Sarajevo grüßt New York

V-DAY 2001 Am Anfang standen die "Vagina Monologues". Mittlerweile geht die V-Day-Bewegung um die ganze Welt und verbindet feministischen Aktivismus mit Kunst

Was fällt dem deutsch-französischen Kulturkanal ARTE zum ersten Weltfrauentag im neuen Jahrtausend ein? Er bringt einen Themenabend zum "Besten Stück des Mannes", auch Schwanz, Willy, Dick oder Queue genannt. Bis vor kurzem wäre das kein ungewöhnlicher Affront gewesen. Das weibliche Geschlecht bleibt meistens außen vor, gerade dann, wenn es darum geht, es in den Mund zu nehmen. Nackte Frauen auf Hochglanzmagazinen sind leichte Kost. Aber bei dem Versuch, weibliche Lust zu beschreiben, versiegt der Sprachfluss schnell. Jedoch, worüber man nicht redet, das kann umso besser verdrängt, verschwiegen und - misshandelt werden. Das Schweigen über die Vagina ist antrainiert, und bislang beherrschen Männer und Frauen es gleichermaßen. ARTE schwieg einmal mehr. Doch seit wenigen Jahren könnte das anders sein. Denn seit fünf Jahren gibt es auch eine verständliche Sprache für die Vagina und sogar eine öffentliche Bühne. Stoff für mehr als nur einen Themenabend, es hat nicht sollen sein - und Berlin oder Straßburg sind nicht New York oder Sarajevo.

VM ent-mythisiert weibliche Sexualität vor aller Augen

Irgendwann vor einigen Jahren langte es Eve Ensler mit der kulturell verankerten Sprachlosigkeit über das weibliche Lustorgan. Ensler, 46, New Yorker Autorin und Performance-Künstlerin, machte Mitte der neunziger Jahre Interviews mit Frauen über ihre Vagina. 1997 erschienen ihre Vagina Monologues [VM] und werden seitdem in New York en suite gespielt. Mehr als 200 Frauen, ganz unterschiedlicher Herkunft, aus verschiedenen Ländern und Generationen, haben mit Ensler gesprochen, über ihre Vagina und ihre sexuelle Lust. In zwölf Monologen verarbeitet, hat sie die Texte auf die Bühne gebracht.

In Hollywood gehört es für Schauspielerinnen inzwischen sogar schon zur politisch korrekten Etikette, einmal in den VM mitzuspielen, erzählt Andrian Kreye, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in New York: "Das ist schon phänomenal, wie die das hingekriegt haben, innerhalb von vier Jahren. Ich finde sie als Gesamtereignis ganz phantastisch inszeniert. Gerade diese Verbindung aus Politik, Glamour, Prominenz und Theater. Und ich finde es auch sehr geschickt gemacht, mit welchen Elementen da gespielt wird, alles Elemente, die das Publikum aus den Medien kennt. Aber das hat eine ganz bestimmte Funktion, dass man über ganz vertraute Elemente ein möglichst breites Publikum an so ein Thema heranführen und auch wirklich engagieren kann."

Dabei geht es den VM nicht um sexuelle Befreiung. Das Stück transportiert vielmehr ein Tabuthema öffentlich, das mit politischen, ökonomischen und sozialen Inhalte vernetzt ist. Gewalt gegen Frauen kommt in allen Ländern und in vielen Formen vor, aber immer spielt Diskriminierung aufgrund des Geschlechts die erste Rolle. Mit den VM ent-mythisiert Eve Ensler weibliche Sexualität vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit. Ihr ist es gelungen, in einfachen Bildern eine Geschichte der weiblichen Sexualorgane aufzuzeichnen, die von Unterdrückung, Erniedrigung, Verstümmelung und Folter erzählt, aber nur in seltenen Glücksmomenten von Lust. Lust, der zweckfreie Zweck also, dem allein die weibliche Klitoris dient. Das einzigartige Sexualorgan wird in vielen Ländern der Welt immer noch brutal verstümmelt, gegen den Willen seiner Besitzerinnen.

