Jack Weinstein ist ein Amerikaner in New York, auf den der Vietnamese Nguyen Huu Ngoc in Hanoi augenblicklich die größten Hoffnungen setzt. Der 82-jährige Weinstein arbeitet als Zivilrichter am Federal Court in Brooklyn - Ngoc, 35 Jahre alt, als Bauingenieur bei einem Unternehmen, das im Umland der vietnamesischen Hauptstadt Brücken baut. Jack Weinstein wird am 28. Februar darüber zu entscheiden haben, ob eine Sammelklage von etwa 100 Vietnamesen angenommen wird, die während des Krieges in Indochina (s. Spalte rechts), den der New Yorker Zivilrichter den "Vietnamkrieg" und der Bauingenieur aus Hanoi den "amerikanischen Krieg" nennt, mit dem Pflanzengift "Agent Orange" (so benannt nach den orangefarbenen Behältern, in denen es geliefert wurde) in Berü
Der Regen der Vernichtung
"Agent Orange" tötet bis heute 100 vietnamesische Kriegsopfer klagen vor einem Gericht in New York wegen des Giftkrieges, den die US-Armee einst gegen ihr Land geführt hat
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52;hrung kamen und schwere gesundheitliche Schäden erlitten.Ngocs jüngere Schwester Lan ist seit ihrer Geburt geistig behindert und kleinwüchsig. Der Vater von Ngoc und Lan diente während des Krieges als Bauoffizier der Befreiungsarmee in einer Region Mittelvietnams, in der das von den US-Streitkräften eingesetzte "Agent Orange" versprüht wurde. 1988 starb der Vater, doch war die Familie seinerzeit zu arm, um von einem Arzt die genaue Todesursache feststellen zu lassen. Man sei von Kehlkopfkrebs ausgegangen, erzählt Ngoc, aber mit letzter Gewissheit könne das keiner sagen. Vieles spreche dafür, dass die Behinderung seiner Schwester gleichfalls eine Spätfolge des gefährlichen Pflanzengiftes sei.Lans Welt im Haus der MutterSchwere Krankheiten wie auch Behinderungen gelten in Vietnam nicht als Unglück, sondern als Schicksal, das eine Familie klaglos annimmt, indem sie für die Betroffenen sorgt. Nur wem eine solche Obhut verwehrt bleibt, wird in Heimen aufgenommen, deren Standard sich danach richtet, welche Mittel der vietnamesische Staat aufbringen und sich dabei auf internationale humanitäre Organisationen, Kirchen oder Glaubensgemeinschaften stützen kann. Zuweilen engagieren sich auch ehemalige US-Soldaten, die einst in Indochina gekämpft haben, für Kriegsversehrte in Vietnam, während die Vereinigten Staaten selbst nach wie vor jede Wiedergutmachung verweigern.Neuesten Forschungen zufolge ließ die US-Armee 80 Millionen Fässer toxischer Chemikalien über dem Zentralen Hochland Vietnams und den Gebieten an der Grenze zu Laos und Kambodscha versprühen, in denen der sogenannte Ho-Chi-Minh-Pfad* vermutet wurde. Die Entlaubung des Dschungels galt als vorrangiges Operationsziel, um dem Regenwald das Laubdach zu nehmen, das dem Viet Cong** - wie die gegnerischen Soldaten genannt wurden - einen natürlichen Schutz bot. Der Einsatz von "Agent Orange", das mit TCDD die giftigste Sorte von Dioxin enthielt, führte vermutlich hunderttausendfach zu lebensgefährlichen Erkrankungen bei all denen, die seinerzeit in den Kampfzonen damit in Berührung kamen oder heute Reis und Maniok verzehren, die von verseuchten Böden geerntet werden. Das Dioxin drang in die Erde ein und wurde während der Monsunzeit in die Flüsse geschwemmt. Tote Schneisen ohne Vegetation ziehen sich bis heute durch die Provinzen Quang Tri, Bien Duong, Long Khánh und Dác Lác.Weil der vietnamesischen Regierung das Geld für großflächige Bodenversiegelungen fehlt, sind die Gifte auch 30 Jahre nach Kriegsende noch im Nahrungskreislauf. Nicht zuletzt ein Grund dafür, dass bis heute die amtlichen Angaben über die Zahl der von den Folgen und Spätfolgen des Giftkrieges Betroffenen eher vage sind - sie schwanken zwischen zwei und vier Millionen.Die kleine, dickleibige Lan hat das Haus der Familie seit frühester Kindheit nie verlassen. Hier, in ihrer kleinen Welt kennt die 27-Jährige jeden Winkel, hier fühlt sie sich geborgen und ist nie Belästigungen wegen ihrer Behinderung ausgesetzt. Hier hat sie die Mutter, die zu den Mahlzeiten ruft, hier steht das Radio, aus dem Lan gern Kinder singen hört und dabei vor