Die Verkäuferin breitet auf der Straße bestickte Tischdecken aus - begehrt vor allem bei Touristen, die Vietnams Hauptstadt neuerdings wieder viel zahlreicher besuchen. Wer sich genauer umschauen will, kann in den Laden eintreten, der schmal und hoch ist, wie alle Häuser in der Altstadt von Hanoi. Vor dem Geschäft versucht außerdem eine fliegende Händlerin, vermeintlich zahlungskräftigen Ausländern die berühmten konischen Strohhüte anzubieten. Schließlich bittet ein Bettler um ein paar Dong - durchaus mit Aussicht auf Erfolg. Auf den Trottoirs dieses Quartiers findet fast jeder sein Auskommen.
Das alles spielt sich im historischen Kern der vietnamesischen Metropole ab - im legendären 36-Zünfte-Viertel, das seine Klienten mit g
nten mit gelassener Geschäftigkeit oder leicht morbider Eleganz empfängt und sich rühmen darf, ein Areal zu besetzen, das in Rufweite der »Verbotenen Stadt« liegt. Dort residierten einst die Könige der verschiedenen Tonking-Dynastien samt ihrer Entourage, während sich an den Ufern des Roten Flusses und seiner Seitenarme das Handelsleben abspielte und teilweise bitterste Armut entlud.Ein gefälliges Flanieren oder gar eine Fahrt mit dem Cyclo durch die Altstadt kann einen Rausch an Entdeckungsfreude auslösen, die stets in die Frage mündet, wie bloß können in dieser Enge 900.000 Menschen leben, wovon sich der Merian-Reiseführer überzeugt gibt. Und wie vermögen sie anzubieten, was im nach wie vor durch Prosperität nicht verwöhnten Norden kaum vermutet wird: Sandalen aus feinstem Leder, verchromte Auspuffrohre für Mopeds oder eine Honda Dream, Fernsehgeräte nebst Video-Recorder, an Bambushölzern minutiös nach Größe aufgehängte Büstenhalter - aber auch »Rohmaterial« für die Spezialitäten der Tonking-Küche wie Schnecken, Froschschenkel, Langusten.Hier ist das Zentrum des Himmels und der Erde ...In diesem Quartier gehört jeder Zunft mindestens eine Gasse. Die Händler beziehen ihre Waren entweder aus der eigenen Werkstatt oder den Dörfern im Delta des Roten Flusses. Noch heute heißen die schmalen Passagen »Segelmachergasse«, »Korbgasse«, »Färbergasse« oder »Fischgasse«. Aber immer seltener findet sich dort noch heute, was die Adressen versprechen. Statt der Großsegel für die Dschunken auf dem Roten Fluss oder gefärbtem Stoff lassen sich Jeanshosen, Schuhe, Silberschmuck oder Stickarbeiten weit besser verkaufen. Ein Sträßchen weiter werden vor den bemoosten Fassaden der handtuchschmalen Häuser Grabschmuck und Fahnen für Pagoden angeboten. Direkt daneben wartet ein Internetcafé auf seine Gäste. 36 Zünfte hatten sich in der historischen Altstadt niedergelassen, als man vor einem Jahrhundert aufhörte zu zählen - 60 sollen es inzwischen sein.Im Jahre 1010 hatte König Ly den Umzug seiner Hauptstadt an jenen Ort im Schwemmland des Roten Flusses veranlasst, wo sich ein Jahrtausend später der Vier-Millionen-Moloch Hanoi ausbreitet. »Hier ist das Zentrum des Himmels und der Erde, der Platz des fliegenden Drachens und des sitzenden Tigers. Hinten liegt der Berg, vorn der Fluss ist breit und weit. Die Bewohner brauchen kein Hochwasser zu fürchten. Die Welt hier ist blühend, im ganzen Land Viet ist dieser Ort der beste ...