Sexuelle Emanzipation und politische Gleichberechtigung: dieses zweifache Anliegen der VM sichert dem Theaterstück und seinem obszönen Logo eine beinah unbegrenzte Öffentlichkeit. Spätestens seitdem Glenn Close Cunt auf der Bühne skandierte, kommt man an dem Wort Vagina und der rüderen Variante, eben Cunt, in den USA nicht mehr vorbei. Und überall auf der Welt begreifen politische Aktivistinnen und Frauenrechtlerinnen die effiziente Überzeugungskraft, die den VM innewohnt.

Leidenschaftlich das Wort Cunt auszusprechen, ist eine Befreiung

Rada Boric, 49, kroatische Feministin und Friedensaktivistin hat das Stück auch in ihr Land geholt: "Ich habe geholfen, dass die Vagina Monologues ins Kroatische übersetzt worden sind und ein Vorwort für die kroatische Ausgabe geschrieben. Es wird in einem der größten modernen Theater Kroatiens aufgeführt werden. Ich liebe sie wirklich. Sie sind nicht ganz dasselbe, wenn Du sie liest. Oder wenn Frauen leidenschaftlich das Wort Cunt deklamieren. Es ist ein großartiges Stück. Es ist human, wie ein feministisches Statement. Es ist leidenschaftlich und lustig, und ich denke, dass Frauen am Anfang beginnen mit einer Art kindischem Kichern, und am Ende sind sie einfach auf eine Art verrückt. Und sie mögen es, das Wort Vagina auszusprechen, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben."

Derart emphatische Antworten habe ich von allen Aktivistinnen gehört, die ich Anfang Februar beim V-Day 2001 in New York getroffen habe. Auf allen Kontinenten und quer durch die Welt ist während der vergangenen vier Jahre die V-Day-Bewegung entstanden, die sich einmal im Jahr beim V-Day trifft. Politisch aktive Frauennetzwerke arbeiten im Zeichen der VM zusammen, vernetzen sich übers Internet, veranstalten Festivals. Die V-Day-Bewegung ersetzt nicht die politische und regionale Arbeit der Menschenrechtsorganisationen. Sally Fisher, Aktivistin und Direktorin der World Wide Initiative des V-Day erzählt, was passiert ist, nachdem die VM so erfolgreich wurden: "Wir haben verstanden, dass wir zu einer bereits sehr starken Bewegung Sichtbarkeit hinzufügen konnten. Wir bekamen Beachtung in den Medien, Reportagen, wir haben einen öffentlichen Platz erobert, auf dem die Frauen weiterarbeiten konnten, uns sagen konnten, in welche Richtung die Arbeit fortgesetzt werden sollte. Und das Publikum hat sich geöffnet. Die VM sind sehr bewegend, und Eve ist sehr bewegend. Und wo wir auch hinkommen, die Türen öffnen sich und die Leute kommen und treten unserer Bewegung bei."

Den Aktivistinnen - deren US-amerikanische Mitglieder sich kämpferisch wahlweise Eve Ensler's oder Peacemaking Army nennen - geht es um ein gemeinsames Vorgehen gegen die ständige Gewalt gegen Frauen überall auf der Welt. Mehr als 150 Jahre nach Gründung der ersten Frauenrechtsliga ist auch der letzten Mitstreiterin bewusst geworden, dass der politische Kampf allein bisher nicht effektiv genug war, um sexistische Stereotypen aufzubrechen und die Gewalt zu stoppen. Nicht juristische Experten und Politprofis, zumal oft nicht genügend sensibilisierte Männer, können Veränderungen isoliert vor Gericht oder am grünen Tisch erreichen. Nein, die ganze Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder sollen in ihrer emotionalen Betroffenheit und persönlichen Verantwortung angesprochen werden. Sally Fisher: "Frauen sind schon seit ewigen Zeiten beschuldigt worden, sich falsch zu verhalten, im Namen der Religion, im Namen der Frömmigkeit, der Moral. Eva aß den Apfel. Das ist übrigens der Grund, warum wir auf unseren Bill Boards sagen: Take back the Garden! - Holt Euch den Garten zurück! Wir Frauen sind nicht die Quelle des Problems in der Welt."