Freude in die Hände klatscht.In der Familie wurden fünf Kinder geboren - die beiden Ältesten kamen bei einem amerikanischen Bombenangriff ums Leben. Eine Tochter heiratete vor Jahren und lebt heute bei den Schwiegereltern. Nur Ngoc und Lan sind im Elternhaus geblieben. Ngoc würde nie klagen, das Schicksal seiner Schwester sei eine zu schwere Bürde - dies zu tun, wäre ein Tabubruch sondergleichen. Die Sorge für Eltern, Geschwister und Verwandte ist für den einzigen Sohn der Familie, der das Haus einmal übernehmen wird, eine pure Selbstverständlichkeit.Clintons Wink mit dem Ölzweig1984 hatte das Thema "Agent Orange" schon einmal ein New Yorker Zivilgericht beschäftigt. Ehemalige US-Soldaten, die während des Vietnam-Krieges mit dem Herbizid zu tun hatten, erstritten von den Herstellerfirmen Monsanto, Dow Chemical und Diamond Shamrock Kompensationen für erlittene gesundheitliche Schäden. Etwa 15.000 Vietnam-Veteranen wurden in einem außergerichtlichen Vergleich 180 Millionen Dollar an Wiedergutmachung zuerkannt. Der Richter des Verfahrens hieß auch damals Jack Weinstein, der sich nun, 21 Jahre später, mit der Frage beschäftigen muss, ob es juristisch vertretbar sein kann, der einen Opfergruppe Gelder zuzusprechen, die der anderen, der weitaus schwerer heimgesuchten, vorenthalten werden.Die Herstellerfirmen wollten seinerzeit die ihnen abgerungenen Zahlungen auf keinen Fall als Schuldeingeständnis verstanden wissen, was nichts mit den vietnamesischen Opfern zu tun hatte. Mitte der achtziger Jahre galt es schlichtweg als ausgeschlossen, dass Bürger der Sozialistischen Republik Vietnam mit einer Klage bei einem Gericht der Vereinigten Staaten Gehör finden könnten, solange die US-Regierung mit ihrer Boykott-Politik den Kriegsgegner von einst wie einen Paria behandelte.Das änderte sich erst zehn Jahre später, als mit der Clinton-Ära ein politisches Tauwetter heraufzog, 1994 wieder Botschafter ausgetauscht wurden und Handelsbeziehungen nicht länger als obsolet galten. Hanoi gestattete US-Spezialisten, in vietnamesischer Erde nach den Überresten gefallener GIs zu suchen, den sogenannten MIA (Missing in Action), und der US-Kongress bewilligte eine Million Dollar für wissenschaftliche Untersuchungen zum Einsatz von "Agent Orange" bei Kampfhandlungen zwischen 1965 und 1972. Hoffnungen in Hanoi auf mögliche Wiedergutmachungen sollten sich dann allerdings mit der Präsidentschaft von George Bush (ab Januar 2001) als völlig irreal erweisen. Ob die vietnamesische Regierung auch deshalb heute die Sammelklage ihrer Bürger vor US-Gerichten unterstützt, darüber kann nur spekuliert werden.Für die Herstellerfirmen jedenfalls steht außer Zweifel, dass die jetzt in New York verhandelte Klage juristisch haltlos ist, schließlich habe es die Verantwortung des US-Oberkommandos gegeben, in dessen Auftrag "Agent Orange" für einen Einsatz in Indochina hergestellt worden sei. In der Konsequenz hieße das, letzten Endes müsste der amerikanische Staat verklagt werden. Von allen politischen und rechtlichen Barrieren abgesehen, die sich dagegen auftürmen - es waren vor 35 Jahren nicht nur US-Maschinen, sondern auch Flugzeuge der südvietnamesischen Luftwaffe, aus denen "Agent Orange" über ganze Landstriche verteilt wurde. Und die "Republik Vietnam" - so die offizielle Bezeichnung des südvietnamesischen Staates - existiert seit dem 30. April 1975, dem Fall von Saigon, nicht mehr.Ngocs Angst vor der ZukunftIm Januar 2004 waren es zunächst drei Vietnamesen, die als erste eine Klage in New York einreichten - Duong Hoa, eine Ärztin aus Hanoi, in deren Blut Dioxin-Spuren nachgewiesen wurde, Nguyen Thi Phi, gleichfalls aus Hanoi, hatte - nachdem sie mit "Agent Orange" in Berührung gekommen war - vier Fehlgeburten, Nguyen Van Quy aus der Hafenstadt Haiphong war Soldat und leidet heute an Lungenkrebs. Seine beiden Söhne sind von Geburt an behindert.Zwischenzeitlich haben sich 100 Vietnamesen diesem Verfahren angeschlossen, das durch den Anwalt Le Van Tran vertreten wird. Der Hauptvorwurf in der Klageschrift gegen die Hersteller von "Agent Orange" lautet: "Beteiligung an Kriegsverbrechen". Etwas