Den ersten Büchner-Preis 1951 erhielt der Modernist Gottfried Benn und nicht der viel gelesene Humanist Albrecht Goes. Auch als Erzähler realistischer Tradition stand Goes (1908-2000) nicht in der ersten Reihe wie etwa Heinrich Böll. Wenn der Fischer Verlag nun seinen vor acht Jahren verstorbenen Autor mit einer Gedichtauswahl letzter Hand und einem Erzählband ehrt, könnte eine neue Wirkungsgeschichte von Goes beginnen. Was könnte an einem christlich geprägten Dichter heute für uns noch interessant sein?
Mit Goes´ Lyrik dürften Leser von heute Schwierigkeiten haben. Dieses Genre ist für den im Tübinger Stift ausgebildeten Theologen, der 1933 in seine erste württembergische Gemeinde kam, nach den Kriegsjahren als Lazarettpfarrer 1953 aus dem Amt ausschied und von da an als Schriftsteller in Stuttgart lebte, noch ganz mit Innerlichkeit und Erbauung verbunden. Sprachlich siedeln Goes´ Gedichte mit ihrem "denk ich dein", "als wie von", "jenun", "Frühtann", "Hausung" und "Altervater" zwischen Paul Gerhardt und Hermann Hesse. Nur im Ausnahmefall echot von fern Expressionismus herein wie in Landschaft der Seele - undatiert leider, wie alle Gedichte dieses Bandes.
In der Nachkriegszeit, da so viele auf Purifikation und Neubeginn des eigenen Lebens in dem ihres neugeborenen Kindes setzten, musste ein Gedicht wie Verse für ein Kind weite Resonanz finden. Goes´ Lyrik ist wesentlich Gelegenheitsdichtung, zu Anlass und Gebrauch bestimmt, oft auch zu seelsorgerlichem Dienst in der Tradition des Kirchenlieds.
Es gibt Naturgedichte, die wie Karwoche 1946 im Neubeginn der Natur Gnade, Versöhnung und Vergessen feiern, ohne die ein Weiterleben unmöglich schiene. Es gibt aber auch Gedichte wie Die unlösbare Kette, in denen sich Naturbilder unauflösbar mit der Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit verbinden. Und es gibt das Naturgedicht Die Zuversicht, das im Sprachduktus Hölderlins die Dialektik von erinnerter Verwüstung und neuem Lebensversuch in sich zusammenhält.
Auch die Erzählungen von Goes sind Gelegenheitsdichtung und "vie vécue": Als Reisetagebuch, Bericht aus der Arbeitswelt, Chronik, Brief oder Gespräch machen sie genaue Orts- und Zeitangaben und wollen ihre autobiographische Rückbindung erst gar nicht verbergen. Doch ihre Sprache ist ungleich moderner. Das realistisch Erzählte tritt konzentriert und durch ethische Überlegung vertieft wie unmittelbar gegenwärtig an uns heran.
In den frühen Erzählungen der zwanziger und dreißiger Jahre, die unter anderem in der Frankfurter Zeitung und Neuen Rundschau erschienen, fesselt eine konkret und genau beschriebene Welt des Gemüts, die aus unserer Zeit verschwunden zu sein scheint. Das gilt für das Reisefeuilleton Am Bodensee des 19-jährigen, den Büchern glücklich entronnenen Studenten: ein beseligtes Landerobern und sich "Gesundlieben" an den Dingen und Menschen in der Natur, die seiner Seele Inhalt und neues Vertrauen geben.
Aber es gilt mehr noch für die vier Erzählungen aus dem Leben der 15-17-jährigen Seminaristen. 1937 geschrieben und erst nach Kriegsbeginn 1939/40 publiziert, handeln sie von Pflege der Innerlichkeit, Begabung zur Freundschaft und Bedeutung einer freien, sich selbst regulierenden Gemeinschaft in den frühen zwanziger Jahren, vor Beginn des Nationalsozialismus. In Der Abschied singen die Klosterschüler 1925 auch Vaterlandslieder: "Es lebte in uns" - zum letzten Mal vor der politischen Pervertierung und Zerstörung einer noch ungebrochenen Beziehung.