Am 10. Februar eröffnete Eve Ensler V-Day 2001: "V-Day ist die Vision menschlichen Lebens, in dem Mädchen und Frauen frei leben können, sicher und gleichberechtigt und mit Würde. V-Day ist ein Geist, der dafür steht, dass wir kreativ und frei leben können, nicht aber auf der Flucht vor Gewalt oder bei der Erholung von Greueltaten. V-Day wird nicht enden, bevor nicht die Gewalt gegen Frauen gestoppt ist."

Dieses Credo hört sich illusorisch an, und viele der Aktivistinnen, unter ihnen auch ich, waren zunächst skeptisch angereist. Warum sollte das mehr als ein perfekt inszeniertes amerikanisches Spektakel sein? Aber diese Versammlung so vieler gebildeter und engagierter Frauen aus der ganzen Welt, die sich bereits institutionell vernetzt haben, wirkt in der Tat sehr überzeugend. Ich habe keine Frau getroffen, die nicht an die große Wirksamkeit und die politische Macht der V-Day-Bewegung glaubt. Dabei handelt es sich um erfahrene politische Aktivistinnen, die in ihrem Land oder im Exil hart dafür arbeiten, Gewalt gegen Frauen zu stoppen. Aus Indien und ostafrikanischen Staaten waren auch Jugendliche angereist, die sich gegen Vergewaltigung und genitale Verstümmelung engagieren. Jüngste Teilnehmerin war die 13jährige Kenianerin Jennifer Jadwero.

Statt Blumen und Diamanten Vagina und Victory

Politische Macht und persönliches Engagement, diese beiden Stoßrichtungen vereinigt die V-Day-Bewegung in sich. Zum vierten Mal, fast schon traditionell, fand dieses Jahr V-Day statt. Eve Ensler und die V-Day-Bewegung arbeiten eng zusammen mit Equality Now, der internationalen Menschenrechtsorganisation, die sich für die zivilen, politischen und ökonomischen Rechte von Mädchen und Frauen einsetzt. Equality Now bringt ihr Engagement auf eine kurze Formel: "Frauen überall auf der Welt brauchen Hilfe. Du kannst etwas tun". Wie häufig bei Bürgerrechtsbewegungen klingen solche Aufforderungen banal, vor allem für Menschen, denen es gut geht, ökonomisch und sozial. An der Situation von Frauen rund um den Erdball gibt es allerdings tatsächlich nichts zu beschönigen.

Das V-Day-Treffen ist jedes Jahr um den Valentines-Tag herum platziert, der Tag, an dem der Mann mit Diamanten oder Blumen zu Hause aufzukreuzen hat. V-Day macht gerade an diesem Tag gegen alle fest verwurzelten kulturellen Chauvinismen mobil. Das V steht für Vagina und Victory gleichermaßen. Im ersten Jahr, 1998, war noch der intimere Hammerstein Ballroom in New York für 2.000 Teilnehmer ausreichend, in diesem Jahr Madison Square Garden mit über 20.000 Besuchern abends ausverkauft. Und zum ersten Mal waren beide Strategiefelder des V-Day sichtbar: Tagsüber traf man sich bei der V-Day-Konferenz, an der Aktivistinnen aus der ganzen Welt teilnahmen, um sich über neue Strategien beim Kampf gegen Gewalt gegen Frauen auszutauschen. Abends wurde gefeiert, bei einer Gala mit 70 Stars der US-amerikanischen Medien- und Kunstszene, inklusive Aufführung der VM.