hat die Sammelklage auf jeden Fall schon bewirkt: Viele vietnamesische Familien sprechen wieder über ihre Kriegsinvaliden und holen sie aus dem Verschweigen zurück.Bekommt Ngoc Besuch, dann zeigt er stolz den ersten Kühlschrank, den er sich leisten konnte, oder das ausgebaute Dachgeschoss, in dem zwei Zimmer mehr bewohnt werden können. Nur Schwester Lan scheint nicht so recht ins Bild der glücklichen Familie aus dem Almanach des vietnamesischen Wirtschaftswunders zu passen. Der seit Ende der neunziger Jahre anhaltende Boom lässt die traditionelle Großfamilie in den Metropolen des Landes - aber keinesfalls nur dort - nicht unberührt und teilweise auseinander fallen. Ngoc hat das selbst erfahren, als ihn seine Firma drei Jahre lang nicht in Hanoi beschäftigen konnte und in eine Niederlassung nach Ho-Chi-Minh-Stadt schickte. Er musste - wie es die Tradition verlangt - seine Frau und die Söhne zurücklassen, anders hätte die Familie nicht für die behinderte Schwester und die Mutter sorgen können.Ngoc möchte den Gedanken nicht zu Ende denken, wer einmal bei Lan bleibt, wenn seine 65-jährige Mutter nicht mehr lebt. Ginge es nach den überlieferten Bräuchen, wäre die Antwort einfach: Seine Frau Thi Binh müsste sich der Schwägerin annehmen, später dann fiele diese Aufgabe der Frau des ältesten Sohnes zu. Aber Thi Binh hat einen teuren Englischkurs besucht und derzeit einen gut dotierten Job als Sekretärin bei einer australischen Firma. Und wird für den Sohn die behinderte Tante nicht ein Makel sein, wenn er nach einer Lebensgefährtin sucht? Junge Vietnamesinnen orientieren sich heute überwiegend an amerikanischen Standards, am savoir vivre in Hongkong oder Singapur. Sie wollen moderne Berufe ergreifen, Geschäftsfrauen werden und nicht Tanten pflegen. Ngoc erzählt von einer Bekannten, die sich geweigert habe, einen Mann zu heiraten, weil es in dessen Familie Opfer von "Agent Orange" gäbe. Sie müsse befürchten, ein behindertes Kind zu bekommen, habe sie ihm erklärt.(*) die legendäre Nachschublinie der Nordvietnamesen(**) übersetzt: vietnamesischer KommunistDer Vietnam-Krieg 1964-1975August 1964 - Zwischenfall im Golf von Tonking. Nachdem angeblich nordvietnamesische Patrouillenboote einen US-Zerstörer beschossen haben, beginnt die US-Luftwaffe mit Bombenangriffen auf die Demokratische Republik Vietnam (DRV/ Nordvietnam)Februar 1965 - seit 1955 bereits haben die USA Tausende von Militärberatern in Südvietnam stationiert, nun landen dort erstmals US-Bodentruppen, deren Stärke Anfang der siebziger Jahre bei über 600.000 Mann liegen wird.Januar/Februar 1968 - Beginn der großen Tet-Offensive der Nationalen Befreiungsfront (FLN) und nordvietnamesischer Verbände in mehreren Städten Südvietnams - die US-Truppen verlieren erstmals die strategische Initiative.Mai 1968 - Beginn der Pariser Vietnam-Verhandlungen zwischen den USA und der DRV unter Beteiligung der südvietnamesischen Regierung und der Nationalen Befreiungsfront Südvietnams.März/April 1970 - nach dem Sturz des kambodschanischen Staatschefs Norodom Sihanouk intervenieren südvietnamesische Verbände, unterstützt von amerikanischen Boden- und Luftstreitkräften, in Kambodscha und dehnen den Vietnam-Krieg auf weitere Regionen Indochinas aus.Dezember 1972 - als die Pariser Gespräche ins Stocken geraten, fliegt die US-Luftwaffe erneut massive Angriffe gegen Hanoi und Haiphong, die weltweit Proteste auslösen.Januar 1973 - das Pariser Vietnam-Abkommen wird unterzeichnet und führt zu einem Waffenstillstand im Süden. Der mit dem Vertrag vorgesehene "Rat der Nationalen Versöhnung" wird nie gebildet. Im April 1973 verlässt der letzte US-Soldat Südvietnam.März/April 1975 - nach dem Rückzug der Südvietnamesen aus dem Hochland von Annam beginnt eine Offensive der nordvietnamesischen Armee und Nationalen Befreiungsfront im Süden. Am 30. April fällt die Hauptstadt Saigon, Präsident Nguyen Van Thieu emigriert, die US-Botschaft wird evakuiert - der Vietnam-Krieg ist vorbei. Im Juli 1976 vereinigen sich Nord- und Südvietnam zur Sozialistischen Republik Vietnam (SRV).
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