Goes besticht durch das Nachzeichnen von Lebenslinien, in denen sich ohne Urteil des Erzählers das Walten elementarer Lebensgesetze zeigt. So erzählt Der Verzicht (1937) von einer besitzergreifenden Mutterliebe, die sich mit dem Heranwachsen des Sohnes mehr und mehr im Loslassen üben muss - bis hin zu jenem letzten Verlust, der ihn ihr wieder "so nahe wie nie zuvor" bringt.
Ausgangspunkt der Geschichte war ein Gespräch darüber, wieso Dichter bevorzugt außerordentliche Geschehnisse beschreiben, nicht aber das Alltägliche, unter dem sich "das eigentlich Erschreckende" oder Beglückende einer Ehe oder eines Mutterschicksals ereignet. Dieser Goethes Novellenbegriff widersprechende Gedanke des jungen Autors ist programmatisch für sein Erzählwerk, das zweifellos dem Stil der Gleichnisse verbunden ist, sich aber ebenso programmatisch jeder "Lektion" enthält.
In der aufs Vergessen eingeschworenen Adenauerzeit schreibt Goes in den Jahren 1946 bis 1963 Kriegserzählungen, die sich mit der Ambivalenz von Reden und Schweigen, Erinnern und Vergessen auseinandersetzen. Dabei treibt er sein Erinnern in Grenzbereiche menschlicher Erfahrung und Situationen der Mitschuld, vor denen erwachsene Männer sprachlos stehen wie Schüler.
Unaufhörliches Erinnern wäre Selbstzerstörung. Aber zuweilen muss des Vergangenen gedacht werden: "Nur ein Zeichen gilt es aufzurichten", das vor dem Überschreiten ethischer Grenzen warnt. Mit dieser Poetik beginnt 1953 Das Brandopfer: die Geschichte einer Metzgersfrau, Zeugin der täglich zunehmenden Gewalt gegen die Juden in ihrer Stadt, die sich aus Trauer und Scham selbst dem Sühnetod überlassen will. Aber sie überlebt, als Gezeichnete.
Goes´ Ich-Erzählung Begegnung in Ungarn (1946) zeigt ihn selbst schuldlos mitschuldig. 1944 wird sein Lazarett aus Lemberg in eine Stadt nach Ungarn verlegt. Er macht Quartier im Haus gebildeter Juden. Vater und Sohn, beide Ärzte, erhoffen von dem Pfarrer Schutz. Er weiß: Nach ihm kommen die "Mordkommandos". Doch er behilft sich mit Ausflüchten und sie ahnen das. Im Anblick ihrer klugen, leiderfüllten Gesichter greift er in seiner Not zu den Worten des Alten Bundes in Hebräisch: "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Gott." Tränen kommen den Juden, Fremdheit und Angst sind für einen Augenblick gebannt. Aber der Erzähler vermochte nicht zu retten.
Die Martin Buber gewidmete Erzählung Das Löffelchen (1960/63) setzt sich mit der Schuld durch Reden auseinander. Die offenen Worte eines Schwerverwundeten und des Pfarrers im Dezember 1943 im ukrainischen Winniza haben eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen zur Folge. Und das in einem Lazarett, in dem Chefarzt Wieland alle auf Diskretion und "Mundhalten" eingeschworen hat, zumal seit eineinhalb Jahren unter dem Namen Stefan ein jüdischer Heizer zum Segen des ganzen Betriebs hier arbeitet.