Der durch den Ticketverkauf weiter aufgestockte V-Day-Fund kann inzwischen Millionen Dollar Beträge einsetzen, die die internationalen Frauenorganisationen aus eigener Kraft niemals aufbringen könnten. Medien und Merchandising werden selbstbewusst genutzt. Die V-Day-Bewegung erreicht so größere finanzielle Unabhängigkeit für ihre Projekte. Die Aktivistinnen verfolgen ihr Ziel also mit neuen zeitgemäßen Strategien. Sally Fisher: "Da gibt es eine starke Verbindung zwischen Kunst und Aktivismus. Aktivismus kann wirklich alles abdecken und sehr viel bewegen. Am machtvollsten ist an den VM, dass sie nicht allein Kunst über Missbrauch sind. Vielmehr ist das Thema und die Quelle das Leben der Frauen, die sie realisiert haben."

Auch Männer sind aufgefordert

Der Kontext der Bewegung ist global und verlangt auch Männern eine größere Verantwortung ab. Auch das ist eine veränderte Strategie, nachdem Frauen die Gewaltkontrolle in ihrem Lebensraum alleine nicht durchsetzen konnten. Anne Marie Aikins, 44, kanadische Autorin, die seit über 18 Jahren beim Rape-Crisis-Center in Toronto mitarbeitet, berichtet von ihren Erfahrungen: "Ich hatte eine Menge Ideen während all der Jahre, wie Vergewaltigung gestoppt werden könnte. Und ich habe viele Programme entwickelt und durchgeführt. Aber ich weiß, das hatte wenig Einfluss bis jetzt. Und die meiste Zeit liegt es daran, dass wir unsere Aktionen in Richtung der Frauenwelten dirigieren. Und es dämmert mir, dass Frauen überhaupt keine Kontrolle darüber haben, Vergewaltigung zu beenden. Es liegt in der Verantwortung von Männern. In diese Richtung müssen wir unseren Fokus dirigieren: Männer müssen gestoppt werden."

Am V-Day 2001 haben zum ersten Mal auch Männerorganisationen teilgenommen, die das Credo der V-Day-Bewegung teilen. Der 31-Jährige Jonathan C. Stillerman aus Washington DC, Co-Direktor der nichtkommerziellen Organisation Men Can Stop Rape, hat seine Motivation so beschrieben: "Da sexuelle Belästigung in erster Linie von Männern ausgeht, gehört es in männliche Verantwortung, aufzustehen. Außerdem beeinflusst männliche Gewalt nicht allein Frauen, sondern Männer ebenso."

In New York war die Frauenpower in diesem Jahr weithin sichtbar. Die Politikerin Christine Quinn machte es möglich, dass am V-Day 2001 das Empire State Building rot leuchtete. Und am Times Square - der sozusagen belebtesten Ecke der Welt - verkündete das elektronische Bill Board: "V-Day erklärt New York zu einer Rape Free Zone". Aber auch auf anderen Kontinenten und in sehr vielen Städten auf dem Planeten wurde V-Day gefeiert. Rada Boric berichtet aus Bosnien-Herzegowina: "Parallel in dieser Nacht wird es beispielsweise in Sarajevo auf dem Hauptplatz einen riesigen Bildschirm geben, auf dem über 101 Mal erscheinen wird: Sarajevo grüßt New York's V-Day. Necessary Targets, das Stück von Eve Ensler über die Flüchtlinge wird an diesem Tag im Radio gesendet. Die VM werden mit Frauen in Frauenzentren aufgeführt. Die Medien berichten sehr ausführlich darüber."

Die deutschen Medien berichten umso spärlicher. Dafür haben zwei deutsche Aktivistinnen den Anti-Rape-Wettbewerb in New York gewonnen, bei dem die besten Ideen für Kampagnen gegen Vergewaltigung ausgezeichnet wurden. Silke Pillinger und Karin Heisecke hatten die Idee, man könne Brötchentüten mit einem schlagkräftigen Slogan bedrucken. Eine praktische, kostengünstige und sehr effektive Methode befand die internationale Jury und verlieh ihnen den ersten Preis. Jetzt wird ihre Idee realisiert. Für uns sind es vielleicht nur die paar Schritte morgens zum Bäcker, für die Frauen auf dieser Welt ist es aber ein weiter Weg.

Weitere Informationen zum Thema im Internet unter:

www.vday.org

www.equalitynow.org

www.feminist.com

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