« - So soll Ly seine Entscheidung begründet haben - meint die Überlieferung.Aus dem 11. Jahrhundert stammen die Häuser der Altstadt zwar nicht mehr, aber viele der so grazil wie zerbrechlich wirkenden Gebäude im Stil der französischen Kolonialarchitektur entstanden bereits Ende des 19. Jahrhunderts - das schmalste misst in der Breite gerade einmal 1,30 Meter. Wie durch ein Wunder blieb vieles hier von den Bombardierungen der US-Luftwaffe zwischen 1965 und 1973 verschont, sodass auch jetzt noch zu sehen ist, wie zwischen Beletage und Dachgeschoss ein und desselben Hauses vietnamesische Ornamente mit chinesischen und französischen Stilelementen koexistieren. Eine Melange, die auch erzählt, wann eine Familie zu Geld kam und das eigene Domizil als Zeichen von Wohlstand ausbauen und schmücken ließ.232 Häuser in der Altstadt hat die UNESCO als »historisch wertvoll« eingestuft, was Schutz und Sanierung bedeuten kann. Die meisten Straßenzüge jedoch entbehren derartiger Fürsorge. Ihnen drohen Abriss und Verfall - die Innenstadt verlangt nach Baufreiheit für Hotels und Bürogebäude. So werden dem Leben des überkommenen Quartiers - oder sollte man besser sagen, dem »savoir vivre« des klassischen Hanoi im Schatten der berühmten Kathedrale Saint Joseph - kaum heilbare Wunden geschlagen.Viel Gewalt allerdings muss den Altbauten nicht angetan werden - statt Mörtel halten sie Sand, Kalk und Zuckerrohrsirup zusammen. Mit ihren bis zu vier Geschossen wirken sie wie Türmchen aus Bauklötzen, die schon ein Windhauch erschüttern kann. Die fragile Architektur hat vor allem einen Grund: Handel und Handwerk spielen sich stets an der Straßenfront ab. Damit möglichst vielen Familien ein Platz für das eigene Kleingewerbe bleibt, streben die Bauten schlank nach oben und gestreckt in der Tiefe. Bei letzterem sind Distanzen bis 60 Meter keine Seltenheit - unterbrochen durch mehrere Innenhöfe, mit denen häufig die Domänen innerhalb der typischen Drei-Generationen-Familie abgegrenzt werden.... der Platz des fliegenden Drachens und des sitzenden TigersLy Truc Dung zog 1973, nach Abschluss seines Architekturstudiums in Weimar in diesen Teil Hanois. Von der Überlegenheit der Plattenbauweise hatten ihn seine Dozenten in der DDR überzeugt. Nur damit, so glaubte er, könnten die beengten Wohnverhältnisse im kriegszerstörten Nordvietnam rasch verbessert werden. Es dauerte jedoch nur Monate, bis Dung diese Vorstellung aufgab. Praktikabel und rentabel kann die Plattenbauweise bekanntlich nur dann sein, wenn ausladende Baufahrzeuge auf breiten Trassen die Betonelemente zu den Baustellen transportieren - in Hanoi fehlten dafür in den siebziger Jahren - unmittelbar nach Kriegsende - alle Voraussetzungen. Zudem waren die traditionellen Stadthäuser von jeher multifunktional: Nicht nur Wohnung, sondern auch Werkstatt, Verkaufsraum und Garage für Fahrräder und Mopeds. Wo soll eine Familie ihre Waren verkaufen, wenn sie im fünften Stock eines Plattenbaus wohnt?25 Jahre später gehört Ly Truc Dung als freiberuflicher Architekt zu den Verteidigern der historischen Altstadt - das heißt nicht zuletzt rigorose Abwehr wilder Bebauung, aber auch Drängen auf unumgängliche Modernisierungen. Und Modernität heisst eben auch, etwas von der ursprünglichen Lebensweise oder sogar das bisherige Refugium aufgeben zu müssen. Der Einbau einer Toilette beispielsweise erfordert wegen des Gefälles für die Abflussrohre derart umfangreiche Umbauten der Handtuch-Häuser, dass eher mit Einsturz statt Erhalt zu rechnen ist. Seit auch in Hanoi die Telekommunikation Einzug hält, durchzieht zudem das Gewirr der Gassen ein solches Gewirr an Versorgungsleitungen, dass es für Baumaschinen schon deshalb kein Durchkommen gäbe.Dung weiß, dieses Quartier lässt sich nicht gegen seine Bewohner sanieren. Schon wegen der Besitzverhältnisse nicht. Die Hälfte der Häuser befindet sich im Eigentum der Familien, die