Unmittelbar vor Aufbruch des Lazaretts werden Stefan - den der Erzähler mit dem "dunklen Licht" Kafkas assoziiert - und sein Sohn Leib von Raubmördern des Sicherheitsdienstes aufgespürt. Die Redeweise dieser Desperados, die wissen, dass sie von keiner Dienstbehörde mehr zur Rechenschaft gezogen werden, wird nicht nur präzise wiedergegeben. Sie spiegelt sich auch in Angst und Ekel der Menschen im Lazarett und kontrastiert scharf mit der "Präzisionsuhr wachsamer Liebe", nach der eben erst ein Transport Schwerverletzter aufgenommen wurde, deren "Ausmorden" die SD-Leute ebenfalls androhen.
Die Verstörung der Zurückbleibenden - das Abendessen wird zum schweigenden Totenmahl - ist so nachhaltig, dass Wieland Monate später noch den Pfarrer fragt: "Da war doch nichts mehr da", nur diese Reduzierung auf Mordlust und "Macht an sich", "die Lust des Impotenten" - "ist das der Mensch?" Die Antwort des Pfarrers: "Auch das". Aber der "erschreckend schöne" Junge namens Leib schreit noch 20 Jahre danach im Erzähler: "Er will noch einmal ins Leben zurück."
Es ist verblüffend, welche Parallelen bis in die Bildlichkeit hinein sich zwischen den Kriegserzählungen von Albrecht Goes und denen Abraham Sutzkevers über das Ghetto von Wilna ergeben, etwa in Sutzkevers 1955 erschienenen Band Grünes Aquarium. Beide sprechen von "Wunder", wenn in einer inhumanen Zeit die Natur bedrohten Menschen zur Hilfe eilt: die Wolke und der Schneesturm bei Goes ("Sonne, steh still"), eine Regenwolke bei Sutzkever ("Der Bauer, der Gott gesehen hat"). Goes erzählt, um "einer finsteren Geschichte einiges Licht" abzugewinnen, "wie man helles Feuer schlägt aus dunklem Stein" (Das Brandopfer). Sutzkever schlägt sich "mit einem Stein aus Wörtern ins Herz" solange, "bis der Stein zerbröckelt" und die verschwundene Wirklichkeit zu ihm zurückkehrt (Der Ring).
Beide wissen von den "schuldigen" Wörtern (Grünes Aquarium), die sich selbst niemals freisprechen können. Und beide vertrauen dennoch der Sprache. Spät erst, 1984, erzählt Goes Das mit Katz. Da ist ein verwundeter Leutnant und Vikar, der im März 1945 in Berlin-Lichtenberg seiner Mutter bei der Hausverwaltung hilft und sich auf die nächste Hebräisch-Prüfung in Friedenszeiten vorbereitet. Da ist der jüdische Denunziant Katz, der sein Leben mit dem Verrat anderer erhalten will, und die Hausschneiderin, eine Mormonin, die in ihrer Laube hinterm Haus einen Juden versteckt.
Um diesen 19-jährigen vor dem sicheren Verrat zu retten, legt der Vikar Uniform und Waffe an und stellt Katz zur Rede. Aber es ist nicht der Anblick der Waffe, der Katz abschwören lässt. Es ist die Beschwörung des sechsten Gebots in der Sprache seiner Väter, die er und der Vikar gelernt haben, die ihn zwingt. "Lo erzach", "ich werde nicht töten", sprechen beide im Wechsel. Die Macht der Sprache der Väter: Auch diese Erfahrung scheint aus unserer Zeit verschwunden zu sein.
Es wäre unangemessen, den Erzählungen von Goes wie denen von Sutzkever das Ausblenden politischer oder gesellschaftlicher Fragen vorzuwerfen. Beide gehen den Bedingungen des Humanen nach. Und die stehen, wie es bei Goes heißt, "im Buch der Fragen ohne Antwort".
Albrecht Goes Was wird morgen sein? Erzählungen. Gedichte. Fischer, Frankfurt 2008, 366 S., 199 S., 9,95 E, 14 EUR
Abraham Sutzkever Grünes Aquarium/Griner Akwarium. Kurze Beschreibungen. Prosastücke. Jiddisch und deutsch. Jüdischer Verlag, Frankfurt 1998, 150 S., 16,80 EUR
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