanischen Musik gegen den sturen Beat der Liedstruktur auflehnen. In den Farbblöcken taucht außerdem ein wenig bekanntes Detail aus der Geschichte der afrikanischen Sklaven auf. Mit den Gitterstrukturen ihrer Decken tauschten sie geheime Botschaften aus, die den Weißen verborgen blieben. Denyse Thomasos großflächige abstrakte Wandmalereien sind durch ihre politische Arbeit entstanden. Sie beschäftigt sich in ihren schraffierten Flächen mit den inneren Formen von Objekten, denen wir sonst eine politische Bedeutung zumessen, Sklavenschiffen und Auffanglagern an der Westküste Afrikas. Im Blick der Zuschauer müssen die unsichtbaren Spuren einer ruhiggestellten Vergangenheit - die Ausstellung trägt den Namen: Quiet as it´s Kept - keine Rolle spielen, im Gegenteil, zunächst verlangen und ermöglichen die Arbeiten von Clark, Whitney und Thomasos einen Umgang in größtmöglicher Freiheit. Diese kleine feine Ausstellung, sozusagen eine Gegendocumenta, beharrt darauf, dass schwarze Kunst vielfältig ist und nicht bloß ein Anzeichen "schwarzer Umstände". Sie widerspricht damit der am Kunstmarkt und in der internationalen Kunstgemeinde vorherrschenden Meinung, dass es auf der einen Seite eine allgemeingültige Kunst gebe und auf der anderen Seite eine ethnokulturelle Kunst, die einem archaischen Identitätsfeld entstamme. Um Anschluss an den Markt und die allgemeingültige Kunst zu erlangen, müssten demnach die afrikanischen und andere "native" Künstler erst auf die andere Seite gelangen. Die KünstlerInnen in der Wiener Galerie verweigern sich jeder ethnokulturellen Zuordnung, und sie widerlegen den Versuch, abstrakte Kunst zu entpolitisieren.
Im Anschluß an Quiet as it´s Kept bleibt eine entscheidende Frage an das Konzept der Documenta11, ob es in eine neue Identitätsfalle der Globalisierung tappt. Werden die beteiligten KünstlerInnen in Kassel nun in ein anderes allgemeingültiges (Video-)Raster eingespeist? - oder kann die diesjährige Documenta zu einem wirklich pluralen zeitgenössischen Kunstarsenal werden? Eines jedenfalls kann man auch dieser großen Ausstellung nicht vorwerfen, dass sie keine repräsentative Zeitschau sein will, sondern ihr eigenes Konzept verfolgt. Gemäß der Tradition seit 1972 begreift sich dieser elfte Parcours als Modellfall, der keine kunsthistorischen Auswahlkriterien durchsichtig macht, sondern ein selbstgewähltes Paradigma inszeniert. Es geht auf der Documenta11 um die Frage, was kann Politik und was kann Kunst im postkolonialen Zeitalter kommunizieren.
Die vier seitdem veranstalteten Plattformen in Wien/Berlin, Neu-Delhi, St. Lucia und Lagos wirkten vor allem symbolisch, denn sie waren für eine größere Öffentlichkeit schwer zu erreichen und wurden außerdem in einem elaborierten Gestus abgehalten, der für ein breites Publikum unverständlich bleiben musste. In jedem Fall aber haben die vier Plattformen den postkolonialen Begriff der "Exterritorialität" in ihrer Inszenierung verkörpert.
Die fünfte Plattform in Kassel nun stellt konkretes anschauliches Material zur Verfügung. Sie kreist mit ihren Videoinstallationen in dunklen Ausstellungskammern um die "Black Box" unserer eigenen Weltwahrnehmung. Ob wir dort mit dem US-Amerikaner Steve McQueen und seiner Kamera in die heiße Finsternis südafrikanischer Goldminen hinabfahren, ob wir mit dem Portugiesen Artur Barrio in ein düsteres Ausbeutungslabor treten, in dem nackte Glühbirnen über einem mit pulverisierten Kaffeebohnen bedeckten Betonboden dämmern, sich Brotberge vor rissigen Wänden stapeln und der klebrige Kaffee sich in Nase und an Schuhsohlen festsaugt, oder ob wir dem Schweizer Thomas Hirschhorn in sein begehbares Bataille Monument folgen, ein zeitgenössisches heterogenes und chaotisches Materialarchiv inmitten einer städtischen Randzone Kassels, das er gemeinsam mit AnwohnerInnen aufgebaut hat - unsere Sinne und Erinnerungsnerven liegen jedes Mal blank da wie eine "Black Box" und entweder wir verlassen die Ausstellung, oder wir sehen uns gezwungen, neue Signale aufzunehmen und unser Erfahrungsarsenal zu erweitern und sogar neu zu buchstabieren.
Umgekehrt funktionieren auch die Oberflächen der Videos wie Ausgangssignale einer "Black Box", zu der wir Anschluss und Verstehen erst herstellen müssen. Die Zuschauer werden in Kassel dieses Jahr aktiviert, ob sie wollen oder nicht. Und die Genervtheit so vieler professioneller KunstbetrachterInnen beim Anblick der Videoinstallationen, zeigt auch, dass die Ausstellung ein Grundbedürfnis zeitgenössischer Zuschauerschaft stört. Jenes Bedürfnis, das in der Kunst die Kontemplation und Ganzheit sucht, die im Kontext unserer Lebensbedingungen längst zersplittert ist, und die blind macht für die Ängste, die das unübersetzbare Fremde in uns freisetzt.
Dokumenta11 in Kassel, 8. Juni bis 15. September 2002/ Quiet as it´s Kept in Wien, 15. Mai bis 3. August 2002
Internet: www.documenta.de; www.kunstnet.at/koenig
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