sie bewohnen. Andere, die in den neunziger Jahren dank des wirtschaftlichen Aufschwungs zu besseren Einkünften kamen, riskierten einen Neubau an der Peripherie. Wieder andere stockten die Häuser auf - trotz des Verbotes der Stadtverwaltung, nicht höher als drei Etagen zu bauen. Aber was tun gegen die Flucht aus der Bedrängnis.Im ganzen Land Viet ist dieser Ort der beste ...Tobias Gärtner, der als Spezialist bei einem Projekt der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Vietnam arbeitet, hat in einer der Seitengassen ein zweistöckiges Haus zu einem Preis gemietet, den sich kaum ein Vietnamese leisten kann: Etwa 400 DM im Monat. Das Durchschnittseinkommen liegt derzeit umgerechnet zwischen 100 und 500 DM. Der florierende Immobilienmarkt im Zentrum Hanois lockt zusehends mehr Ausländer. In der 200 Meter langen Seitenstraße, durch die noch Abwässer in einem offenen Graben fließen, wohnt Gärtner zusammen mit Engländern, Italienern und Franzosen, die als Spezialisten bei internationalen Firmen oder als Korrespondenten für Zeitungen arbeiten.Anders als ihre vietnamesischen Nachbarn bewohnen die »Langnasen«, wie man in Vietnam Europäer nennt, ihre Herbergen allein oder zu zweit. Gegenüber von Gärtners Domizil hat eine vietnamesische Großfamilie ihr Haus, das kaum größer ist als das des Deutschen. Zwei Frauen sitzen tagsüber vor der Haustür, flechten Bastmatten oder Einkaufsbeutel und achten darauf, dass keine ungebetenen Gäste kommen, solange Gärtner in seinem Büro ist.Im Internetcafé schräg gegenüber wird gerade das Schicksal eines Franzosen kolportiert, der die vergangene Nacht unfreiwillig in Polizeigewahrsam verbringen musste. Er war nach 20 Uhr mit einer Vietnamesin auf dem Rücksitz seines Motorrad unterwegs - mit einer unverheirateten Vietnamesin, wie sich herausstellte. In Hanoi gilt das als Verstoß gegen eine Verordnung, die einheimische Frauen vor ausländischen Freiern schützen soll. Wäre die Kollegin des Franzosen verheiratet gewesen, hätten die Gesetzeshüter keinen Anstoß genommen. So musste der Mann eine Nacht in der Zelle verbringen. Gärtner schüttelt ungläubig den Kopf. Ja, dass Ausländer nach 20 Uhr nicht mit unverheirateten Frauen herum flanieren sollen, das hat er irgendwo in der Zeitung gelesen. Dass es bei einer Übertretung so rigide zugehen kann, hatte er nicht erwartet.Das Internetcafé residiert übrigens in einem der beschriebenen Gebäude aus Sand, Kalk und Zuckerrohrsirup, es symbolisiert insofern einen Epochensprung, bei dem niemals die Bodenhaftung verloren gehen kann. Vergangenheit und Zukunft harmonieren in zeitentrückter Gelassenheit, wie das in Hanoi nicht selten zu beobachten ist. In diesem Café erreichen Gärtner seine mails aus Deutschland - umgerechnet acht Pfennige kostet die Minute, unabhängig davon, ob man online oder offline arbeitet. Trotz des für vietnamesische Verhältnisse hohen Preises nutzen nicht nur Europäer das Internet als Fenster zur Welt. Seit zwei Jahren hat die vietnamesische Regierung das world wide web zur Nutzung freigegeben. Wohl in der weisen Erkenntnis, dass andernfalls nicht nur der ökonomische Schaden beträchtlich wäre, sondern ein Boykott der Reformpolitik des »Doi Moi« Glaubwürdigkeit kosten würde. Die Öffnung der vietnamesischen Gesellschaft im zurückliegenden Jahrzehnt lässt sich nun einmal nicht mehr rückgängig machen. Vorerst jedoch bleiben Bräuche und Brüche, wie sie sich im Fin-de-Siècle-Charme einer äußerst vitalen Altstadt offenbaren, davon unberührt.
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